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Was fehlt und warum es nicht dabei ist?

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Kristian Kühn

WAS FEHLT
UND WARUM ES NICHT DABEI IST?
Seit 2015 gibt es die jährlichen Lyrik Empfehlungen an die Buchhandlungen, Bibliotheken und Lehrkörper, die anfangs dann zur Leipziger Buchmesse publik gemacht wurden, heute zum Welttag der Poesie.

Herausgegeben wurden sie von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stiftung Lyrik Kabinett und der Literaturwerkstatt Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband. Mittlerweile ist der Deutsche Literaturfonds bei dem gemeinsamen Projekt mit dabei, und die Berliner Werkstatt hat ihren Namen gewechselt in das Haus für Poesie.

Anfangs wählte für diese gewichtigen Institutionen eine zwölfköpfige Jury, bestehend aus Kritikerinnen und Kritikern, Lyrikerinnen und Lyrikern sowie Vertretungen der beteiligten Institutionen zwölf deutschsprachige und zwölf ins Deutsche übersetzte Publikationen, die sie für besonders empfehlenswert hielt. Dann eine elfköpfige elf und elf – heute eine zehnköpfige Jury zehn und zehn. Es fehlen beim Auswahlgremium mittlerweile die Vertretungen oder besser Führungspersonen der Institutionen (wie Maria Gazzetti, Ursula Haeusgen, Heinrich Detering, Holger Pils und Thomas Wohlfahrt), nur Michael Krüger ist noch dabei. Aber nicht mehr als Präsident der Akademie der Schönen Künste, sondern als Lyriker und Prosaautor.

Verlage sind – aus Gründen der Unparteilichkeit – nicht vertreten, zumindest nicht direkt, von der Verflechtung des Hanser Verlages mit dem Lyrik Kabinett (auch bezüglich des sog. Lyrischen Quartetts) einmal abgesehen. Aber dafür wird immer sorgfältig Ausgleich geschaffen. Man kann durchaus sagen, es herrscht von Anfang an Fairness, Umsicht und Ausgewogenheit. Selbstredend auch bei der Quotierung: 5 m, 5 w.

2021, unverändert zu 2020, in der Jury als „Empfehlende“: Nora Bossong, Marion Poschmann und auch Michael Krüger für die Spezies reine Autorschaft, Uljana Wolf und Joachim Sartorius für die Kombination Lyrik und Übersetzung, das macht zusammen 5 auf der reinen Schreibseite – und Nico Bleutge, als Übergang zu den 5 Vertreter*Innen der beurteilenden Spezies, Kristina Maidt-Zinke, Daniela Strigl, Christian Metz im Wandel von Kritik zur Literaturwissenschaft und schließlich Florian Kessler für die Seite des Lektorats.

Die Lyrik Empfehlungen wirken wie eine Shortlist zu einem Preis, sind aber keine. Könnte jedes Jurymitglied auflisten, was es für herausragend in dem Jahr hält, gäbe es mit Sicherheit Dubletten, Neigungen, Parteilichkeit – so sind alle reduziert auf ein gesamtes Abbild des Jahres und nur eines, das auf eine abgestimmte Weise bemerkenswert, spannend und speziell ist – und, um nicht unterzugehen, dass auch das Leise, das Erwünschte gefördert werden sollte. Also eine wohltemperierte Liste. Zivilisiert, einsichtig, modern. Nun ja, anders geht’s auch gar nicht, wenn man institutionell bleiben will. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Öffentlich-Rechtlichen ihre Kritiken eventuell ganz abschaffen wollen, dass Förderungen der öffentlichen Hand für Rezensionen so gut wie ausgeschlossen sind.

Vermieden wird ganz deutlich eine Einmischung in den Wettbewerb. Es geht ja auch mehr als deutlich nicht um finanzielle Unterstützung, sondern um eine akademische Empfehlung, vergleichbar eventuell mit der des Ethikrats. Aber auch das wäre schon zu auffällig. Die Aufmerksamkeit wird verteilt und sozusagen öffentlich-rechtlich anempfohlen. Eine Frage der politischen Tendenz(losigkeit) bzw. Gemengelage.

