Guantanamo Teil 1
Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Gefangene bei ihrer Ankunft in der Guantanamo Bay Naval Base im Januar 2002
Foto: Wikipedia
Ivor Joseph Dvorecky
Gedichte aus Guantanamo
Teil A
V o r w o r t
Jemand drückte mir diese Gedichte
in die Hand, "Das musst du lesen, die sind gut". Ich wunderte mich,
waren es doch einfache Gedichte, kaum gute Poesie zu nennen, von Menschen, die
unter schrecklichen Bedingungen ihrem Leiden Ausdruck gegeben hatten. Ein
aufmerksames Lesen aber machte klar: Eine Diskussion dieser Gedichte ist ein
Diskurs über Kunst. Das ganze Gespenst einer Diskussion über literatur
engagé bis l´art pour l´art zeichnete sich ab, ich war nicht
begeistert. Später konnte ich erfahren, dass auch bekannte Dichter und Kritiker
dieser Unlust erlegen sind.
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I
Die Gefangenen sprechen
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1
Einleitung
"Die Idee einen Band mit
Häftlingsgedichten zu veröffentlichen", schreibt der Rechtsprofessor Marc
D. Falkoff, der auch in Amerikanischer Literatur promovierte und jemenitische
Gefangene in Guantánamo vertrat, "kam mir, während ich einen Gedichtband
las, den ein US Infanteriekommandant während seines Einsatzes im Irakkrieg
geschrieben hatte." Ihn beeindruckte der ästhetische Raum, den Brian
Turner mit dem Gedicht Im Zielfernrohr1 schuf und "in dem
Empathie gedeihen konnte und in dem Wissen, Angst und Verlangen geteilt werden
konnten".2
Bei ihrer Erstveröffentlichung
wurden die Poems from Guantánamo: The Detainees Speak3 zum
Bestseller, später wurden sie in viele Sprachen übersetzt. Die Deutsche Ausgabe
der Gedichte aus Guantánamo erschien 2022 im Matthes & Seitz Verlag4.
Das Band beinhaltet das erste Mal die Übersetzung aller zweiundzwanzig Gedichte
aus dem Englischen und Arabischen, und zusätzlich als umfangreiches Nachwort
einen Essay des Herausgebers Sebastian Köthe, welcher auf seiner
Dissertationsschrift Guantánamo basiert.
2
Rezeption
Nach dem Erscheinen der Gedichte im
August 2007 entbrannte ein heftiger Diskurs, der die Leser in drei Hauptlager
spaltete und es bis heute tut. Einerseits die patriotisch-militärische Gruppe,
welche die Publikation als Verrat am nationalen Kampf gegen den Terrorismus
nach 9/11 ansieht. Dann jene große Leserschaft von ebenfalls patriotischen
Humanisten, die sich zwar mit den Gefangenen solidarisieren, aber den Gedichten
einen ästhetischen Wert absprechen und sie nur als Zeugnis des Leids und der
Verschuldung der Regierung sehen. Schließlich eine Gruppe von
gesellschaftskritischen Intellektuellen, welche das Anerkennen der ästhetischen
Dimension zur Voraussetzung machen, um in den Gedichten ein politisches Subjekt
auszumachen. Für die letzten beiden sind die Gedichte Teil des Diskurses um
Menschenrechte.
Es fällt auf, dass sich unter
jenen, die den Gedichten keinen künstlerischen Wert zusprechen, viele
professionelle Poeten befinden, während die Gegenmeinung von Postmodernen,
Strukturalisten oder Feministen vertreten wird. Interessanterweise befürchtete
auch das Militär, dass sich in ästhetischen Mitteln wie Klang, Metrum oder
Assoziationen verschlüsselte Botschaften verbergen könnten, so dass sie die
Veröffentlichung erst nach mehrfacher Übersetzung und Zensur freigegeben
hatten. Offensichtlich regulieren die verschiedenen Auffassungen von Kunst den
Zugang zu den Gedichten, wobei diese Auffassungen selbst von tieferen Motiven
bestimmt werden. Daraus erwachsen konkrete Fragen: Wie sind die Texte zu lesen,
wie authentisch sind übersetzte Texte und wie zensurierte, wie ist Schreiben
unter den Bedingungen der Folter möglich? und einige weitere.
3
Die Kritiker
Noch vor der Veröffentlichung der
Gedichte erklärte der Pressechef des Pentagon, Commander Jeffrey Gordon,
"dass Poesie ein 'Werkzeug' sei, welches die Häftlinge im 'Kampf' gegen
die westlichen Demokratien einsetzten"5. Der New York Times
Dichter und Kritiker Dan Chiasson stellt fest, dass einige der Gedichte von
"erfahrenen Schreibenden" stammen, doch zugleich schließt er ein ästhetisches
Urteil aus: "Es fällt schwer sich einen Leser vorzustellen, der so
hartherzig wäre, ein ästhetisches Urteil über ein Buch zu treffen, das von
Männern im Gefängnis geschrieben wurde, und zwar ohne rechtliche Handhabe,
viele in Einzelhaft, mehrere wahrscheinlich Praktiken ausgesetzt, die von
unparteiischer Seite als Folter bezeichnet worden ist. Man liest dieses Buch
nicht zum Vergnügen; man liest es als Beweis.“6 Dan Chiasson
konstatiert: "Alles in allem ist das Lesen der Poems from Guantánamo
eine bizarre Erfahrung" - und das, um im Nachfolgenden dem Leser die
bizarre Erfahrung einer Kritik zu vermitteln, die zugleich ästhetisch urteilt
und von ausgesuchter Hartherzigkeit ist.
Sami
al Haj: Gedemütigt in Fesseln
Als
ich gepeinigte Tauben in den Sträuchern gurren hörte,
liefen
heiße Tränen über mein Gesicht.
Als
die Lerche zwitscherte, erinnerte ich mich
an
meinen Sohn und seine Spiele.
