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Guantanamo Teil 2

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Ivor Joseph Dvorecky
Gedichte aus Guantanamo

Teil B

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IV   W i d e r h e r s t e l l u n g  d e r  G e r e c h t i g k e i t
d u r c h   d e n   D i c h t e r b o t e n
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1 Der Dichterbote

Eine andere Stimme erklingt in Gedichten einiger weniger Autoren, die schon vor der Gefangennahme professionell mit Sprache umgingen. Sie gehört einem poetischen Sprecher, der die ästhetischen Mittel verfeinert und bewusst einsetzt. Er verfolgt ein Ziel.

Religion und Kunst und Gefängnis stehen in einer intimen Beziehung zueinander. Die Religion kennt den Körper auch als Gefängnis der Seele, die Gefangenschaft kennt Sehnsucht nach Liebe und Freiheit. "Poesie entsteht aus Leiden" heißt es in einem oft zitierten arabischen Sprichwort. Die islamische Gefängnislyrik steht einerseits in Beziehung zur persischen Liebeslyrik, mit ihren Tränen und Sehnsüchten, Rosen, Gärten, Vögeln und Käfigen, Sternen und Meeren ...  und andererseits in der Tradition einer aus vorislamischer Zeit stammenden poetischen Form, der Qasida. Die Bezeichnung Qasida leitet sich von einem alten arabischen Wort ab, das so viel meinte wie "ein Ziel verfolgen", meistens wird es mit Ode übersetzt. Sie stammt aus einer Zeit, als vielleicht noch Erzählung und Reisebeschreibung so gut wie eins waren. Wie ein Reise-Archetyp besteht die Qasida aus drei Teilen.

Im Nasib, der Einleitung, erinnert der Dichter sich in melancholischer Stimmung an vergangene Zeiten, spricht von Verlust oder Trennungsschmerz und führt die emotional gestimmten Zuhörer ins Geschehen ein. Der Rahil, Hauptteil, beschreibt die Reise des Helden, mit ihren Gefahren, unbekannten Bedrohungen und bestandenen Kämpfen. Der Abschluss, die Botschaft des Gedichts, kennt mehrere Varianten: Der Fakhr singt das Lob des Helden und des Stammes; Hija ist sein Gegenteil, eine Satire über andere Stämme; als Hikam enthält er eine moralische Maxime, Belehrung oder Offenbarung; der Madih lobt den Proheten und seine Familie oder den Herrscher. Häufig enthält die Qasida ein Rätsel, das der Zuhörer lösen muss.

Indem der Gefängnisdichter sich der Qasida bedient, übernimmt er die Rolle von Dichterboten, die quer durch Jahrhunderte die Willkür des Mächtigen als Unrecht anprangerten, welche eingekerkert, gefoltert und gemordet wurden, die als Stimme des Volkes von Herrschenden gefürchtet wurden und die in ihren Versen eine alternative Gerechtigkeit ausübten. Themen, die wir bereits aus früheren Gedichten kennen, kehren wieder, doch der Dichterbote erklärt Zusammenhänge und Bedeutungen, er spricht mit einer anderen Autorität und Reichweite.


2 Wie ist Schreiben unter Bedingungen der Folter möglich ?

Sami al Haj
Gedemütigt in Fesseln

Bevor der Dichter die Botschaft verkündet, schildert er den Anlass und die Bedingungen seines Schreibens. In der Nasib leitet Sami al Haj das Gedicht mit einem schmerzerfüllten Rückblick auf sein früheres, einst glückliches Leben ein.

           Als ich gepeinigte Tauben in den Sträuchern gurren hörte,
           liefen heiße Tränen über mein Gesicht.
          
           Als die Lerche zwitscherte, erinnerte ich mich
           an meinen Sohn und seine Spiele.
          
           (...)
          
           Ich war in einem Meer aus Glück, es ging mir gut,
           doch jetzt begleitet mich nur schwerer Gram.

Heiße Tränen sind ein traditionelles Element der Qasida und der Vogel ein uraltes Symbol für den Dichter und die Sprache. al Haj bewahrt gleichzeitig die Wahrnehmung von Vergangenheit und Gegenwart. Im ersten Vers vergleicht er die in Käfigen gepeinigten Häftlinge mit in (Dornen)Sträuchen gefangenen Tauben. Der zweite Vers, die Metapher der hochfliegenden, in Freiheit singenden Lerche, bezieht sich auf die erste, die gepeinigte Taube, wie das vergangene Leben des Dichters in Freiheit auf sein jetziges.

Im Hauptteil, dem Rahil, berichtet al Haj von den Versuchungen, denen er von seinen Peinigern ausgesetzt wurde, und wie er ihnen widerstand.

           Sie sagten: Arbeite für uns als Spion,
           bei uns ist es schöner als in deinem Land.
          
           Wir geben dir eine Million und schöne Frauen.
           Wir lassen dich frei, geh, wohin du willst.
          
           Heuchelei sollte ich gutheißen,
           wie eine Schlange, die den Tod in ihrem Maul trägt.           

In der engl. Ausgabe:

           Their temptations seize my attention
           Like lightning in the sky.
          
           But their gift is an evil snake,
           Carring hypocrisy in its mouth like venom.

Er vergleicht ihre Verführungskünste mit denen der biblischen Schlange. Was er ihnen antwortet, entfaltet sich zu einem Dialog zwischen dem Dichterboten und dem Bösen.

           Sie sagten: Wir haben die Freiheitsstatue,
           und Meinungsfreiheit ist doch, was ihr wollt.
          
           Aber ich antwortete, Gerechtigkeit bestünde nicht aus
                   Monumenten
           und schönen Bildern, wenn Unrecht die Menschen in
                   Angst und Schrecken versetzt.
          
           Sicherheitsrat, du gewinnst an Bedeutung,
           doch trampelst täglich auf Waisen herum und machst
                   ihnen Angst.

           Bush, überlegt dir gut, was du tust!
           Wir schärfen unser Speer, der den verrückten Lügner
                   treffen wird.
         
In der engl. Ausgabe:
          
           They have monuments to liberty
           And freedom of opinion, which is well and good.
         
           But I explained to them that
           Architecture is not justice.
          
           America, you ride on the backs of orphans,
           And terrorize them daily.
          
           Bush, beware.
           The world recognizes an arrogant liar.

Der Dichterbote erteilt mit Worten der Weisheit den Verbrechern eine Belehrung. Er bezieht sich auch auf die Waisenkinder, welche durch die Bombardierungen im war on terror (Krieg gegen den Terror) entstanden sind. Bei dem Ausdruck architecture is not justice denkt man unwillkürlich an die eingestürzten Zwillingstürmen des 9/11. In der deutschen Fassung fehlt dies allerdings, und sie ist auch ausführlicher, weil das Gedicht von Kerstin Wilsch aus dem Arabischen und nicht aus dem Englischen übersetzt wurde - und falls Sami al Haj es nicht geändert hatte -, stellt sich die Überlegung, ob es nicht der FBI-Zensor in der secure facility war, der an 9/11 gedacht und den Vers beschnitten haben mag. In der deutschen Übersetzung fehlt auch der Vers: Ihre Versuchungen fesselten meine Aufmerksamkeit / wie ein Blitz am Himmel. Wir können sie als eine Spur lesen: Entweder empfand Sami al Haj später Scham dabei oder es war Wunschdenken des Zensors.

Schließlich, im Hikam, kommt das Gedicht zu seinem Anliegen.

           Ich wurde in Fesseln gedemütigt.
           Wie kann ich da Verse dichten? Wie mich ausdrücken?
          
           Wie kann ich Gedichte schreiben mit all den Fesseln,
           nach all den langen, tränenvollen Nächten in ihren
                   Fängen,
           mit einer Seele gleich einem stürmischen Meer, auf-
                   gewühlt von großer Sehnsucht,
           die den auf ihr Segelnden heftig trifft.
          
           Ich bin Gefangener, an dem die Feinde Verbrechen
                   verüben.
           Voller Sorgen, schwer zu ertragen, warte ich auf das,
                   was kommt.

