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William Shakespeare: A Lover's Complaint

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William Shakespeare


A Lover's Complaint

übersetzt von Günter Plessow

Das Strophengedicht A Lover’s Complaint steht nicht aus purem Zufall am Ende des Originalbandes Shake-speares Sonnets (1609), sondern ist ein integraler Bestandteil des Werkes. Der kritische Grundcharakter, der sowohl die Sonette als das Complaint kennzeichnet und eng aneinander bindet, ist unverkennbar. Wie eng diese Bindung ist, läßt sich anhand einer Reihe von Indizien zeigen, obwohl der Modus der Rede so grundverschieden ist wie innen und außen. Waren die Sonette das skrupulöse Selbstgespräch eines Ich, das sich in sich an ein Du bzw. an die Welt wendet, so verwandelt die Erzählung den Dichter nun in einen anscheinend unbeteiligten Zuhörer einer in Tränen aufgelösten Dame, die eine Geschichte erzählt. Der Dichter übernimmt mithin die Rolle, die wir bislang gespielt haben, solange wir seinen Sonetten lauschten.

Das ist bereits das erste Faktum, das uns zu denken gibt. Das zweite ist die Präposition From (von her), mit der beide Werke einsetzen: FRom fairest creatures we desire increase war der erste Satz der Sonette; nun lesen wir: FRom off a hill whose concaue womb reworded … Eine wundervolle Zeile, um eine Erzählung zu beginnen, und ein wundervolles Verb: reworded, um zu sagen, worum es geht beim Erzählen: Wörter aufzunehmen und wieder zum Klingen zu bringen; ein drittes Indiz, das uns annehmen läßt, daß hier nicht irgendeine Geschichte irgendwie erzählt wird, sondern daß auch wir Hörer an etwas erinnert werden, das wir unter anderem Vorzeichen bereits vernommen haben.

Viertes Indiz ist natürlich das Metrum. Shakespeare verwendet hier wie bei Lucrece (1594) den Rhyme Royal, der sieben Pentameter in der Reimfolge ababbcc ordnet. Eine Strophenform, die Ähnlichkeiten mit dem Sonett hat, aber zwei Couplets aufeinander folgen läßt (und für den, der metrisch getreu übersetzen möchte, um einiges schwieriger). Aber nicht das interessiert uns, sondern die Siebenerordnung, die den Erzählduktus nachhaltig imprägniert, und deren Verwandschaft zu unserer Septettenlektüre der Sonette auf der Hand liegt.

Fünftes Indiz ist die Personenkonstellation. Der alte Mann, dem die Geschichte erzählt wird; die junge Frau, die sie erzählt; und der junge Mann, von dem sie erzählt, und dem sie dabei für eine längere Passage selber das Wort erteilt –– das sind Rollen, die uns bekannt vorkommen, obwohl die Handelnden sich in der Erzählung anders verhalten. Der alte Mann lauscht; er könnte derselbe sein, der uns die Sonette vorgetragen hat, aber wir erfahren nichts darüber, ob er auch hier Anteil nimmt und sich in die Geschichte selbst verwickeln läßt. Er lauscht, und lauscht noch immer. Die junge Frau ist offensichtlich nicht die bedenkenlos verführende promiskuitive Dame der Sonette, sondern ihr empfindsam verführbares Gegenstück. Am ehesten ist es der junge Mann, der an den schönen jungen Mann der Sonette denken läßt, wenn er auch im Complaint nur von seiner allzumenschlichen Seite dargestellt wird.

Auch die Tatsache, daß Sonette im Complaint als Verführungsutensilien gebrandmarkt werden, ließe sich als Indiz werten, selbst wenn damit eher konventionelle Frauenlob-Gedichte als die hier zu Gehör gebrachten zutiefst selbstkritischen Sonette Shakespeares gemeint sein können. Das mag genügen um die Aufeinanderbezogenheit von Sonetten und Complaint im Ansatz zu belegen. Aufs Ganze gesehen haben wir hier den letzten Satz einer lyrischen Suite vor uns, den Epilog sozusagen, mit dem der Dichter sein Publikum aus dem sublimierten lyrischen Drama ins alltägliche Leben entläßt.

G.P.


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