"Heiße Tränen" sind ein
häufiges Bild im Nasib der islamischen Dichtung, genauso die Vogelstimme als
Bild für den gefangenen Dichter. Dan Chiasson meint hierüber: "Wenn Sami
al Haj (...) schreibt heiße Tränen
bedeckten mein Gesicht, so klingt er wie ein jugendlicher Reimer (teenage
sonneteer), und nicht Opfer von fast unvorstellbarer physischer Grausamkeit.
Dies sind die unglücklichen Folgen einer poetischen Bildsprache, welche, von
außerordentlichen Ausnahmen abgesehen, einen dort abstumpfen lassen, wo sie zu
sensibilisieren vorgeben und Dinge dort verwischen, wo sie versprechen,
aufmerksam zu machen."
Maxine Kumin, US Poet Laureate und
Pulitzer Price-Gewinnerin, preist in einem offenen Brief in der New York
Times "Dan Chiasson für seine unverblümte, intelligente Rezension der Poems
From Guantánamo und staunt über die Naivität der University of Iowa
Press sowie Marc Falkoffs, zu glauben, sie hätten mit der Veröffentlichung
der Gedichte der Öffentlichkeit einen Dienst erwiesen.7 Sie lehnt einen
künstlerischen Wert der Gedichte ab und schreibt selbst ein Gedicht, mit dem
sie nach Marc Falkoff zu sagen scheint: "Überlasst Poesie über Guantánamo
mir."8 In dem unnötigen Gedicht What You Do9
verstellt sie die Gefangenen und schreibt im Stil der Confessional Poetry ein
Gedicht, das sich in Ermangelung eigener Erfahrung, sowie der Aufmerksamkeit
der Folterer, mit sich selbst beschäftigt.
Der US Poet Laureate 1997-2000,
Robert Pinsky, zeigt sich von den Gedichten berührt. Zwar hat er "keine
irgendwie herausragenden oder wunderbaren Gedichte gefunden", "keinen
Mandelstam entdeckt", nur Gedichte von Amateuren," die in erster
Linie keine Bewunderung oder Sympathie verdienen". Doch er sieht den
Missbrauch der Menschenrechte und glaubt, dass es für uns dringlich ist, den
Gedichten gegenüber aufmerksam zu sein.10 Zudem hält er es, ohne überheblich
sein zu wollen, für möglich, etwas daran nicht zu verstehen, wohl weil die
Gedichte in arabischer Tradition verfasst seien. Aus Pflichtgefühl und
Verunsicherung steuerte er der Buchausgabe einen Klappentext bei, ohne sich
eingehender mit den Gedichten zu beschäftigen.
4 Kampf der Identitäten
Der Charakter der öffentlichen
Auseinandersetzung lässt Abwehrreaktionen vermuten und ihre Heftigkeit darauf
schließen, dass gegeneinander kämpfende Standpunkte im Spiel sind. Man kann im
Kontext dieses Streits fünf ausmachen:
Die amerikanische Gesellschaft in ihrer Selbstwahr-nehmung, wie sie von der
US-Regierung repräsentiert wird; die biographische Person des Gefangenen; das
Bild des enemy combatant, des feindlichen Kämpfers, als das die
Regierung den Gefangenen in der Öffentlichkeit vorstellt; das lyrische Ich in
den Gedichten der Gefangenen; und schließlich der Rezipient, der für eine der diversen
Gruppen von Lesern steht, deren drei wir bereits kennengelernt haben: die
zensierenden Militärs der US-Regierung, die humanistischen Dichter und
Kritiker, die systemkritischen Intellektuellen.
Alle diese Identitäten stehen in
einem Spannungsfeld zueinander. Es stellt sich die Frage nach dem Verursacher,
von dem das bewegende Moment ausgeht. Es findet sich in der US-Selbstwahrnehmung,
dem verletzten Image der amerikanischen Gesellschaft. Der eigentliche Kampf
ereignet sich zwischen der US-Regierung mit ihrem enemy combatant auf
der einen Seite, und der Einzelperson mit ihrem lyrischen Ich auf der anderen.
Das Ziel der Folterer ist die Depersonalisierung, der Wille des Gefangenen soll
gebrochen werden, und er soll die Rolle des feindlichen Kämpfers annehmen. Die
Waffe der Militärs ist mannigfaltige Folter - die wirksamste der Gefangenen die
ästhetische Praxis. Daraus erwächst die Möglichkeit eines Zugangs zum
Verständnis der Gedichte: Indem man dem Hervortreten des poetischen Ichs folgt,
womit sich auch seine Rolle sowie die verwendeten ästhetischen Mittel ändern.
Sie sind eine Spur des Widerstandes im Kampf um die Bewahrung der eigenen
Identität.
Obwohl keine scharfe Abgrenzung
möglich ist, da die Rolle des poetischen Sprechers beweglich bleibt, lassen
sich für die Texte drei Stimmen unterscheiden: die des biographischen Ichs mit
seinem Zeugnis; die eines lyrischen Ichs als Ausdruck ästhetischer
Überlebenspraxis; die eines Sprechers als religiös-politische Autorität.
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II
D a s Z e u g n i s d e s
b i o g r a p h i s c h e n I c
h s
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Das biographische Ich verwendet als
poetischer Sprecher elementare ästhetische Mittel, ein eigenständiges lyrisches
Ich tritt kaum hervor. Das Bewusstsein ist extravertiert, das Gedicht richtet
sich an die ganze Welt. Die zentralen Anliegen des Sprechers sind persönliches
Zeugnis und Anklage.
1
Lebensereignis
El Gharanis Gedicht, das er als
erst Vierzehnjähriger schrieb, ist das einfachste des Bandes. Fast nur Schilderung
von Begebenheiten, entbehrt es nicht einer dem Inhalt geschuldete Poesie.
Gharani erzählt einen unerhörten Vorfall in Reim und Vers im arabischen
Original. Von sympathischer Direktheit ist seine fast naive Empörung über den
Verstoß gegen orientalische Tugenden von Gastfreundschaft und Schutz, seinen
Verkauf an die US Militärs durch pakistanische Streitkräfte.