Der Dichter stellt die Frage: Wie ist Schreiben unter Bedingungen der Folter möglich? Er wiederholt sie drei Mal: Wie kann ich da Verse dichten? Wie mich ausdrücken? Wie kann ich Gedichte schreiben? (How can I now compose verses? How can I now write? How can I write poetry?)

Die Umstände seiner Gefangenschaft: die Demütigungen, die Fesseln, sein Gemütszustand ... legen nahe - er kann es nicht. Ein gemarterter Körper kann unter solchen Bedingungen nicht Verse dichten, nicht sich ausdrücken, nicht Gedichte schreiben. - Und zugleich hat der Leser das Gedicht, Worte der Weisheit, vor Augen. Der Widerspruch ist ein Rätsel, welches der Leser selbst lösen muss. Mit dem Verstand geht das nicht. Nur in sich kann der Leser das Ausmaß des Verbrechens nachempfinden, das nötig war, um jene Kraft aufzurufen, die den Dichter befähigt, das Unmögliche zu leisten. Der Besitz von Gerechtigkeit gehört zu den Eigenschaften Gottes: Nicht er, der Dichter, ist es, der schreibt, vielmehr kommen seine Worte von einer Quelle, deren Macht menschliche Beschränkungen übersteigt.


3 Die Legitimation des Dichterboten

Abdulla Majid al Noaimi
Fremdheit hat mein Herz verwundet

Wie al Haj behandelt auch al Noaimi die Bedingungen des Schreibens, aber sein Anliegen ist die Rechtfertigung des Dichtens. Er muss sich als der geeignete Mann erweisen für seine Aufgabe. al Noaimi beschreibt die notwendigen Kunstfertigkeiten des Schreibenden, seine Vertrautheit mit der Quelle, aus der er schöpft, und seine Verpflichtung als Dichterbote. Das ist so bedeutend, dass er es zwei Mal darlegt. Zuerst in einer Vorgeschichte, die genauso wichtig ist wie das Gedicht selbst, dann in den Versen. Wie bei allen Gedichten verbindet der Dichterbote das mit einer Unterweisung.

Das ist ein Gedicht, das ich im Guantánamo-Gefängnis über meinen Bruder und Freund Salman al Khalifa verfasst habe, nachdem wir lange getrennt gewesen waren. Die Amerikaner hatten uns unbedingt voneinander trennen wollen. Vier Monate später sandte er mir durch die Brüder einen Gruß, in dem er mir folgende Worte ausrichten ließ: "Friede sei mit dir und die Barmherzigkeit Gottes und sein Segen. Ich vermisse dich sehr und versuche gerade, ein Gedicht für dich zu schreiben."

Der Dichter ist jemand, den man um Rat fragt, er ist eine Autorität.

Da bekam ich Gewissensbisse. Er, der gar kein Dichter ist, schreibt ein Gedicht für mich, und ich, der von sich behauptet, einer zu sein, habe nichts für ihn geschrieben? Dann dachte ich: "Wenn er mir ein Gedicht schreibt, bevor ich ihm eines schreibe, verdiene ich es, bis zum Jüngsten Gericht verspottet zu werden."

Die Berufung zum Dichter ist ein Amt, seine Verpflichtung ist seine Würde. Der Dichter fühlte sich schuldig, sie vernachlässigt zu haben.

Also machte ich mich ans Schreiben, konnte mich aber nicht auf das Gedicht konzentrieren. Ich ließ das Dichten erst einmal sein und wollte etwas aus dem Koran auswendig lernen. Aber auch darauf konnte ich mich nicht konzentrieren, weil mein Kopf jetzt mit dem Gedicht beschäftigt war. So verstrich die Zeit, mein Kopf halb hier, halb da, und mit einem Mal kam die Inspiration:

Der Dichter weist seine Fähigkeit als Gelehrter vor. Er beherrscht die Kunstfertigkeit des Schreibens und über das gewöhnliche Lesen hinaus verinnerlicht er die Heilige Schrift. Ihr Verständnis ist nicht rational und kann nicht willentlich erreicht werden. Erst als er sich in einem Zustand zwischen zeitlos und zeitlich befindet, erreicht ihn die Inspiration (With my mind divided, time began to pass. And then I was inspired:).

*

           Die Fremdheit hat mein Herz verwundet.
           Nun hat die Lyrik die Ärmel hochgekrempelt und zeigt
                   ihren langen Arm.
           
           Zeit vergeht. Die Zeiger der Uhr gaukeln uns etwas vor.
           Zeit ist kostbar, die Minuten sind begrenzt.

Die ersten Strophen des Nasib führen die Gedanken der Einleitung fort. Dass die Zeit kostbar ist – aber die Zeiger der Uhr uns ihr Verrinnen vorgaukeln, scheint ein Widerspruch zu sein. Doch der Vers spielt auf die Vergänglichkeit der Welt und die Position des Dichters an der Schwelle zum Zeitlosen an. Dann nimmt der Dichterbote Bezug auf den Adressaten, die amerikanische Öffentlichkeit, und die Absicht seiner Botschaft.

           Gib dem Dichter nicht die Schuld, wenn er in dein Land
                   kommt
           und Reime komponiert, inspiriert.

Seine Bitte um Verständnis ist eine Zurechtweisung. Die Amerikaner sollen nicht bei ihm die Schuld suchen, dass er zum Widerstand aufruft, - die Schuld sollen sie bei sich selbst suchen. Seine darauffolgende Hinwendung zum Bruder, dessen Name nicht genannt werden muss, meint jeden Mitgefangenen, und im weiteren jeden Muslim.

           O Bruder, den ich nicht beim Namen nennen muss, ich
               sende dir schwer herabprasselnden Regen,
          
           um deinen Durst zu stillen und meine Dankbarkeit zu
               zeigen
           Mein Gedicht wird dich trösten und deine Bürden
               erleichtern.
          
           Hast du Schuldgefühle, wird mein Gedicht sie besänftigen.
           Meine Gedanken sind frei von Feindseligkeit.
          
           Sobald du frei bist, werde ich glücklich sein und dich
               umarmen.
           Nichts, Bruder, geht über ein sanftes, freundliches Gemüt.

Seine Botschaft, sagt der Dichterbote, besitzt die Macht, den Dürstenden zu erquicken, Schuld abzuwaschen und Ausgedörrtes wieder zum Erblühen zu bringen. Die Gefangenen müssen sich schuldig gefühlt haben, ihre Reinheitsgebote nicht einhalten zu können. Die Freiheit und die Umarmung sind nicht primär physisch gemeint. Der Dichter gibt zu verstehen, dass er sich bereits in Freiheit befindet und hofft, auch seine Brüder dort begrüßen zu können.

Der Nasib ist bereits in den Rahil übergegangen. In den nachfolgenden Versen beschreibt der Dichter die Tugenden des Gerechten.

           Ich will dir einen herzlichen Rat geben -
           den Rat von einem, der das Unmögliche erlebt hat:
          
           Nicht alles, was dein Herz begehrt, wirst du auch
                   bekommen;
           manches wird zu dir kommen, anderes nicht.
          
           (...)
          
           Sei großzügig zu anderen, Bruder,
           lass deine Gier hinter dir.
          
           Hat ein Bruder dich verletzt,
           denk zurück an seine guten Taten und der Schmerz wird
                   vergehen.

Dabei verfolgt er eine doppelte Absicht. Vordergründig zeichnet er das ideale Bild des muslimischen Mannes, dem die Gefangenen folgen, im Hintergrund erscheinen die Gestalten der hasserfüllten Folterer, die das Gegenteil dieser Tugenden darstellen. Nun gibt der Dichter Auskunft zum Umgang mit Gefühlen.

           Versenk die Traurigkeit deines Herzens in einen Talkessel.
           Mach sie zu deiner Gefangenen; lässt du sie frei, fügt sie
                   dir Leid zu.
          
           Ganz gleich wie lang unsere Trennung währt, ich werde
                   dich nicht vergessen.
           Was in unseren Herzen verborgen liegt, drücken meine
                   Worte aus.

