Sinn und Form, Heft 1/2021
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Sinn und Form, Heft 1 /2021: Poetik der Sterblichkeit
ALLE MEINE TOTEN
„Schreiben ist sterben lernen.“ Diese Notiz aus Ilse Aichingers „Aufzeichnungen 1950-1985“ hat eine zeitlose Geltungskraft, die über die bloße Bestandaufnahme einer bestimmten Lebenssituation hinausgeht. Viele bedeutende Dichterinnen und Dichter aus der Generation der im Zweiten Weltkrieg Geborenen, die eben noch fühlbar da waren und präsent und unverzichtbar, haben den von Aichinger bezeichneten Lernprozess mittlerweile abgeschlossen und sind für immer verstummt. Wie schwer diese Verluste wiegen, markieren einige Beiträge im neuen, klug komponierten Heft 1/2021 von Sinn und Form. Am Ende des Heftes zieht der Schriftsteller Renatus Deckert unter der Überschrift „Alle meine Toten“ eine persönliche Zwischenbilanz dieser Elementarerfahrung von Sterblichkeit, indem er sich an ein Buchprojekt aus dem Jahr 2007 erinnert. In diesem Jahr erschien die von Deckert angestiftete Anthologie „Das erste Buch“, in der sich 92 Schriftsteller(innen) in kurzen Essays, Geschichten und autobiografischen Miniaturen an ihre Schreibanfänge und an ihr literarisches Debüt erinnerten. Ganz viele starke Stimmen der deutschen Nachkriegspoesie und der großen Nachkriegs-Epik waren noch präsent und gaben Auskunft: Günter Grass über seinen surrealistisch inspirierten Gedichtband „Die Vorzüge der Windhühner“ (1956), Günter Kunert, der 1950 das Manuskript seines ersten Lyrikbands „Wegschilder und Mauerinschriften“ dem damaligen DDR-Kulturminister Johannes R. Becher in die Hand drückte; oder der schon von einer schweren Krebserkrankung gezeichnete Peter Rühmkorf, der sein vom Expressionismus und vom lässigen „Big Benn“ beeinflusstes Bändchen „Heiße Lyrik“ (1956) reanimierte. Renatus Deckert verweist in seinem Memento mori zudem auf den Beitrag Oskar Pastiors, der telefonisch noch zwei Sätze nachreichte, die dann offenbar fehlerhaft abgedruckt wurden, gleichwohl später in der erregten Debatte um Pastiors Securitate-Verstrickung als Beweisstück herangezogen wurden. Deckerts Projekt „Das erste Buch“ erscheint heute als eindrückliches Dokument für das von Ilse Aichinger bezeichnete Schreiben, das den Horizont des Todes stets im Blick hat. „Ich könnte noch schreiben“, so notiert die 2016 verstorbene Aichinger in Deckerts Band, „weil ich eben nichts anderes kann, aber es genügt mir, so lange als möglich nicht zu schreiben – der schwierigere und eigentliche Teil meiner Arbeit.“
Dieses Bewusstsein der Sterblichkeit, das sich in alle Linien eines Schriftsteller-Lebens einzeichnet, manifestiert sich auch in weiteren starken Beiträgen des Sinn und Form-Heftes. In einem großartigen Prosastück aus dem Nachlass des 2020 verstorbenen Guntram Vesper unternimmt der Autor, der ein fabelhafter Chronist der Erinnerung ist, eine imaginäre Reise nach Oberhessen, an die Orte seiner Kindheit und Jugend, nachdem er zuvor sein Lieblings-Antiquariat in Göttingen aufgesucht und zuhause seine Archivkartons mit Briefbeständen aus seiner Jugend durchstöbert hat. Durch Lektüre-Funde werden hier einige Schlüsselszenen aus Vespers Biografie wachgerufen. Der Lebenslauf des Kinderbuchautors Ernst Eimer, der wie er selbst in einem oberhessischen Dorf am Rande des Vogelsbergs seine Jugendzeit verbrachte, wird hier für Vesper zum poetischen Ankerpunkt für die Abtastung der eigenen Urszenen.