Mohammed
el Gharani: Das erste Gedicht meines Lebens
Beweg
dich vorsichtig im Land der Nichtaraber,
auch
wenn sie dir Schutz über Schutz versprechen.
Den
Dollar beten diese Hurensöhne an
und
dafür brechen sie ihre Versprechen.
Bin
in ihr Land gekommen, um zu lernen,
doch
ich traf dort auf nichts als ihre Bosheit.
(...)
Wir
liefen sechzehn Stunden lang,
die
ganze Zeit in diesen Fesseln,
und
als wir uns erleichtern wollten,
ließen
sie uns einfach weiterlaufen.
Dann
trat uns ein Soldat mit seinem Stiefel;
wir
hätten zu gehorchen, sagten sie,
verteilten
uns auf ihre dunklen Kerker
und
ließen uns in bitterer Kälte sitzen.
Die
ungläubigen Bleichgesichter kamen, uns zu kaufen,
so
etwas Schlimmes hatte ich noch nie erlebt.
2
Ruf an die Welt
Das Gedicht von Shaker Aamer
spricht im gebrochenen Rhythmus, mit beschleunigtem Atem, den man zwischen den
Zeilen hört. Ein herausforderndes Frage-Antwort-Spiel.
Shaker
Abdurraheem Aamer: Sie kämpfen für den Frieden
Sie
sagen: Frieden.
Seelenfrieden?
Weltfrieden?
Welcher
Frieden?
Ich
seh sie reden, streiten, kämpfen -
welchen
Frieden suchen sie?
Warum
töten sie? Was ist ihr Plan?
Ist
es nur Gerede? Warum streiten Sie?
Ist
es so leicht zu töten? Ist das ihr Plan?
Ja,
was den sonst!
Sie
reden, sie streiten, sie töten -
Sie
kämpfen für den Frieden.11
Shaker Aamer fragt nicht seine
Peiniger, sondern die Welt. Er zeichnet das Bild der US-amerikanischen
Regierung als einer Macht, die sich im höheren Auftrag glaubt und nach Plan
tötet. In Aamers Versen verbirgt sich die Frage nach dem Selbstverständnis
dieser Gesellschaft, die sich über universale humanitäre Werte hinwegsetzt,
welche sie selbst zu verteidigen vorgibt. Shaker Aamer benötigt keine
besonderen Metaphern oder Argumente - ein Satz ist wichtig für seine Glaubwürdigkeit:
Ich seh sie (...)
Wie sie reden, streiten, kämpfen
ist niemals Salaam, der wahre Friede, und so ist Amerikas Berufung auf
göttliche Autorität eine Heuchelei. Mit der Inhaftierung des ganzen Körpers ist
der Kerkermeister im Besitz des Gefangenen, und er sucht zu verhindern, dass
dieser ihm entflieht. Adnan Latif richtet seinen verzweifelten Ruf an die
westliche Welt mit ihren universalen humanitären Werten.
Adnan
Farhan Abdul Latif: Hungerstreikgedicht
Sie
sind Verbrecher und begehen immer mehr Verbrechen.
Sie
sind Verbrecher und behaupten, sie lieben den Frieden.
Sie
sind Verbrecher und foltern Hungerstreikende.
Sie
sind Folterkünstler,
Künstler
von Schmerz und Erschöpfung,
Künstler
im Beleidigen und Erniedrigen.
(...)
Wo
ist die Welt, um uns zu retten vor der Folter?
Wo
ist die Welt, um uns zu retten vor dem Feuer und der Trauer?
Wo
ist die Welt, um die Hungerstreikenden zu retten?
Seine Rufe blieben unerhört. Nach zehn Jahren und sieben Monaten auf Guantánamo, nach Hungerstreiks und
Selbstmordversuchen, gelang Adnan Latif, der niemals angeklagt wurde, die endgültige
Flucht: Suizid.
In Osama Kabirs sehnsuchtsvollem
Gedicht unterbricht das biographische Ich die lyrische Stimmung und wendet sich
direkt an die amerikanische Justiz.
Osama
Abu Kabir: Ist es wahr?
Aber
hören Sie mich, Euer Ehren, hören Sie mich
überhaupt?
Wir
sind unschuldig hier, haben kein Verbrechen begangen.
Lassen
Sie mich frei, lassen Sie uns frei, wenn es denn
irgendwo
auf dieser Welt noch Gerechtigkeit und Mit-
gefühl gibt!
3
Widerstand
Zu den Foltermethoden in
Guantánamo, die an den für Stunden am Boden angeketteten Häftlingen angewandt
wurden, gehörte endlos dröhnende Rockmusik12 in schmerzhafter
Lautstärke, begleitet von blitzenden Lichtern. Die Folterungen sollten keine
sichtbaren Spuren hinterlassen (wohl bleibende Schäden). Musik wurde als eine
Methode der Isolation benutzt, die zum Realitäts- und Selbstverlust führen
sollte (40 bis 50 Gefangene sollte in Guantánamo den Verstand verloren haben).
Die Praktiken entstammen zum großen Teil der SERE, einem Ausbildungsprogramm
der US-Streitkräfte, worin Militärangehörige in der Geiselrolle auf
Gefangenschaft und Folter vorbereitet werden. Es gehört zu den skurrilen
Vorstellungen, dass das US-Militär annimmt, Russen oder Chinesen würden ihre
Gefangenen mit amerikanischer Hard Rock Musik und Disco-Stroboskopen foltern.
"Als Shaker Aamer durch
anhaltende laute Musik gefoltert wurde, versuchte er sich den akustischen
Angriff durch ein Mitsingen zu eigen zu machen.
(...) und hat Ahmed Zuhair noch auf dem Zwangsernährungsstuhl Locked
Up des Hip-Hoppers Akon gesungen."4 Martin Mubanga setzt der
unerträglichen Lautstärke und dem depersonalisierenden Zwang seine eigene
rhythmische Struktur und die Provokation entgegen.