Die Kontrolle der Traurigkeit geschieht durch die ästhetische Praxis als Betätigungsfeld für Sabr und Shukr. Die Möglichkeit der Poesie, Gefühlen Ausdruck zu verleihen, befähigt den Dichtenden, sie bewusst zu kontrollieren. Kontrolle heißt aber auch, bestimmte Gefühle geheim zu halten oder nur verschlüsselt zu zeigen. Wie das gemacht wird, sagt der Dichter, drücken meine Worte aus - das Gedicht selbst macht es vor.

In der Fakhr, dem Abschluss, versichert der Dichter die Mitgefangenen ihrer Würde.

           Du bist kostbar und wirst es immer mehr.
           Wer Gefährten hat wie dich, wird nie an Würde verlieren.

Es ist aber auch eine Ermahnung zur Solidarität und der Vorsicht vor Verführungen. Die letzten Verse gelten Gottes Segen, der Dichterbote zeigt, dass er einen solchen erbitten und weitergeben kann.


4 Die Offenbarung des Dichterboten

Ibrahim al Rubaish
Ode an das Meer

Die Ode an das Meer ist das meisterhafte Gedicht der Sammlung, in Begriffen der poetischen Intensität und des gezielten Einsatzes ästhetischer Mittel. Ibrahim al Rubaish enthüllt als Dichterbote die Bedeutung des Geschehens. Sein Gedicht ist eine spirituelle Unterweisung. Er spricht ruhig, fast unbeteiligt, mit überpersönlicher Stimme und in poetischer Intensität von letzten Dingen.

           1
           O Meer, bring mir Neuigkeit von meinen Liebsten.

           2
           Wären die Ketten der Gottlosen nicht, ich wär in dich
                   hineingetaucht
           und wäre zu meiner geliebten Familie geschwommen oder
               in deinen Armen zugrunde gegangen.
         
           3
           Deine Küsten sind Trauer, Gefangenschaft, Schmerz,
                   Unrecht.
           Deine Bitternis nagt an meiner Geduld.
       
           4
           Deine Ruhe ist wie der Tod, deine tosenden Wellen sind
                   seltsam.
           Die Stille, die aus dir aufsteigt, birgt Verrat.
    
           5
           Deine Reglosigkeit wird, wenn sie anhält, den Kapitän
                   noch umbringen
           und der Steuermann wird in deinen Wogen ertrinken.
 
           6
           Sanft, taub, stumm, undurchdringlich und zornig tosend,
           trägst du Gräber.
     
           7
           Wenn der Wind dich erzürnt, wird deine Willkür offenbar.
           Bring der Wind dich zum Schweigen, bleiben nur noch
                   Ebbe und Flut.
  
           8
           O Meer, kränken dich unsere Ketten?
           Nur durch Zwang kommen wir täglich und gehen.
          
           9
           Kennst du unsere Sünden?
           Begreifst du, dass man uns in diese Finsternis geworfen
                   hat?
         
           10
           O Meer, du verhöhnst uns in unserer Gefangenschaft.
           Du hast dich mit unseren Feinden verschworen und nun
               wachst du grausam über uns.
        
          11
           Erzählen die Felsen dir nicht die Verbrechen, die in ihrer
                   Mitte begangen wurden?
           Übersetzt Kuba, die Besiegte, dir nicht ihre Geschichten?

           12
           Drei Jahre warst du an unserer Seite, was hast du erreicht?
           Boote voller Lyrik auf dem Meer; eine begrabene Flamme
                   in einem brennenden Herzen.

           13
           Die Worte des Dichters sind der Quell unserer Kraft;
           sein Vers ist Balsam unserer gequälter Herzen.

Vers 1 und 2
Wie im klassischen Nasib führt al Rubaish mit einer Empfindung des Verlustes in das Gedicht ein. Aber statt der Zeit als trennendes Element, verwendet er den Raum, in Gestalt des Meeres.
Ketten und Meer beschreiben erst einmal faktische Gegebenheiten des Lagerlebens, doch schon die Erklärung hineinzutauchen, leitet zur Fiktion über. Zusammen mit der Todesbereitschaft drückt sie die Entschlossenheit des Dichters aus, aber auch die Verzweiflung der Gefangenen und die Grausamkeit des Ortes.

Verse 3 bis 7
Der Dichter beschreibt die Funktion der Küste als eine der Gefangenschaft, des Unrecht und des Schmerzes in direkten Worten, und doch ohne dabei die metaphorische Ebene zu unterbrechen. Die Eigenart der Guantanamo-Gedichte, Konkretes zugleich als Übertragenes zu verwenden, beherrscht er in Meisterschaft. Die metaphorischen Bedeutungen überlagern sich transparent wie Wolken, immer meint das eine die anderen mit.

Das Meer, diese bewegliche Metapher - Brandung, Wellen, Wogen, Stürme -, ist auch das konkrete Meer. Das Meer steht auch für die Natur, ihr nichtmenschliches Wesen, für die trennende Macht von Zeit und Raum; es steht für das unberechenbare Schicksal, das dem Individuum widerfährt aber ihm gegenüber unempfindlich ist; es steht für die Folterer, deren Gehilfe es ist, und die Gewalt der amerikanischen Regierung; es steht für die westliche Öffentlichkeit mit ihren vorgeblich humanitären Werten; und außerdem besitzt es noch die Eigenschaften des Ewigen und Uneingeschränkten, wie der Geist. Der Gläubige ermisst die Größe der Bitternis am Nagen des Meeres an der Sabr; das Meer und seine Bitternis sind eine Prüfung der Shukr.

Die Passivität der westlichen Öffentlichkeit bedeutet für die Gefangenen den Tod. Der Welt moralische Aufgeregtheit ist in ihrer Folgenlosigkeit befremdlich wie das tosende Meer. Das Schweigen des Westens birgt Verrat an eigenen Idealen, wenn seine Reglosigkeit anhält, werden seine Werte und Leitideen zu Grunde gehen. Der Westen mit seinen universalen Werte besitzt nichts Festes, wie das Meer. Er ist den Launen seines mächtigsten Repräsentanten ausgesetzt. Hat sich seine Empörung gelegt, bleibt nur das ewige Hin und Her, wie das Meer beschäftigt der Westen sich nur noch mit sich selbst.

Verse 8 bis 11
Im ironisch unterlegten Ton fragt der Dichterbote, ob die Existenz von Guantánamo eine Kränkung für den Westen darstellt. Ob der Zwang und die Ketten der Gefangenen das westliche Selbstverständnis als Hüter der Freiheit verletzten.

Der Dichterbote erwarte sich nichts von der westlichen Öffentlichkeit, besonders nicht von der amerikanischen, aber er spricht doch zu ihr.  Er fragt, ob sie Beweise für eine Schuld der Gefangenen vorweisen kann; er fragt, ob sie das Schicksal der Gefangenen überhaupt wahrnimmt oder ihr Blick von ihnen abgewandt hat.

Die Passivität der Welt ist eine Verhöhnung der Gefangenen, eine Marginalisierung ihrer Existenz und ihres Leidens. Sie macht den Westen zum Mittäter des Unrechts und der Grausamkeit; der Beginn seiner Selbstzerstörung.

Gibt es nicht für die Verbrechen auf Guantánamo genug Beweise, fragt der Dichterbote, von der Festigkeit der Felsen? Gibt es nicht Berichte von Gefangenen und die Selbstdarstellung des US-Militärs? Erzählt die Insel Kuba nicht die Geschichte Guantánamos seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als eine des Unrechts?

Vers 12 und 13
Der Dichterbote fragt die Folterer mit gelassener Stimme: was hast du erreicht? Frage und Ton verweisen auf den, der fragt, und auf den Ort, von dem aus er spricht. Der Dichterbote steht an der Schwelle zwischen dem Zeitlosen und dem Zeitlichen. Die Frage beantwortet er selbst: Nur Boote voller Lyrik auf dem Meer. Deren Hinausfahrt auf die offene See erinnert an Begräbnisse als Fahrt in die Ewigkeit. Die Gedichte bleiben als Zeugnis von Unrecht und Glaubensstärke bestehen. Die Gefangenen haben durch die Literatur Unsterblichkeit erlangt. Weder die Natur, das Meer noch das leidbringende Schicksal noch die Gewalt von Regierungen - noch die westlichen humanitären Werte (genauer, wie wir später sehen werden: das Fundament dieser Werte) können die Quelle erreichen, aus der die Kraft der Gefangenen und die Inspiration des Dichterboten fließt.