Der polnische Weltpoet Adam Zagajewski widmet sich in Sinn und Form einem weiteren großen Toten: In einem Gedenkblatt skizziert er die verschiedenen Facetten seines berühmten Freundes Joseph Brodsky. Der poetische Kosmopolit Brodsky, der sich gerne einen „metaphysischen Rowdy“ nennen ließ, weil ihm jede Art von dogmatischer Religion zuwider war, erscheint hier als unberechenbarer Widerspruchsgeist. Den institutionalisierten Religionen bescheinigte er eine große Schwäche – einen „Mangel an Unendlichkeit“. Ausgerechnet der Dichter, den das Sowjetregime 1964 wegen „Parasitentums“ demütigte und in die Zwangsarbeit schickte, ließ mitunter eine gewisse Neigung zu einem „aristokratischen Chauvinismus der russischen Kultur“ (Zagajewski) aufblitzen, als er 1992 ein Schmähgedicht auf die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung verfasste. Der Beitrag zu Joseph Brodsky ist in Sinn und Form Teil eines exzellenten Dossiers über die polnische und russische Kultur, das eingeleitet wird von Stephan Wackwitz´ beeindruckender Eloge auf die architektonische Schönheit der belarussischen Metropole Minsk. Einige Gedichte des mazedonischen Poeten Nikolai Madzirov komplettieren das poetische Tableau des Sterblichkeits-Motivs: „Ich werde die Entfernung zwischen meinem Grab/ und den Früchten abbilden,/ werde einen Stein in den Brunnen der Abwesenheit werfen/ und auf das Geräusch der Erinnerung warten.“
Im Zentrum von Sinn und Form steht – abseits des Sterblichkeits-Themas - ein unglaublich inspiriertes Gespräch zwischen der Literaturwissenschaftlerin Yvonne Pauly und Marion Poschmann über die „Kunst der Unterscheidung“. Es geht hier primär um die Grundlagen jener (oftmals visuellen) Wahrnehmungsprozesse, die den Kern von Poschmanns Poesie bilden. Am Beispiel der Baum-Gedichte aus dem Band „Grund zu Schafen“ (2004) kann Pauly en detail zeigen, wie subtil die Dichterin hier die asklepiadeische Odenstruktur in die Textur der Gedichte eingeflochten hat. Faszinierend auch, wie bei Poschmann Schwarz- und Weiß-Farbwerte und – in den „Seladon-Oden“ in „Nimbus“ - verschiedene Register der Farbe Grün zu Stimuli des poetischen Prozesses werden.
Den intensivsten Text zur Vergegenwärtigung der Sterblichkeit hat in Sinn und Form die Schriftstellerin Kerstin Kempker vorgelegt. Es ist ein hypnotisches Nachtstück, in dem der Protagonist, ein zwischen Tagtraum und poetischer Phantasie vagabundierender „Schwärmer“, durch das nächtliche Berlin streift und am Lietzensee in einen mystischen Dialog mit Akteuren der jüngeren Berliner Kulturgeschichte tritt: mit Tucholsky, dem Herausgeber der „Weltbühne“ – und mit Wim Wenders´ legendären Engeln, die den „Himmel über Berlin“ erkunden. „Ich denke“, sagt schließlich der Schwärmer, „die Dinge liegen zu unverbunden im Raum. Sie zu verbinden, ist unsere Sehnsucht und Aufgabe, das hohe Amt der Taugenichtse, Tunichtguts, Schwadroneure und Flaneure, Nachtvögel und Tagediebe. Einer muß da sein, muß singen und wachen, […] die Sterne zählen und den Staub von den Dingen wedeln, der sich immerzu niederläßt […]..den unerbittlichen Staub.“
Am Ende dieser Passage folgt die Einsicht, dass gegen die Vergänglichkeit nur die Poesie hilft: „Ohne Form sind wir Staub.“
Sinn und Form, Heft 1/2021, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin. 144 Seiten, 11 Euro