Mubanga:
Terrorist 2003
Amerika
ist Scheiße, Amerika chillt,
wenn
Muslimblut vergossen wird, bis es überquillt,
auf
den Straßen von Nablus, auf den Straßen von Dschenin,
yeahhhhhhh!
So wahr ich hier bin.
USA-Gangsta,
USA-Lüge,
in
Downtown LA brennen Reifen und Züge.
Nach
Rodney King war alles am Brennen,
yeahhhhhhh!
Es sind verlogene Scheißmemmen.
US-Gerechtigkeit,
US-Schweine,
US-Soldat,
US-Jurist, US-Geldscheine.
Ja,
ich bin sauer, ja, ich bin angepisst.
Allerhöchste
Zeit, dass einer die JIF13 disst.
Wie Gharani schreibt Mubanga ein
Lebenszeugnis, aber er ist auf Konfrontation aus. Er bezeugt seine
Glaubwürdigkeit durch Biographie - und wir glauben ihm. Als Staatsbürger von Sambia
und Großbritannien, dichtet er auf Englisch und verwendet ostentativ schwarzen
Rap. Nicht gefahrlos verhöhnt er die Versuche seiner Ermittler, ihn zum Verrat
anzustiften.
Jetzt
fragen sie mich allen Ernstes, willst du für uns
schaffen geh’n?
Ich
muss mir auf die Zunge beißen, dass sie mich nicht
lachen seh’n.
Dumme
Mutter-F-dings, lieber würd ich Eiter lecken,
als
mich zu verkaufen an die, die Allahs Zorn erwecken.
Zum Abschied nimmt er das Feindbild
des enemy combatants seinen Peinigern aus den Händen und unter eigener
Kontrolle an; beiläufig erklärt er, dass es jedem von uns so ergehen kann.
Ich
bring euch diese Lyrics von Guantánamo B,
fresh
aus meiner Zelle hier unten an der See,
für
Hardcore-Häftlinge wie dich und mich,
Terrorist
2003 angeblich, ja, das bin ich!
Doch nicht ohne ihnen vorher gesagt
zu haben, was sie von weiteren Versuchen, ihn zur Mitarbeit zu überreden, zu
erwarten haben.
Heut
bin ich Muslim, al hamdulillahu, also knall´ich diese
Scheißtür ein für alle Mal zu.
Auch in der gelungenen deutschen
Übersetzung ist der kraftvolle Rhythmus Teil des Spiels von Angriff und
Verstellung. Ausgerechnet das einzige Gedicht, das in der amerikanischen
Ausgabe ohne Übersetzung gedruckt werden konnte, kann Professor Dan Chiasson
nur als einen Psychotrick der US-Regierung begreifen: "Das Gedicht, das in
einem absurden ersatz-gangsta-patois geschrieben ist, besitzt exakt null
literarische Bedeutung, - was also bleibt dem Leser anderes übrig, als eine
List der Regierung anzunehmen, die es zur Veröffentlichung freigegeben
hat?"6
Othman Mohammands Mittel sind
subtiler und indirekter. Er bittet uns, ihm nicht die Schuld zu geben, indem er
seine Unfähigkeit thematisiert, die Pflichten des Gläubigen auszuüben, verweist
er auf denjenigen, der ihn an der Ausübung des universalen Guten hindert.
Zuletzt fordert er uns auf, seinem Beispiel zu folgen und standhaft zu bleiben
bis in den Tod.
Othman
Abdulraheem Mohammad: Es tut mir leid, mein Bruder
Es
tut mir leid, mein Bruder.
Ketten
fesseln mir die Hände
und
Eisen fasst meinen Schlafplatz ein.
Es
tut mir leid, mein Bruder,
ich
kann den Alten nicht helfen, nicht der Witwe oder
dem kleinen Kind.
Zähl
den Tod eines Mannes nicht als Zeichen des Scheiterns.
Eine
Schmach ist nur, wenn du deine Ideale verrätst
und
nicht bei deinen Überzeugungen bleibst.
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III
D i e ä s t h e t i s c h e P r a x i s d e s l y r i s c h e n I c h s
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Die biographische Stimme verebbt
auch in den weiteren Gedichten nicht, tritt aber in den Hintergrund oder nur an
bestimmten Stellen in Erscheinung. Das biographische Ich steht nicht mehr im
Zentrum des Blickfelds. Die Stimme des poetischen Sprechers bewegt sich
zwischen biographischem und lyrischem Ich, sie beachtet Umgebung und Situation,
wendet sich der Gemeinschaft zu und nach innen. Die Empfindungen sind
verfeinert, die Sprache metaphorischer, die ästhetische Praxis schafft eigenen
Raum und eigene Zeit.
1
Der Einzelne und die Gemeinschaft
Überall
in diesem Getöse schweben Trugbilder
Aus ihren Heimatländern oder auf
Reise entführt, wurden die Gefangenen an einen Ort verbracht, wo sie aus dem
Leben genommen wurden. Auf einer Insel, durch die Weite des Meeres vom Rest der
Welt getrennt, in einem Käfig aus Eisen eingesperrt, war das Lager wie ein Ort
in der Unterwelt. Die Einengung des Raumes und die Ausdehnung der Zeit waren
selbst Folter-instrumente.
Osama
Abu Kabir: Ist es wahr?
Ist
es wahr, dass nach dem Regen das Gras wieder wächst?
Ist
es wahr, dass die Blumen im Frühling wieder blühen?
Ist
es wahr, dass Vögel immer wieder nach Hause ziehen?
Ist
es wahr, dass Lachse gegen den Strom schwimmen?
Es
ist wahr. Das alles ist wahr. Es sind Wunder.
Aber
ist es auch wahr, dass wir Guantánamo Bay eines
Tages
verlassen werden?
Osama Kabir beschreibt einen
unvorstellbaren Ort, wo selbst elementare Erfahrungen nicht mehr gemacht werden
können. Gleichzeitig korrespondiert die Absurdität der Frage, ob Gras nach dem
Regen wieder wächst, mit der Größe des das Verständnis übersteigenden Unrechts.