Die Botschaft des Dichters nährt die brennende Flamme in den Herzen der Gläubigen. Er spricht von dem Ort aus, wo die Worte sind, welche bestanden, bevor die Welt erschaffen wurde.

*

Gleich mit dem ersten Satz führt al Rubaish das Element der Distanz ein.

Sie ist das wichtigste ästhetische Mittel des Gedichts. Distanz bedeutet vieles darin. An einem Ende des Spektrums ist es die trennende Entfernung der Insel von der Welt, am anderen erschafft sie einen von der Zeitlichkeit unerreichbaren Ort, von dem aus die Stimme spricht. Das Meer eignet sich als Bild für beides, es schafft trennende Distanz und sein absichtsloses, immerwährendes Spiel der Wellen ist zeitlos.

In der klassischen Qasida tritt die Distanz als eine in Zeit und eine im Raum auf. Als Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist sie unüberwindlich und schafft ein Gefühl von von Verlust und Melancholie. Den Abstand im Raum hingegen kann der Held durch die Reise überwinden und Schätze nach Hause bringen. Die raumüberwindende Reise ist eine Art Wiedergutmachung für die Verluste der Vergänglichkeit.

al Rubaish, auf der Insel der Unseligen in einem Käfig aus Eisen gefangen, setzt dieselben traditionellen Elemente ein, verändert aber virtuos ihre Bedeutung.

Es ist die räumliche Distanz, die er mit dem Gefühl von Verlust und Melancholie belegt. Dass diese prinzipiell überwindbar bleibt, gibt ihm die Möglichkeit drei Dinge zu enthüllen: seine Entschlossenheit ins Meer hineinzutauchen; die schuldhafte Grausamkeit der Lagerbetreiber; die schuldhafte Passivität der westlichen Welt.

Auch die unüberwidbare Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit erhält eine neue Bedeutung. Sie dient ihm zur Evokation eines unerreichbaren Ortes, - wie die Vergangenheit, ist dieser Ort zeitenthoben. Das ohnmächtige Gefühl gegenüber der Vergänglichkeit verwandelt sich in die Ohnmacht der Folterer (und der Welt) diesen Ort zu erreichen. Der Dichterbote hingegen spricht von der Schwelle dieses Ortes, der ein innerer und spiritueller ist. Distanz und Zeitlosigkeit sind in seiner Stimmlage stets gegenwärtig; und der Dichterbote verkündet, dass der Gläubige sich auf der Reise dorthin befindet und Schätze zu erwarten hat.


5 Wiederherstellung der Gerechtigkeit durch den Dichterboten

Emad Abdullah Hassan
Die Wahrheit

Die Wahrheit ist mit zehn Strophen das längste Gedicht der Sammlung. Im Unterschied zur Ode an das Meer zielt sie nicht auf einen spirituellen Ort, sondern auf Wirkung in der Welt. Durch die Enthüllung der Wahrheit stellt das Lied des Dichterboten die Gerechtigkeit wieder her und ihre heilende Kraft bringt das Leben wieder zum Erblühen.

                   I

           Ritzt euere Buchstaben in Lorbeerbäume,
           von der Höhle bis zur Stadt der Auserwählten.
          
           Hier stand das Schicksal und wunderte sich.
           O Nacht, sind die Lichter, die ich sehe, wirklich?

Der Nasib leitet im feierlichem Ton große Ankündigungen ein. Die Welt wird aufgefordert sich die Worte des Dichters ins Gedächtnis zu ritzen, in Lorbeerbäume, die für Sieg und Ehre stehen und für das kollektive Erinnern vom Anfang der Kultur in den Höhlen bis zum paradiesischen Zeitalter. Das Schicksal selbst, einst nachts vom Meer die Lagerlichter erblickend, wunderte sich über das Unvorstellbare, das hier geschah.

                   II

           Ich sah die Jugend Mohameds,
           was für prächtige und anständige junge Männer!
        
           Jahrelang hat das Geschehen sie gepeinigt (...)
           Jahrelang hat das Geschehn sie zerrieben (...)
          
           Der Geist reift hier schneller,
           ein Tag ist wie zwei Monate daheim.

In Gefangenschaft wendet der Geist sich nach innen, der Wahrheit zu. Der elevierte Standort des Dichterboten ermöglicht es ihm, Jahre der Geschichte und ihre Zusammenhänge zu überblicken.

                   III

           O Geschichte, denk nach. Ich werde jetzt
           das Geheimnis aller Geheimnisse offenbaren.
         
           Mein Lied wird die verfluchte Unterdrückung entlarven
           und das System zu Fall bringen.
          
           Die Tyrannen, aufgereiht in voller Montur,
           stehen unberührt im Angesichts des Lichts.
          
           Sie bewegen sich in Finsternis, angeführt
           vom Teufel, voller Stolz und Arroganz.

Der Rahil beginnt mit dem Versprechen der Offenbarung eines großen Geheimnisses. Zuerst geht aber die Enthüllung der Wahrheit des Geschehens vor. Sie wird die Heuchelei des Systems bloßlegen, mit den angekündigten Folgen.

Das Schicksal der Gefolterten erklärt der Dichterbote als Kampf von Gut gegen Böse. Das Gedicht verwendet überwiegend keine besonderen Metaphern, Licht und Finsternis oder Nacht und Geheimnis, der Himmel, der Osten, das Universum liegen nahe am Sprachgebrauch. Der Gesang des Dichterboten lebt vom erhabenen Ton und der Intensität seiner Worte.

                   IV

           Ihr da, steht auf und hinterfragt das Geschehen.
           Werdet ihr euch dem Bösen und der Unterdrückung
                   widersetzen?

Nun unterbricht der Dichterbote seine Verkündung durch eine längere Einlage. Als erstes wendet er sich an die Welt und fordert von den Zuhörern, eine Entscheidung zu treffen.

                   V

           Brüder, ertragt die Last der schweren Fesseln,
           lasst euch nicht durch ihre bösen Pläne verwirren.
         
           (...)       
                   VI

           Die Sehnsucht meines Bruders umfasst die ganze Welt,
           seine Gedanken bevölkern das Universum.

           (...)

Strophe IV und V wurden oben im Kapitel 3 („Träume und Erinnerung“) bereits zitiert. Darin drückt der Dichter seinen Mitgefangenen Mitleid aus und beschwört sie, die schwere Prüfung zu ertragen.

                    VII
          
           Seht nur, das Antlitz des Universums ist dunkel,
           als bedeckte ein Vorhang seine Lichter.
         
           (...)
         
           Habt um Gottes Willen Geduld und haltet durch.
           Wartet auf Gottes Verheißung für die Rechtschaffenden.           

                   VII
          
           Bricht die Wolke im Osten auf,
           jubelt das Antlitz der Erde.
        
           Die Traurigkeit, die ihn erstickt, vergeht,
           seine Gedanken wenden sich dem Allmächtigen zu.
          
           Er hebt seine Hand gen Himmel und ruft:
           "O Gott, du bist der beste aller Nachbarn."
          
           Wenn Finsternis ihm droht, schreit er:
           "Geh weg! Schlaf nicht in meiner Nähe."

In hymnischen Worten ruft der Dichterbote das Universum zum Zeugen auf. Wieder beschwört er die Standhaften, Drohungen und Verlockungen der Folterer zurückzuweisen.

                   IX

           Ich bin der Gefährte der Nacht.
          
           Ich bin derjenige, der nicht zuließ, im eigenen Land
                   gedemütigt zu werden,
           der keine Ruhe fand.
         
           Ich bin derjenige, der die Last auf den Schultern trug,
           der sich weigerte, einen Pakt zu schließen.
          
           O Nacht, ich bin ein helles Licht,
           das du nicht verdunkeln wirst.

Bevor er zur eigentlichen Verkündung kommt, legitimiert der Dichterbote sich als der, welcher die Würde bewahrte und den Verführungen und dem Leiden widerstand.

Im Hikam, nach der Enthüllung der Wahrheit über das Geschehen, kommt es in der letzten Strophe des Gedichtes zur Verkündung des versprochenen Geheimnisses. Doch zuvor noch beschwört der Dichterbote die heilbringende Macht der Wahrheit, die seinen Worten innewohnt.