Und dennoch ist immer etwas Progressives als Kulturvermittlung mit dabei, eine Art Cancel Culture-Edition zum Schmunzeln, nicht zum Kampf. Letztes Mal angeregt Lisa Jeschke: Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen. Dieses Mal Carla Cerda: Loops.

Was auffällt, dass die Eye-Catcher des Jahres nicht empfohlen wurden, keine Petersilie, keine abhanden gekommene Luft, keine Rückkehr der Tiere, kein Mush, nicht einmal der Dämonenräumdienst.

Aber, wie gesagt, es handelt sich um eine Streuung, um Inklusion aller Seiten, nicht um Lobbyinteressen innerhalb oder außerhalb der Szene.


Deutschsprachige Lyrik

H. C. Artmann: Übrig blieb ein moosgrüner Apfel. Mit Illustrationen von Christian Thanhäuser und einem Nachwort von Clemens J. Setz. Insel, Berlin 2021.
Carla Cerda: Loops. Roughbooks, Schupfart 2020.
Semra Ertan: Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı. Deutsch & Türkisch. Übersetzt von Zühal Bilir-Meier, Can-Peter Meier, Cana Bilir-Meier, Hans-Peter Meier. edition assemblage. Münster 2020.
Dorothea Grünzweig: Plötzlich alles da. Wallstein, Göttingen 2020.
Anja Kampmann: Der Hund ist immer hungrig. Hanser, München 2021.
Thomas Kling: Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix. Suhrkamp, Berlin 2020.
Dagmara Kraus: liedvoll, deutschzyno. kookbooks, Berlin 2020.
Anja Utler: kommen sehen. Lobgesang. Edition Korrespondenzen, Wien 2020.
Annemarie von Matt: Meine Nacht schläft nicht. Ein Porträt in Originaltexten von Roger Perret. Limmat. Zürich 2020.
Ror Wolf: Alles andre: ungewiß. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Lentz. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2020.

Lyrik in deutscher Übersetzung

Sophia de Mello Breyner Andresen: Die Muschel von Kos und andere Gedichte. Portugiesisch-deutsch. Übersetzt und mit einem Vorwort von Sarita Brandt. Elfenbein, Berlin 2021.
Sujata Bhatt: Die Stinkrose. Englisch-deutsch. Übersetzt von Jan Wagner. Hanser, München 2020.
Roberta Dapunt: die krankheit wunder / le beatitudini della malattia. Italienisch-deutsch. Übersetzt von Versatorium. Folio, Wien / Bozen 2020.
Philippe Jaccottet: Die wenigen Geräusche. Späte Prosa und Gedichte. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Hanser, München 2020.
Francis Ponge: Le Soleil / Die Sonne. Französisch-deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Thomas Schestag. Matthes & Seitz, Berlin 2020.
Maria Stepanova: Der Körper kehrt wieder. Russisch-deutsch. Übersetzt von Olga Radetzkaja. Suhrkamp, Berlin 2020.
Anna Terék: Tote Frauen. Aus dem Ungarischen übersetzt von Orsolya Kalász und Eva Zador. KLAK, Berlin 2020.
Samuel Tschernichowski: Dein Glanz nahm mir die Worte. Hebräisch-deutsch. Übersetzt von Jörg Schulte mit einem Vorwort von Aminadav Dykman unter Mitarbeit von Gundula Schiffer. 3 Bände. Edition Rugerup, Berlin 2020.
Peter Urban-Halle, Henning Vangsgaard (Hg.): Licht überm Land. Dänische Lyrik vom Mittelalter bis heute. Dänisch-deutsch. Übersetzt von Peter Urban-Halle, Henning Vangsgaard u.v.a. Hanser, München 2020.
Krišjānis Zeļģis: Wilde Tiere. Aus dem Lettischen übersetzt von Adrian Kasnitz. parasitenpresse, Köln 2020.


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