Die jeweils letzte Zeile beider Strophen drückt eine Unsicherheit aus, Lachse
kommen in arabischen Flüssen nicht vor.
Trotz Hitze und Kälte und Insekten
wurden die Männer draußen in Käfigen gehalten, von der Umwelt abgetrennt durch
Zeltplanen und Lärm. Einmal rissen die Planen nachts im Sturm und am Morgen
standen die Männer entzückt, erstmals das schimmernde Meer sehend, bis die
Planen wieder errichtet wurden. Von Beginn an zielte die Folter darauf ab, das
Selbstwertgefühl der Männer zu zerstören.
Die Gefangenen sollten aufhören, Väter,
Söhne, Muslime zu sein – Männer und jene werden, die der amerikanischen
Öffentlichkeit als "die Schlimmsten der Schlimmen" wurden, als jene,
die Flugzeugkabel durchbeißen können. Den stundenlang am Bodenring
angeketteten, in demütigenden Positionen der Unterwerfung kauernden Männern,
spricht Abdurraheem Dost in einen Plastikbecher eingeritzten Mut zu, der die Runde
machte.
Shaikh
Abdurraheem Muslim Dost: Bechergedicht 2
Handschellen
sind etwas für tapfere junge Männer,
Armreifen
für alte Jungfern oder hübsche junge Damen.
Manche kritischen Intellektuellen
fragen bei Abdurraheem Dosts Bechergedicht nach der Geschlechterrolle der Gefangenen. (Ich
fände es interessanter, das der US-Regierung zu hinter-fragen – alle Gefangenen
auf Guantánamo waren Männer; oder anders: welche
Körper eignen sich zur Folter, nur männliche?) In knieende Stellung
gezwungen, verhöhnte das Militärpersonal zugleich die Gebetshaltung der
Muslime. Religiosität, das Band, das die Vielvölker-Gemeinschaft zusammenhielt,
war damit im besonderen Augenmerk der Folterer. Die Männer wurden am Gebet
gehindert, der Adhan wurde verzerrt aus den Lautsprechern wiedergegeben, das
heilige Buch wurde geschändet. Doch Abdullah al Anazi, humanitärer Helfer in
Afghanistan, der im US-Bombardement beide Beine verlor14, bekennt
öffentlich:
Abdullah
Thani Faris al Anazi: An meinen Vater
Bei
Gott, selbst wenn sie meinen Körper in Ketten legten,
selbst
wenn alle Araber ihren Glauben verkauften, ich
würde nicht von meinem lassen.11
Die Zeit selbst ist eine Folter.
Ohne Anklage und Verhandlung wird der Gefangene in der sich auf unbestimmte
Weise ausdehnenden Zeit sein Gedächtnis durchforsten, jede Erinnerung abwägen
und seine Schuld schon finden. Das Prinzip der grundlosen Gefangenschaft ist
nicht neu. Der Gefangene erfährt das Wirken einer totalen Macht. Er begreift,
körperlich, dass Gerechtigkeit ihn nicht schützen kann. Ohnmächtig erkennt er,
dass nur zählt, was die Macht von ihm verlangt. Schlussendlich wird er, mit
Unterstützung der Kerkermeister, seine Schuld einsehen.
Hat der Gefangene seine schuldhafte
Identität als enemy combatant eingesehen, wird er zum Mitarbeiter der
Folterer. Er dient ihnen dazu, die Gemeinschaft der Häftlinge zu zersetzen;
später soll er dasselbe in seiner Heimat tun. So viele Gedichte beschwören
deswegen Sabr, die Geduld oder Standhaftigkeit. Emad Hassan warnt seine Brüder.
Emad
Abdullah Hassan: Die Wahrheit, Strophe V
Brüder,
ertragt die Last der schweren Fesseln,
lasst
euch nicht durch ihre bösen Pläne verwirren.
Überall
in diesem Getöse schweben Trugbilder,
Stricke
sind fest an die Wand geknüpft
und
anstelle einer Braut bringen sie euch Abend für
Abend
Verzweiflung
und Schwermut.
Ihr
habt keinen anderen Gefährten als die Nacht,
um
das bittere Schicksal zu beklagen.
Ihr
habt keinen anderen Kameraden als die Nacht,
um
euere Traurigkeit zu teilen.
Von Beginn an widersetzten sich die
Gefangenen auf vielfältige Weise der Folter. Der wichtigste Teil des
Widerstands bestand in der ästhetischen Praxis. Die Gefangenen suchten nach
minimalen, für die Lagerwärter kaum wahrnehmbaren Möglichkeiten, ihrer Umwelt
Spuren aufzudrücken und die Ohnmacht zu überwinden. Eine besondere Nähe zu den
Gedichten wiesen dabei der Gesang und die Einkerbungen in die Styroporbecher
auf, die im Umlauf waren. In einen der Becher ritzte Abdurraheem Dost ein
haikuähnliches Gedicht. Es mahnt an, Kontrolle über die durch Folter zersetzten
Sinne zu behalten und das Bewusstsein wach zu halten gegen ein sich Abfinden
mit der Lage.
Shaikh
Abdurraheem Muslim Dost: Bechergedicht 1
Was
ist das für ein Frühling,
in
dem es keine Blumen gibt
und
ein ekelhafter Geruch die Luft erfüllt.
2
Träume und Erinnerung
Wenn
Träume beginnen, hören Albträume auf
(Mozzam
Begg: Auf der Heimreise)
Noch lange nach der Ankunft mussten
die Gefangenen in bestimmten Haltungen ausharren und durften ihren Körper nicht
nach Wunsch bewegen. Selbst ihre Mimik wurde kontrolliert, sie durften nicht
lächeln oder weinen, keine Gefühle empfinden oder zum Ausdruck bringen vor
anderen, sie lebten unter ständiger Überwachung. Sogar ihre Notdurft mussten
sie unter den Augen der Aufseher und der übrigen Häftlinge verrichten.
Abdulla
Majid al Noami: Ich schreibe meine geheime Sehnsucht
Vor
mir liegt tosendes Meer;
das
Land ruft immerzu nach mir,
doch
ich segle nur in Gedanken.