                   X

           O Nacht, mein Lied wird dem Leben seine Süße wieder-
                  bringen:
           die Vögel werden wieder auf den Bäumen zwitschern,
          
           der Brunnen der Traurigkeit wird sich leeren,
           die Quelle des Glücks überfließen
          
           und in jedem Winkel der Erde wird der Islam verbreitet
                   sein.
           "Allahu Akbar, Allahu Akbar", Gott ist groß.
          
           Sie begreifen es nicht:
           alles, was wir brauchen, ist Gott, unser Trost.

Schließlich, im letzten Vers, offenbart der Dichterbote das Geheimnis aller Geheimnisse. Es befähigt den Gläubigen, Leid zu überstehen, und den Dichterboten, die versehrte Welt wieder mit Leben zu erfüllen. Das Geheimnis aller Geheimnisse - bleibt ein Geheimnis; - für den Ungläubigen, der es nicht begreifen kann, während es dem Gläubigen so klar vor den Augen liegt wie die Frucht auf der Hand: er findet es in der Shukr: alles, was wir brauchen, ist Gott, unser Trost.



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V   A n g e n o m m e n e   S c h u l d
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1 Ausnahmezustand (state of exception)

Bei den Terroranschlägen im Jahr 2001 wurden fast drei Tausend Menschen getötet. Im selben Jahr wurden in den USA beinahe vier Mal so viele durch Feuerwaffen ermordet (durch Selbstmorde und Polizei starben noch mehr) und über vierzig Mal so viele Menschen starben im Straßenverkehr. Die Anschläge aber trafen Amerika in seinem Selbstverständnis. Im anschließen-den war on terror starben weltweit mehr als 360 Tausend Zivilisten, ca. 900 Tausend Menschen insgesamt, und Millionen wurden bis heute zu Flüchtlingen.

Die Größe dieser Verletzung entspringt dem Selbstverständnis Amerikas. Seit seinem Bestehen befand es sich im Spannungsfeld widerstreitender Kräfte, dem Anspruch auf Gerechtigkeit und Freiheit stand die sie begleitende Gewalttätigkeit und Ungleichheit gegenüber. Dieser Widerspruch wurde zuletzt alttestamentarisch begründet, wo Gerechtigkeitsanspruch und Gewalt mit göttlicher Führung einhergehen. Von den ersten nach religiöser Freiheit suchenden Siedlern mit ihrer Gewalt gegen die Eingeborenen, über die Sklaverei und den Krieg der Nordstaaten gegen den Süden, der unterschwellig nicht wirklich aufgehört hat, ist die amerikanische Identität durchdrungen von einem Auserwähltsein und Missionsbewusstsein. Dazu gehört ein Nimbus der Unverletzbarkeit. Der durchschnittliche US-Amerikaner kann sich vorstellen, in der Welt Rückschläge zu erleiden, aber nicht zu Hause, in Gottes eigenem Land attackiert zu werden. Wie das protestantische Selbstverständnis Wohlstand als Zeichen des Auserwähltseins versteht, versteht der weiße US-Amerikaner seine Unverletzbarkeit als Zeichen göttlicher Führung. Die Verletzungen von 9/11 stellten im gewissen Sinne diesen Status in Frage. Der Verlust am Nimbus als unbesiegbare Macht lässt sich nicht einfach durch eine Reparatur des Schadens und simplen Sieg über die Täter beseitigen.

In antiken Zeiten rief der Herrscher den Ausnahmezustand des Krieges aus. Er brachte Gefangene und führte sie dem eigenen Volk und der Welt vor. In Paraden wurden sie gedemütigt, gefoltert und getötet, den Göttern geopfert, endeten in Sklaverei. Sieg und Inszenierung stellten das Ansehen des Herrschers wieder her und bewiesen, auf wessen Seite die Götter stehen, und was eventuelle Nachahmer erwartet. Unter den Gefangenen befanden sich nicht nur Krieger, sondern auch andere Mitglieder ihrer Gruppe und nützliche Fremde. Ihre angenommene Schuld war tatsächliche Schuld, durch die Bestimmung des Herrschers, der als Souverän sie zu nacktem Leben verwandelte; ohne Rechte, auch nicht dem, sich auf Beweise oder Gerechtigkeit zu berufen.

Der Umgang der US-Regierung mit den Gefangenen trug Merkmale eines Opferrituals. Im Camp X-Ray wurden sie der Welt vorgeführt: in Zwingern oder als Strecke; von Wächtern angehoben und getragen, auf Bahren, knieend, kauernd, sitzend: Orange herausgestellt, an Füßen und Händen in Ketten, blind und taub durch Gesichtsmaske und Ohrenklappen, der Kopf samt stummem Mund mit schwarzem Band umwickelt. Und als Bruchzeichen steckte man den hilflosen Körpern eine US-Flagge an.15

Der Souverän unterstellte allen Verhafteten eine Mitschuld an 9/11, und kraft dieser Annahme wurde in der Öffentlichkeit die Schuld zur tatsächlichen Schuld. Als Gefangene wurden sie zu einem nackten Leben ohne Recht auf Beweise und Verfahren degradiert. Auch die Welt bestätigte, durch Stillschweigen, die Schuld der Gefangenen. Die Amerikaner hofften, dass die Schuldanerkennung der Gefangenen als „enemy combatants“ die Bedrohung ihres amerikanischen Selbstbildnisses abwenden würde. Mit anderen Lesern und Dichterkritikern war sich auch Robert Pinsky, ohne Genaueres zu wissen, sicher, dass es neben Unschuldigen in Guantánamo "auch eine Reihe von Menschen gab, die ungeheuer schuldig an vielen Dingen sind".16


2 Undefinierte Gefangenschaft

Die Zeit selbst war eine Folter. Ohne Anklage und Verhandlung hatten die Gefangenen in der sich unbestimmt ausdehnenden Zeit ihr Gedächtnis durchforstet, jede Erinnerung abgewogen und zu ihrer Schuld gefunden - sie waren Muslime. Sie haben diese Schuld angenommen. Sie war das einzige, was die Männer aus verschiedenen Ländern, verschiedenen Alters, Standes und Berufes gemeinsam hatten. Es war außerdem etwas, das sie aus ihrer Geschichte und in ihrem Wertesystem als Grund für Haft und Folter kannten. Der Dichterbote hatte es gedeutet, ihr Schicksal war kein Zufall, sondern Teil eines göttlichen Plans. Dieser Krieg war ein Glaubenskrieg und ihre angenommene Schuld machte sie zu Stellvertretern aller Muslime. Sie waren Auserwählte.

           Ustad Badruzzaman Badr: Löwen im Käfig
          
           Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen (...)
          
           Wir sind die Helden dieser Zeit.
           Wir sind die stolze Jugend.
           Wir sind die Löwen mit prächtiger Mähne.
          
           Wir leben in den Geschichten von heute.
           Wir leben in den Heldenepen.
           Wir leben in den Herzen der Menschen.
          
           Wir sind der Schild gegen den Unterdrücker.
           Wie ein Berg ist unser Mut.
           Unruhe erfasst den Pharao unserer Zeit wegen uns.11
          
Die Gefangenen setzten dem täglichen Ritual des US-Militärs ihr eigenes Gebetsritual entgegen. Sie knieten zum Gebet nieder, bewegten gemeinsam den Kopf, den Körper in der vorgeschriebenen Weise, um wieder Kontrolle über ihn zu erlangen und zu sich zu finden. Damit lösten sie in den Anfängen Panik unter den Wachen aus. Alarm wurde gegeben, armierte Wachen in Mannschaftsstärke warfen sich auf schmächtige junge Männer; die Wachen schlugen hysterisch auf die Gitter und Zäune und schrien: no! ... fuck! ... no, no! ... Die gefangenen Männer fragten einander: Warum haben sie so viel Angst vor uns? Scheinbar hielten die Wachen das Gebet für eine Art einsetzende Kampfhandlung. Worauf hatte man sie vorbereitet? – Darauf, dass sie waren, wie sie Donald Rumsfeld beschrieben hatte: "die gefährlichsten, besttrainiertesten, teuflischsten Mörder der Erde". Später beschränkte sich das Militärpersonal darauf, zu jedem Gebet die US-Nationalhymne aus den Lautsprechern abzuspielen und den Adhan nachzuäffen oder verzerrt wiederzugeben. Die Gefangenen brachten Opfer im Kampf für ihren Glauben. Das kollektive Leid verstanden sie als Botschaft an alle Muslime, die Folter auf sich zu nehmen, als Akt der Fürsorge. Abdurraheem Dosts Gedicht Sie können gar nicht anders führt es aus.

