Michael Braun: Möglichkeit der Himmelfahrt
Memo/Essay > Memo
Möglichkeit
der Himmelfahrt
Der
polnische Weltpoet und skeptische Kosmopolit
Adam Zagajewski ist tot
Von Michael
Braun
Dieser
Dichter kam aus der osteuropäischen Schule der Diskretion. Diese prägnante
Herkunftsbeschreibung kann man den „Fragmenten eines nicht-existierenden
Tagebuchs“ entnehmen, die der große Dichter, Essayist und Musik-Enthusiast Adam
Zagajewski 2008 in „Sinn und Form“ veröffentlichte. Eine konzentrierte
Verhaltenheit, ja ein völlig zurückgenommenes Sprechen, eingebettet in eine
ebenso ruhige wie präzise Erinnerungs- und Gedankenlyrik – das war die Domäne
des poetischen Skeptikers Zagajewski. Seine Gedichte durchqueren das Zeitalter
der Extreme und vergegenwärtigen die Urszenen der europäischen Katastrophe. Und
sind dabei konzentriert auf die kleinen Dinge, die poetischen Einzelheiten. Zum
Beispiel auf den „dicken Stoffbezug“ über dem Lautsprecher des „deutschen
Radios mit dem grünen Auge“, aus denen in der „Elektrischen Elegie“ die Stimmen
einer mörderischen Geschichte dringen. Oder auf die Nachtigall in den
„schwarzen Blättern des Flieders“ im Gedicht „Am Abend singt ein Vogel“.
Als Adam
Zagajewski am 21. Juni 1945 in Lemberg (Lwów) geboren wurde, war der Zweite
Weltkrieg gerade zu Ende gegangen – und schon erwartete ihn eine erste
Entwurzelung. Denn aus Lemberg wurde bald das ukrainische Lwiw und seine
Familie wurde deportiert und lebte fortan in Gliwice (vormals Gleiwitz). 1963
kam er nach Krakau, wo er Philosophie und Psychologie studierte, bald schloss
er sich dort den ästhetischen Dissidenten rund um die Dichtergeneration der Nowa
Fula („Neue Welle“) an, die gegen die verhärtete Dogmatik der kommunistischen
Literaturpolitiker aufbegehrte. 1976 wurden Zagajewskis Bücher in Polen
verboten, so dass er 1979 nach Berlin ging, um sich drei Jahre später in Paris
niederzulassen, das Dasein eines Exilanten vor Augen, der abgeschnitten wird
von seinen Lebenswurzeln. Um diesen Heimatverlust zu bewältigen, entwickelte
Zagajewski Strategien gegen die Schwermut. In Paris erfand er sich Rituale, um
sich gegen das Weltgefühl der Verlorenheit zu schützen: „Wöchentlich, am
Sonntag, rufe ich meinen Vater an./ Alle zwei Wochen treffe ich mich mit den
Freunden, / auf diese Weise halten wir uns die Treue.“ Viele Gedichte Zagajewskis sprechen von
Begegnungen mit Dichterfreunden wie dem „metaphysischen Rowdy“ Joseph Brodsky,
mit dem ihm eine innige Freundschaft verband. Erst über ein Jahrzehnt nach der
politischen Wende in Polen kehrte er 2002 aus Paris nach Krakau zurück.
In einer
Hommage an seinen großen Kollegen Czeslaw Milosz hat er einmal „die Kirchen
Frankreichs“ als ideales poetisches Refugium beschrieben, auch im berühmten
Gedicht „Die Wiesen von Burgund“, das einer Auswahlsammlung 2003 den Titel gab:
„Wir betraten die kleine Kirche bei Vézelay; / niemand war dort außer dem nicht
mehr jungen Pfarrer,/ der die heilige Messe sang. / Er war so völlig allein,
daß die Träne, die sich seit dreihundert Jahren/ unter dem Lid der gesprungenen
Glocke bildete,/ bereit war, die letzte Reise anzutreten.“ Mit solchen Gedichten hat der Dichter einige
seiner Freunde verwirrt, denen sein Faible für das Religiöse und sakrale Bauten
zu weit ging. Diese Leidenschaft für das Religiöse ist auch Thema eines seiner
letzten Aufsätze „Über Joseph Brodsky, chaotisch“, der im Januar/Februar-Heft
von „Sinn und Form“ erschien, wo Zagajewski seit 1994 zahlreiche Gedichte und
Essays publiziert hat. (vgl. „Zeitschrift des Monats“ Februar 2021). In diesem Rückblick
auf seine Begegnungen mit den verstorbenen Dichterfreunden Brodsky und Derek
Walcott markiert, bekennt sich Zagajewski als „Verteidiger des metaphysischen
Impulses“, sowie der religiösen Energien, die sich auch in Gedichten wie
„Orthodoxe Liturgie“ manifestieren: „Die Stimme des einen Solisten erinnert an
die Aussprache/ Joseph Brodskys, der seine außergewöhnlichen Gedichte / vor
amerikanischem Publikum las, das keineswegs/ an die Möglichkeit der Himmelfahrt
glaubte,/ doch glücklich schien, dass ein anderer daran glaubt.“
In
Deutschland wurde Karl Dedecius der erste Übersetzer Zagajewskis, die ersten
Gedichte erschienen 1984 im Oberbaum Verlag, seit 1989 ist es der Hanser
Verlag, der die Gedichte und Essays des aufgeklärten Mystikers publiziert. Im
April wird dort auch posthum die Essaysammlung „Poesie für Anfänger“
erscheinen. Zagajewski selbst sprach übrigens ein exzellentes Deutsch, das er sich
im Laufe seiner intensiven Beschäftigung mit Günter Grass´ “Blechtrommel“
erarbeitet hatte.
Weltweite
Bekanntheit erlangte er mit einem Gedicht, das er im September 2001 nach dem Angriff
auf die Twin Towers in New York schrieb: „Du hast die Flüchtlinge gesehen, die
nirgendwohin gingen./ Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen. / Du
solltest die verstümmelte Welt besingen.“ In seinem „Selbstporträt“ im Gedichtband
„Unsichtbare Hand“ (2012), das ein „Selbstbildnis“ aus den frühen 1990er Jahren
modifiziert, wird die ganze Lebensbewegung des Poeten noch einmal durchbuchstabiert:
„Aber das bin doch ich, nach wie vor ich, der ewig Suchende/ noch immer ich,
jeder Morgen schlägt/ ein neues glänzendes Kapitel auf und kann es nicht
beenden…“ Am Ende des Textes porträtiert sich das Ich in wachsender
Selbstironie als „unglücklich“ und „arrogant“ und die Lebensspanne zwischen
Kindheit und Alter wird vermessen: „ich – im Museum, am Meer, auf dem
Marktplatz in Krakau / in Sehnsucht nach dem Moment, der nicht eintreten will,
der sich verbirgt / wie Berge an einem wolkigen Nachmittag, schließlich kommt /
Klarheit, und ich weiß plötzlich alles, weiß – das bin ich nicht.“
Die
Suchbewegung des skeptischen Europäers und Weltbürgers Adam Zagajewski ist am
21. März an ihr Ende gekommen. Der Dichter, der seit vielen Jahren als Anwärter
auf den Literaturnobelpreis galt, starb im Alter von 75 Jahren in Krakau an den
Folgen einer Krebserkrankung.