Die
Gottlosen haben mich in meinem Haus ermordet.
Ich
wünschte jemand würde mich trösten;
nachts
schmecke ich Galle und kann nicht schlafen.
Die
Sehnsuchtstränen eines anderen tun mir weh;
mein
Brustkorb kann die Weite der Gefühle nicht halten.
Der Körper ist das Haus der Seele,
aber Intimbereiche gibt es keine mehr in diesem Haus. Das Ich aus der Zeit vor
der Gefangenschaft, das im Besitz seines Körpers war, ist nicht mehr da. Es ist
das lyrische Ich, das sein früheres Selbstbild betrauert. Der Körper steht an
der Grenze zwischen dem tosenden Meer, das sie nur hören, und ihrer
aufgewühlten Innenwelt. In Emad Hassans Gedicht folgt der poetische Beobachter
einem obdachlosen Ich, das zwischen Innen und Außen wandelt.
Emad
Abdullah Hassan: Die Wahrheit, Strophe VI
Die
Sehnsucht meines Bruders umfasst die ganze Welt,
seine
Gedanken bevölkern das Universum.
Er
schleicht aus seinem Schlummer: Ist noch jemand
wach?
Nein.
Da schießen ihm Tränen in die Augen.
Hinter
seinen Lidern rasselt ein Geräusch,
in
seiner Brust hallt ein Orkan.
Die Strophe beschreibt ein Drama,
während die Seele umherstreift, kann der arretierte Körper nicht folgen. Körper
und Seele werden von einer äußeren Gewalt daran gehindert, im Einklang zu
stehen.
Im Schutz des ästhetischen Raumes
erschafft der Dichtende seine eigene Ordnung von Raum und Zeit. Als lyrisches
Ich gewinnt er wieder seine Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Er übt eine
selbstbestimmte Aktivität aus, die ihm hilft, zu sich zu kommen und seine
Identität zu wahren.
Osama
Abu Kabir: Ist es wahr?
Ich
segle in meinen Träumen, träume von zu Hause.
Bei
meinen Kindern zu sein, denn jedes ist ein Teil von mir.
Bei
meiner Frau zu sein und bei den Menschen, die ich liebe.
Bei
meinen Eltern zu sein, den zärtlichsten Herzen in meiner Welt.
Ich
träume davon, daheim zu sein, befreit aus diesem Käfig.
Das dichtende Ich hat die Aufgabe,
die Verbindung zum früheren Leben nicht abreißen zu lassen. Die Zeit der
Gefangenschaft besteht für die Betroffenen fast immer aus Vergangenheiten, sie
malen sich keine Zukunft aus. Ihre Phantasie ist nicht evasiv, sie neigt zur
Rückkehr und hat konkrete und moralische Festigkeit. Wenn das lyrische Ich mit
geliebten Menschen spricht, bittet es um Unterstützung gegen eine Auslöschung
seiner Identität.
Abdulla
Majid al Noami: Ich schreibe meine geheime Sehnsucht
Und
wenn du an den Dingen des Alltags vorbeikommst -
den
Beduinenteppichen, den Reisigbündeln,
dem
Flug der Tauben -
dann
denk an mich.
Nicht nur bittet es, den Gefangenen
nicht zu vergessen, es fordert dazu auf, seine Abwesenheit sichtbar zu machen.
Die Verbliebenen sollen Fremde – die Welt – zu dem Platz hinführen, der leer
ist. Es ist dieser unausgefüllte Platz, auf den sich die Hoffnung des
Gefangenen auf Rückkehr stützt.
Abdullah
Thani Faris al Anazi: An meinen Vater
O
Flaji, erzähle denen, die unsere Heimat besuchen,
vom
Leben, dass ich früher führte.
Es gab für die Männer in
Eisenkäfigen kaum eine Erfahrung von physischer Freiheit. Vielleicht war die
einzige Weite, welche sie mit den Augen des Körpers sehen konnten, der Himmel;
und nachts darin die Sterne.
Ustad
Uzzaman Badr: Löwen im Käfig
In
diesem Käfig bringen zumeist
die
Sterne um Mitternacht
frohe
Botschaft -
dass
wir es ganz sicher schaffen werden
und
dass die Welt auf uns warten wird,
auf
Badrs Karawane.
Der Nachthimmel musste ein anderes
Meer gewesen sein, das zu Reisen einlud. Und der Gedanke musste ihnen auch
gekommen sein: dass dieselben Sterne auch die geliebten Menschen zu Hause
sahen. Es fällt auf, dass viele Gedichte die Form einer Erzählung aufweisen,
deren Urbild die Reise ist. Mozzam Beggs Gedicht Auf der Heimreise ragt
aus der Sammlung insofern heraus, als es moderner Poesie am nähsten kommt.
Mozzam
Begg: Auf der Heimreise
Ungezähmt
die Reise begonnen,
an
ihrem Ende wahllos gefangen genommen;
jetzt
liege ich wach in der Zelle auf einer Matte
bin
heiter und lächle - alles Atrappe.
Freiheit
ist alle, um ist die Zeit -
den
Kelch meiner Tränen haben Sorgen entzweit;
das
Heim ist jetzt Käfig, und Käfig ist Stahl,
so
zeigt sich das Reale als irreal.
Träume
zerborsten, Hoffnung zerschlagen,
lässt
sich die Lage auch anders vortragen!
Die
Ironie an all dem - Haft u.s.w.:
Gebrochen
und doch aufrechter denn je.
(...)
Noch
immer schreib ich aufs Papier und dann
kenn
ich zwar das Was, doch niemals das Wann -
wenn
Träume beginnen, hören Albträume auf -
wie
auf der Heimreise, wenn ich zu den Liebsten lauf.11
In der Übersetzung des Gedichts
erscheint moderne Subjektivität, Verlassenheit und Selbstironie, eine Thematisierung
des Schreibens. Es bleibt dennoch das Gedicht eines Gläubigen, dessen Äußeres
gebrochen zu sein scheint, der aber innerlich aufrechter ist denn je.