           Shaikh Abdurraheem Muslim Dost: Sie können gar nicht anders
       
           Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen (...)

           Die Fürsorglichen
           können gar nicht anders, als für andere Opfer zu bringen.
         
           Sie können gar nicht anders, als der Gefahr zu trotzen,
           wenn sie wahrhaftig bleiben wollen.
          
           Im Angesicht von Unrecht, Verlogenheit und Gräueltaten
           können sie gar nicht anders, als sich der Macht der
                   Verräter und der Verrufenen zu beugen.11           


3 Krieg gegen den Terrorismus (global war on terrorism)

Das Lager auf der Insel ist ein Ort permanenten Ausnahmezustands. Es ist eine ständige Warnung an die Welt. Jedes US-Militärschiff, jedes Botschaftsgebäude, selbst auf gemietetem Grund, ist US-Hoheitsgebiet, auf dem amerikanisches Recht gilt. Auf Guantánamo nicht. Guantánamo besitzt Zweigstellen in Gefängnissen anderer Länder und übt globalen Einfluss aus. Sebastian Köthe bezeichnet es als Folterdispositiv und meint damit einen "räumlich technischen Zusammenhang" von Foltermaßnahmen, die sich "nicht mehr auf einzelne Handlungen beziehen lassen".17 Menschen in islamischen Ländern berichten von der Angst, wenn sie auf dem Markt ein Summen hören, wenn die Augen aller schnell den Himmel nach einer Drohne absuchen und die Leute in Panik in Deckung suchen. Ibrahim al Rubaish, Autor der Ode an die See, wurde zusammen mit anderen in einem Drohnenangriff getötet, nachdem er nach der Entlassung aus Guantánamo charismatischer Prediger der al Qaida geworden war.18

Repräsentanten einer Gemeinschaft ohne Beweise zu foltern und gedemütigt in Käfigen auszustellen, dient der Abschreckung der übrigen Gemeinschaft, - das aber entspricht der klassischen Definition von Terror. Darin besteht der große Sieg der Terroristen, dass sie die Großmacht zu terrorähnlichen Handlungen gebracht haben. al Qaida, als unbestimmter Gegner, hat der Großmacht eine kalkulierte Prüfungsaufgabe gestellt, und Amerika hat diese Erwartungen übererfüllt, die Zahl der Terroristen ist gewachsen, und die islamische Gesellschaft ist gespalten.

Die Anschläge von 9/11 kränkten das Selbstverständnis einer Gesellschaft, durch die ein alter Riss ging, welcher im ungelösten Problem von Gewalt und Ungleichheit seit der Landnahme gründet. Die Spaltung der Meinungen über Moral trat besonders im Wahlkampf Donald Trumps zutage, den einer seiner Parteigenossen entsetzt als Mussolinisierung Amerikas bezeichnete, und kulminierte im Sturm auf das Capitol.

*

4 Kampf der Identitäten

Für die Regierung Bush war das Feindbild des enemy combatants eine Möglichkeit, diesen schmerzhaften Prozess einer Klärung hinauszuschieben. Der Feind war die Projektionsfläche des Bösen, dem gegenüber das alte Amerika sich weiterhin als die gute Macht sehen konnte. Es sollte den Status der Auserwähltheit und Unverwundbarkeit restaurieren: und das Außerkraftsetzen der Menschenrechte und die Folter nachträglich rechtfertigen. Den Kampf des enemy combatants mit dem poetischen Ich in den Gedichten - die Wut der prügelnden Wachen, das Foltern und die ganze zornige Geschäftigkeit des Militärpersonals - können aus dieser Dringlichkeit heraus verstanden werden, als ein Flehen um die Schuldanerkennung der Inhaftierten als enemy combatants.

Doch diesen Gefallen konnten die Gefangenen ihren Kerkermeistern nicht tun. Sie wussten, dass sie nach formalem Recht unschuldig waren. Die Kapitulation vor der amerikanischen Sichtweise der Wahrheit wäre die Anerkennung einer Autorität, die über den universalen humanitären Werten steht und damit letztlich die Anerkennung eines religiösen Primats der US-Amerikaner. Bewusst oder intuitiv wussten die Muslime, dass dieser Krieg ein Glaubenskrieg war zwischen zwei religiös autorisierten Identitäten. Denn sie selbst gehören einer Religion an, deren Scharia sich über den westlichen humanitären Werten stehend fühlt. Deswegen verraten sie uns auch nicht alles über ihre tatsächliche Einstellung.


5 Die Dichter

Die Dichtenden kontrollieren Auftreten und Erscheinungsbild und geben der Welt so viel zu erkennen, wie für die jeweilige Situation notwendig ist. Die Gedichte zeigen nicht das Innerstes der Person, ihre Verletzlichkeit, ihre Zweifel. Wir erfahren trotz Intimität nie wirklich, wer der Mensch hinter den Gedichten ist. Sie verbergen Gedanken und Gefühle in ihren Herzen. In der vierten Strophe der Wahrheit hat der Dichterbote seine Zuhörer aufgefordert, aufzustehen und das Geschehen zu hinterfragen, die Antwort gibt er im nächsten Vers selbst.

           Nein, nie werdet ihr euch mit bloßen Worten begnügen.
           Ihr glaubt, allein das Schwert kann richten.

Die Schreibenden sind sich der Zuhörerschaft bewusst. Im allgemeinen Sinne sind alle Guantánamo-Dichtenden politische Subjekte, von der Relevanz her ist es nur der Dichterbote in seiner traditionellen Rolle. Das hat zur Konsequenz, dass wir den Dichterboten nicht für schuldlos halten können in der gleichen Weise wie ein biographisches oder lyrisches Ich. Leugnet man die ästhetische Qualität der Gedichte, so reduziert man alle drei poetischen Sprecher zu bloßen gefolterten Körpern, – beim Dichterboten erreicht man etwas Gleiches schon durch die Leugnung seiner Schuldfähigkeit.

Die angenommene Schuldfähigkeit des Dichterboten ist Voraussetzung für die Wahrnehmung seiner ästhetisch formulierten, religiös-politischen Botschaft mit ihren unabsehbaren Ver-strickungen. Flagg Miller sieht sogar eine besondere Beziehung der Gedichte aus Guantánamo zu Qasida-Hymnen aus Palästina, weil "etwa dreißig Prozent der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen die Erfahrung israelischer Gefängnisse gemacht haben".19 Martin Mubanga erwähnt in Terroris 2003 Nablus und Dschenin; Abdurraheem Dost, der nach Entlassung aus Guantánamo für den Islamischen Staat Kämpfer rekrutiert hatte, verbindet gern Poesie mit klaren Worten.

           Shaikh Abdurraheem Muslim Dost: Fragment 2
       
           Überleg doch, was einen Mann dazu bringen könnte,
           sich selbst zu töten oder einen anderen.
         
           Erfordert Unterdrückung nicht
           eine Reaktion gegen den Unterdücker?
         
           Natürlich werden Menschen in Zeiten der Not
           erfinderisch und kreativ.


6 Rezeption

Regierung und Militär

Die große Gefahr, die von den Gedichten aus Guantánamo ausgeht, besteht hauptsächlich für den enemy combatant. In ihren Versen zeigen sich die Gefangenen als leidende, mitfühlende und schöpferisch sich der Gewalt widersetzende Wesen. Die Gedichte wirken der Depersona-lisierunsstrategie21 der US-Regierung entgegen und lassen den enemy combatant wie eine Attrappe des Bösen aussehen, die auf ihre Erzeuger verweist. Regierung und Militär teilen mit patriotischen Lesern die Meinung, die Gedichte besäßen keinerlei ästhetischen Wert: Terroristen könnten keine Gedichte schreiben. Sie teilen mit Intellektuellen die Meinung, die Gedichte besäßen ästhetische Figuren: diese können geheime Botschaften enthalten. Das überraschende Interesse beim Militär für formale Elemente wie Klang, Rhythmus oder Assonanzen kommt nicht von ungefähr: die SERE selbst foltert in ihren Ausbildungsprogrammen die US-Militär-angehörigen auch mit Gedichten über Lautsprecher.20


Patriotische Humanisten

Patrioten, Intellektuelle, Kritiker und Dichter wie Dan Chiasson, Maxine Kumin und Robert Pinsky lehnen jegliche ästhetische Qualität der Gedichte ab. Die Gefangenen sind keine Dichter; nur Dichter können Gedichte schreiben, existentielle Erfahrungen reichen dafür nicht aus. Dichter, wie sie selbst, können es hingegen auch mit angeeigneter Erfahrung. Maxine Kumin verurteilt in ihrem Gedicht das Folterpersonal aus der Haltung des guten Amerikaners; Robert Pinsky reiht im Gedicht aus unverbundenen Teilen Guantánamo in die Geschichte der Folterungen als Begleiterscheinung der Kulturausbreitung ein, Teil menschlichen Wesens, nichts spezifisch amerikanisch.22

Zu sagen, die Gedichte besäßen keine ästhetische Qualität und dann Guantánamo-Gedichte selber zu machen, heißt den Opfern die Deutung ihrer Erfahrung aus den Händen zu nehmen und selbst zu bestimmen, was sich ereignet hat. Zu sagen, die Gefangenen seien keine Dichter, heißt ihnen jene religiös-politische Rolle abzusprechen, welche die Dichterkritiker im Dienste ihrer religiös-politischen Identität ausschließlich für sich und Amerika reserviert haben wollen.

Für die Patrioten sind die Gefolterten leidende menschliche Körper, denen ihr aufrichtiges Mitgefühl gilt, mehr nicht. Die Texte der Gefangenen sind nur Zeugnisse biographischer Personen vom erlittenen Unrecht. Der besorgte patriotische Rezipient akzeptiert die Schuld von Regierungsverantwortlichen, um eine größere abzuwenden. Maxine Kumin sucht die Schuldigen unter den Folterern, Robert Pinsky sogar im menschlichen Wesen, aber keiner in tieferen Schichten amerikanischer Identität.


Systemkritische Intellektuelle

Judith Butler betrachtet nach 9/11 Identität mit Begriffen von Grenze (boundary), stellt einen Zusammenhang zum Verbund unter Menschen und fokussiert ihre Aufmerksamkeit auf den Körper. Der Körper existiert in einer Ausgesetztheit und Nähe zu anderen Körpern, die einerseits die Bedingung der Erfüllung unseres Verlangens ist, andererseits die Möglichkeit der Unter-werfung und Grausamkeit mit sich bringt.

Doch wenn dieser prekäre Zustand zur Bedingung des Leidens werden kann, so dient er auch als Bedingung der Reaktionsfähigkeit, einer Affektbildung verstanden als radikaler Deutungsakt angesichts ungewollter Unterwerfung. (...) Die Bildung dieser Wörter ist mit dem Überleben verbunden, mit der Fähigkeit zu überleben oder der Überlebensfähigkeit. (...) Als Netzwerk gezielter Affekte sind die Gedichte – ihr Schreiben und ihre Verbreitung – kritische Akte des Widerstands, rebellische Interpretationen, aufrührerische Akte, die auf irgendeine unglaubliche Weise die Gewalt, der sie sich widersetzen, überleben, auch wenn wir noch nicht wissen, auf welche Weise diese Leben es überstehen werden.23

Weil Judith Butler auf den Körper blickt, betrachtet sie die ästhetischer Praxis - die Texte, das Schreiben der Texte, die Verbreitung der Texte - als Netzwerk gerichteter Affektimpulse; folglich kann Sami al Haj im Gedicht Gedemütigt in Fesseln auch seine Fragen - Wie kann ich da Verse dichten? Wie mich ausdrücken?  Wie kann ich Gedichte schreiben ? - und sich selbst nicht verstehen:

Die Zeile stellt also dar, was al Haj nicht verstehen kann. Er schreibt das Gedicht, aber das Gedicht kann nicht mehr tun, als nur den Zustand seiner eigenen Möglichkeit offen zu hinterfragen. Wie formt ein gefolterter Körper solche Worte? al Haj fragt auch, wie es sein kann, dass Poesie aus einem gequälten Körper entstehen kann und wie die Worte entstehen und überleben. Seine Worte bewegen sich vom Zustand der Folter, einem Zustand des Zwanges, zur Sprache.23

Im Anklang an strukturalistische Tradition erkundet das Gedicht als Zeichensystem seine eigenen Möglichkeiten. Mit Flagg Miller und anderen erkennt auch Erin Trapp, der dieser Essay viel zu verdanken hat, in den Gedichten neben der menschlichen Stimme auch eine nichtmenschliche, etwa im Vogelgezwitscher. Trapp thematisiert als eine der wenigen die Innerlichkeit (subjectivity) der Gefangenen und fragt danach, welche Kraft die Dichtenden zum Rückzug treibt. Sie findet als Ursprung eine Schuld und sucht den Kontext zu Adornos Terminus Schuldzusammenhang24. Demnach besteht die Schuld der Dichter darin, dass sie die Heuchelei der Freiheit enthüllen. Oder etwas ausführlicher interpretiert: der Dichtende fühlt in sich die Schuld, die prinzipielle Unfähigkeit des Menschen enthüllt zu haben, den universalen humanitären Werten Geltung zu verschaffen.


7 Ausklang

Die Gedichte der Gefangenen von Guantánao sind Produkte einer ästhetischen Praxis, die selbst Ausdruck von Sabr und Shukr ist, einer jahrhundertealten Tradition von Standhaftigkeit im Glauben und Vertrauen in Gott. Sie enthalten die Einflüsse aus vorislamischer Zeit, der persischen Liebeslyrik, der Tradition der Sufis und der religiös-politischen Tradition. Sabr und Shukr sind zwei Namen für die dialektische Kraft, welche Innerlichkeit und Äußerlichkeit verbindet, und natürlich enthält und lenkt sie auch die Kräfte des Überlebens von Körper und Identität. Unter den Bedingungen der Folter war die ästhetische Praxis ihr wirksamstes Betätigungsfeld. Das primäre Schlachtfeld war der Körper.

Der Körper steht im sichtbaren Bereich aller streitenden Parteien, doch sie betrachten ihn aus verschiedenen Perspektiven und gebrauchen ihn mit unterschiedlichen Intentionen. Für die US-Regierung war der Körper des Gefangenen ein greifbares Objekt, um den Terrorismus zur Schau zu stellen. Für die humanistischen Patrioten sind die Verletzungen dieses Körpers die eigentlich Schuld der Regierenden. Für die Postmodernen ist der ausgesetzte Körper sowohl Bedingung der Erfüllung von Verlangen als auch der Verletzbarkeit und des Widerstandes. Die Bedeutung des Körpers für die Dichtenden erklären die Gefangenen mit dem Symbol, das sie auf Wände schrieben oder den Boden malten und in Plastikbecher ritzten, und das Abdurraheem Muslim Dost mit klaren Worten zeichnet:

           So, wie das Herz in der Dunkelheit des Körpers schlägt,
           bin ich - trotz dieses Käfigs - voller Leben.
          
           Die keinen Mut und keine Ehre haben, denken, sie sind
                   frei, dabei sind sie Sklaven.
          
           Ich fliege auf den Schwingen der Gedanken
           und erfahre so - selbst in diesem Käfig - eine größere
                   Freiheit.