3
Körper und Seele
Schießt
Fotos von meinem Leichnam im Grab, einsam
Die Folterer wollten verhindern,
dass sich der Gefangene in innere Räume zurückzieht, sein Bewusstsein und
Körper sollten auch im Schlaf keine Erholung finden. Am Einschlafen durch
Wasserspritzer gehindert, bemerkte ein Gefangener einen schwarz Vermummten mit
Wasserflasche im Dunkel, einen von mehreren, die sich abwechselten. Der Körper
des Gefangenen sollte ein Behälter für Schmerzen sein, der für ihn keinen
Rückzugsort mehr zuließ. Er sollte erfahren, dass er keine Kontrolle mehr über
seinen Körper hatte, dass dieser nicht ihm gehörte, sondern dem Folterer.
Abdulla
Majid al Noami: Ich schreibe meine geheime Sehnsucht
Meine
Rippe ist gebrochen,
ich
finde keinen, der mich heilt.
Mein
Körper ist morsch,
keine
Linderung in Sicht.
(...)
Die
Gottlosen haben mich in meinem Haus ermordet.
Dem Gefangenen wird die Rückgabe
des Körpers in Aussicht gestellt, wenn er kooperiert. Wenn er die Identität als
enemy combatant akzeptiert und mitarbeitet. Drogen und Medikamente
wurden ebenfalls eingesetzt - die Medizin ist immer dabei: selbst beim
Waterboarding, das den Gefangenen den Atem nehmen sollte, wurde der
Sauerstoffgehalt im Blut gemessen und überwacht. Die Folterer, in voller
Montur und mit Gummihandschuhen, drangen durch alle Öffnungen in den Körper
ein. Lärm und grelles Licht, sexuelle Demütigungen wie rektale Dehydrierung,
schmerzhafte Zwangsernährung, rektal und durch Nasenlöcher – mit
Nahrungsmengen, die der Körper nicht bewältigen konnte, und indem man den
Gefangenen in seinen Fäkalien im Ekel liegen ließ. Das vorletzte Stück
Selbstkontrolle, als Weigerung, war für den Gefolterten der Hungerstreik, auch
um den Preis einer möglichen Opferung seines Körpers.
Jumah
al Dossari: Todesgedicht
Nehmt
mein Blut.
Nehmt
mein Grabtuch und
die
Überreste meines Körpers.
Schießt
Fotos von meinem Leichnam im Grab, einsam.
Schickt
sie in die Welt,
an
die Richter und
an
die Aufrechten,
schickt
sie an die Geradlinigen und Gerechten.
Lasst
sie die Schuld der Welt tragen, vor der Welt,
gegen
diese unschuldige Seele.
Lasst
sie die Bürde tragen, vor ihren Kindern und der
Geschichte,
die
Bürde dieser verschwendeten, sündlosen Seele,
dieser
Seele, die leiden musste durch die Hände der
"Beschützer
des Friedens".11
Dossaris lyrisches Zeugnis veräußert
seinen geschundenen Körper an die Welt, als Anklage der Folterer und dieser
Welt für ihre Untätigkeit. Viele Gedichte der gefolterten Muslime haben eine
für den westlichen Leser verstörende Ähnlichkeit mit Motiven christlicher
Martyrien, doch sie entbehren der abendländischen Ästhetik des Leidens. Bei
Jumah al Dossari indes erscheinen sie doch. Und er benutzt auch den Christen
vertraute Begriffe wie Blut, Grabtuch, Überreste des Körpers als Reliquie, den
Leichnam als Grab sowie die Schuld der Welt.
3
Ästhetische Praxis als Ausdruck von Sabr und Shukr
O
Krise, spitz dich zu!
Der Widerstand der Gefangenen, als
gemeinsame ästhetische Tätigkeit, erinnert an den Erweiterten Kunstbegriff,
besonders an die Idee der „Sozialen Plastik“ bei Beuys. Jedoch standen die Gefangenen
nicht der Moderne nahe, sondern schöpften aus einer alten Tradition. Weder ist
hier Inhalt eins mit der Form noch das Medium Botschaft. Im Gegenteil,
gleichviel ob sie die Zeichen auf Wände schrieben, in den Staub am Boden
zeichneten, in Plastikbecher mit Fingernägeln kratzten oder mit Gesang
ausdrückten, die überlieferten Bedeutungen waren ihnen bekannt und zielten auf
Übereinkunft ab. Eines dieser Zeichen war das Tughra Inayati, das
Geflügelte Herz der Sufis, das ein mystisches Symbol für die Freiheit der Seele
ist. Es kehrt in vielen Gedichten wieder.
Sabr, die Geduld, und Shukr, die
Dankbarkeit, sind die zwei Hauptpfeiler des Iman, des Glaubens an den Einen.
Islamgelehrte belehren uns, dass sich der Gebrauch des Wortes Sabr im Laufe der
Jahrhunderte verschoben habe, und dass man den berühmten Satz aus dem Koran
nicht mehr mit "die Geduldigen" sondern als "Allah ist mit den
Standhaften" übersetzen soll. Sabr bezeichnet damit eine aktive Haltung
des Widerstandes. Shukr, die Dankbarkeit des Herzens an Gott, ist eine Kraft
der Nähe, die im innigen Umgang mit dem Wort Gottes entsteht. Shukr liegt in
der Innerlichkeit, Sabr ist ihre Manifestation im Äußeren.
Sabr bedeutet auch, dass man die
Wahrheit ausspricht und die Folgen erträgt, wozu die Dankbarkeit, Shukr,
befähigt. In den beiden Gedichten von Abdulaziz treten sie, wie es einzig
möglich ist, gemeinsam auf. Sein Gedicht Ich will nicht klagen gilt der
Dankbarkeit und ist von Spiritualität erfüllt. Die Täter würdigt es keiner
Kritik, und von der Welt erwartet es sich nichts, es verlässt sich ganz auf den
Einen.