Es ist wichtig zu bemerken, dass es in den Gedichten keinen Kampf um humanitäre Werte gibt. Trotz unvereinbarer Widersprüche zwischen westlichen Menschenrechten und der islamischen Sharia sind die grundlegenden Rechte, um die es hier geht, beiden gemeinsam, und prominente Entlassene kämpfen noch heute für sie. Sogar ein Ibrahim al Rubaish, als er vor seinen Richtern stand, fragte zurück: "In der Welt der internationalen Gerichte ist eine Person unschuldig, bis ihre Schuld erwiesen ist. Warum ist hier eine Person schuldig, bis ihre Unschuld bewiesen ist?"3 Genauso wenig kritisieren die Dichtenden die prinzipielle Befähigung des Menschen, die universalen Menschenrechte zu verwirklichen - keine Zeile richtet sich gegen diese oder die wankelmütige menschliche Natur per se. Wohl aber gegen die westliche Fundierung der gemeinsamen Werte, deren Schwäche durch die Schwäche ihrer Vertreter sichtbar wird. Die universalen humanitären Werte des passiven Westens sind grundlos und die ihres mächtigsten Vertreters auf Heuchelei gebaut, sagt der Dichterbote.


N a c h w o r t

Eine Diskussion dieser Gedichte ist ein Diskurs über Kunst, und vieles mehr. Sie sind Zeugnis der Tyrannei: der von Terroristen und jener der Großmächte. Sie bezeugen, dass Kunst ein unabdingbarer Teil des Menschseins ist im Umgang mit sich selbst und der Welt. Mit anderen systemkritischen Intellektuellen sagt Erin Trapp, dass die Gedichte Werke sind, die Folter als finales Stadium der Dialektik von Kultur und Barbarei nach 9/11 durchdenken. Ich möchte hinzufügen, dass die Dichtung der Gefangenen von Guantánamo ein Beitrag zum Diskurs über die Körperlichkeit des Menschen nach der Postmoderne ist. Schließlich geht es bei den Gedichten letztlich nicht um sie selber, sondern um den Kampf für Moral und Demokratie. Kampfes der Demokratie um ihre Zukunft - eines Kampfes heute, in dem die Lüge eine Gleichstellung mit der Wahrheit zu erringen versucht; was in einer Beliebigkeit münden muss, in der nur noch Gewalt entscheidet.


München, Juni 2023


Fußnoten
1
https://www.poetryfoundation.org/harriet-books/2006/02/journal-day-one-56d34c6ad5795
2
https://digitalcommons.law.seattleu.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1528&context=sjs
3
https://uipress.uiowa.edu/books/poems-guantanamo
4
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/gedichte-aus-guantanamo.html?lid=1
5
https://www.andyworthington.co.uk/2007/10/03/poetry-and-politics-at-guantanamo-an-interview-with-marc-falkoff-editor-of-poems-from-guantanamo-the-detainees-speak/
6
https://www.nytimes.com/2007/08/19/books/review/Chiasson-t.html
7
https://www.nytimes.com/2007/09/02/books/review/Letters-t-1.html
8
https://www.andyworthington.co.uk/2007/10/03/poetry-and-politics-at-guantanamo-an-interview-with-marc-falkoff-editor-of-poems-from-guantanamo-the-detainees-speak/
9
https://maxinekumin.com/political-poems/
10
https://archive.nytimes.com/thelede.blogs.nytimes.com/2007/06/20/ex-poet-laureate-on-guantanamo-poetry/
11
https://www.matthes-seitz-berlin.de/fs/addons/Leseproben/msb_koethe_guantanamo_leseprobe.pdf
12
Bekanntheit als Folterinstrument der SERE und auf Guantánamo erlangte der Song /Let The Bodies Hit The Floor/ und die endlos in Schleife laufende /Meow Mix Theme/.
https://www.youtube.com/results?search_query=Let+the+bodies+hit+the+floor
https://www.youtube.com/results?search_query=Meow+Mix+Theme
13
Joint interrogation facility auf Guantánamo.
14
https://www.andyworthington.co.uk/2007/page/7/
15
view-source:https://static01.nyt.com/newsgraphics/2022/04/20/gitmo-foia/296bc67c2e38172e06579c67a87799ffff917a22/images/df-sd-03-18227.jpg
16
https://www.youtube.com/watch?v=ccP1332HFdk
17
Interview mit Sebastian Köthe
https://download.deutschlandfunk.de/file/dradio/2022/11/01/ gedichte_aus_guantanamo_poetischer_widerstand_zum_ersten_mal_drk_202 21101_1007_cd43ce29.mp3
18
https://www.aljazeera.com/news/2015/4/15/senior-al-qaeda-leader-in-yemen-killed-in-us-strike
19
https://religions.ucdavis.edu/sites/g/files/dgvnsk7896/files/inline-files/miller_guantanamo.pdf
20
Bekanntheit als Folterinstrument der SERE erlangte das Gedicht
/Boots/.
Das Gedicht:https://www.youtube.com/watch?v=zSFpUE9NL7g
Der Text: https://www.youtube.com/watch?v=rx8nVKeA1JA
21
Sebastian Köthe beschreibt in seinem Nachwort die Geschichte des Guantánamo-Lagers, beginnend mit der Sklaverei und den haitianischen Gefangenen, und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, die medizinisch-wissenschaftlichen Depersonalisierungsstrategeien der US-Militärs seien eine Fortführung der Künste der haitianischen Zombie-Meister.
22
https://www.poetryfoundation.org/poetrymagazine/poems/48075/poem-of-disconnected-parts
23
Judith Butler: Frames of war. Survivability, Vulnerability, Affect. Übers. v. I.J. Dvorecky
24
https://www.pomoculture.org/2013/06/17/the-enemy-combatant-as-poet-the-politics-of-writing-in-poems-from-guantanamo/


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Einige empfehlenswerte Links
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Lyrik

Deutschlandfunk: Lyrik-Gespräch: Guantanamo-Gedichte ...
Michael Braun und Beate Tröger
https://www.deutschlandfunk.de/lyrik-gespraech-guantanamo-gedichte-lina-atfah-grabtuch-aus-schmetterlingen-dlf-24c7dce9-100.html

SWR: Sebastian Köthe: Gedichte aus Guantánamo
https://www.swr.de/swr2/literatur/bestenliste/sebastian-koethe-gedichte-aus-guantanamo-100.html


Musik und Poesie als Folter und Waffe

"It is music’s capacity to take over your mind and invade your inner experience that makes it so terrifying," Thomas Keenan, director of the Human Rights Project at Bard College, told Al Jazeera.
Songs of War - Guantánamo - Let the bodies hit the floor
https://www.aljazeera.com/program/al-jazeera-world/2012/5/30/songs-of-war

"Strap on an explosive belt"
https://www.youtube.com/watch?v=RCAZG0BmF0U
https://www.theguardian.com/books/2015/dec/29/poetry-used-as-a-perfect-weapon-for-recruiting-violent-jihadis-study-finds


Kunst der Gefangenen

Humanizing the Silenced and Maligned
https://www.andyworthington.co.uk/2020/02/22/humanizing-the-silenced-and-maligned-guantanamo-prisoner-art-at-cuny-law-school-in-new-york/

Art from Guantanamo
https://www.artfromguantanamo.com/khalid-qasim-1


Religiöses

Der Adhan
https://www.youtube.com/watch?v=SvpXkenfn8E

Mozzam Begg
https://www.youtube.com/watch?v=sqz59L-x-jM


Dokumentationen

Mansoor Adayifi im Gespräch mit Sebastian Köthe
https://avenue.jetzt/kunst-neu-denken/mansoor/

Sebastian Köthe - Bezeugen
https://wissenderkuenste.de/wp-content/uploads/2021/05/bezeugen_sebastian_koethe.mp3

Guantanamo Limbo: In der Hölle des Vergessens
https://www.arte.tv/de/videos/058165-000-A/guantanamo-limbo-in-der-hoelle-des-vergessens/

Slahi und seine Folterer
https://www.ardmediathek.de/video/doku-und-reportage/slahi-und-seine-folterer/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS9lZmU3MzMxYi04ODc2LTQ2NmMtYTg3ZC04ZmJhNWE1MDMyMjA

Slahi – 14 Jahre Guantanamo - 12 Folgen
https://www.ardaudiothek.de/sendung/slahi-14-jahre-guantanamo/92249100/

Medizinwissenschaft
https://www.theguardian.com/us-news/2020/jan/20/guantanamo-psychologists-cia-torture-program-testify


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