Abdulaziz:
Ich will nicht klagen
Ich
will nicht klagen noch mir Gnade versprechen,
von keinem außer Gott, also hilf mir,
Gott.
O
Herr, mein Herz ist von Kummer geplagt.
Ich
darf mich bei keinem als Dir beklagen, selbst
wenn die Meere vor Trockenheit klagen.
Mein
Geist schwebt frei in den Lüften, während
Ketten meinen Körper überwältigen.
Gelobt
sei Gott, der mir Geduld gewährt in Zeiten des
Leids und Dankbarkeit in Zeiten der
Freude.
Gelobt
sei Gott, der in mein Innerstes einen Garten
pflanzte und einen Hain, damit sie für
immer
bei mir bleiben.
Gelobt
sei Gott, der mir Glauben gab und mich als
Muslim erschuf.
Gelobt
sei Gott, der Herr der Welt.11
Dieses Gedicht gehört keinem
lyrischen Ich, sondern einem ganz konkreten, überpersönlichen. Es ist aus dem
Gefängnisdunkel ausgeschickt worden, um nach diesem Ich zu suchen und, wie
jedes Gebet, zur eigenen Stimme zu werden.
Ganz anders wird diese Stimme, wenn
sie von Shukr zu Sabr wechselt. Der Ton geht dann über vom Ich zum Wir, von
Bitte und Trost zur Festigkeit.
Abdulaziz:
O Gefängnisdunkel
O
Gefängnisdunkel, schlag dein Zelt auf.
Wir
lieben diese Dunkelheit.
Denn
nach den nächtlichen Stunden
bricht
der Morgen der Ehre an.
Lasst
die Welt verhallen mit all ihren Wonnen -
solange
wir nur Gottes Gnade finden.
Hat Shaker Aamer noch gefragt:
Ist
das nur Gerede? Warum streiten sie?
Ist
es so leicht zu töten? Ist das ihr Plan?
Antwortet der Chor aus dem
Gefängnisdunkel:
Angesichts
einer Widrigkeit mag ein Junge verzagen,
wir
aber wissen: Gott hat einen Plan.
Dunkelheit ist Tatsache und zugleich
Metapher, Durchgangstation zum Morgen der Wahrheit und der Ehre für die
Standhaften.
Und
wenn die Fesseln auch enger werden und nicht
zu brechen scheinen,
bersten
werden sie doch.
Wer
beharrlich ist, wird sein Ziel erreichen;
wer
weiter anklopft, der wird Einlass finden.
O
Krise, spitz dich zu!
Bald
schon bricht der Morgen an.11
Fußnoten
1
https://www.poetryfoundation.org/harriet-books/2006/02/journal-day-one-56d34c6ad5795
2
https://digitalcommons.law.seattleu.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1528&context=sjs
3
https://uipress.uiowa.edu/books/poems-guantanamo
4
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/gedichte-aus-guantanamo.html?lid=1
5
https://www.andyworthington.co.uk/2007/10/03/poetry-and-politics-at-guantanamo-an-interview-with-marc-falkoff-editor-of-poems-from-guantanamo-the-detainees-speak/
6
https://www.nytimes.com/2007/08/19/books/review/Chiasson-t.html
7
https://www.nytimes.com/2007/09/02/books/review/Letters-t-1.html
8
https://www.andyworthington.co.uk/2007/10/03/poetry-and-politics-at-guantanamo-an-interview-with-marc-falkoff-editor-of-poems-from-guantanamo-the-detainees-speak/
9
https://maxinekumin.com/political-poems/
10
https://archive.nytimes.com/thelede.blogs.nytimes.com/2007/06/20/ex-poet-laureate-on-guantanamo-poetry/
11
https://www.matthes-seitz-berlin.de/fs/addons/Leseproben/msb_koethe_guantanamo_leseprobe.pdf
12
Bekanntheit als Folterinstrument der SERE und auf Guantánamo erlangte der Song /Let The Bodies Hit The Floor/ und die endlos in Schleife laufende /Meow Mix Theme/.
https://www.youtube.com/results?search_query=Let+the+bodies+hit+the+floor
https://www.youtube.com/results?search_query=Meow+Mix+Theme
13
Joint interrogation facility auf Guantánamo.
14
https://www.andyworthington.co.uk/2007/page/7/
15
view-source:https://static01.nyt.com/newsgraphics/2022/04/20/gitmo-foia/296bc67c2e38172e06579c67a87799ffff917a22/images/df-sd-03-18227.jpg
16
https://www.youtube.com/watch?v=ccP1332HFdk
17
Interview mit Sebastian Köthe
https://download.deutschlandfunk.de/file/dradio/2022/11/01/ gedichte_aus_guantanamo_poetischer_widerstand_zum_ersten_mal_drk_202 21101_1007_cd43ce29.mp3
18
https://www.aljazeera.com/news/2015/4/15/senior-al-qaeda-leader-in-yemen-killed-in-us-strike
19
https://religions.ucdavis.edu/sites/g/files/dgvnsk7896/files/inline-files/miller_guantanamo.pdf
20
Bekanntheit als Folterinstrument der SERE erlangte das Gedicht
/Boots/.
Das Gedicht:https://www.youtube.com/watch?v=zSFpUE9NL7g
Der Text: https://www.youtube.com/watch?v=rx8nVKeA1JA
21
Sebastian Köthe beschreibt in seinem Nachwort die Geschichte des Guantánamo-Lagers, beginnend mit der Sklaverei und den haitianischen Gefangenen, und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, die medizinisch-wissenschaftlichen Depersonalisierungsstrategeien der US-Militärs seien eine Fortführung der Künste der haitianischen Zombie-Meister.
22
https://www.poetryfoundation.org/poetrymagazine/poems/48075/poem-of-disconnected-parts
23
Judith Butler: Frames of war. Survivability, Vulnerability, Affect. Übers. v. I.J. Dvorecky
24
https://www.pomoculture.org/2013/06/17/the-enemy-combatant-as-poet-the-politics-of-writing-in-poems-from-guantanamo/