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Felix Philipp Ingold: Postskript zu Paul Valéry

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Felix Philipp Ingold
Postskript zu Paul Valéry*


Bei einem kleinen Internet-Antiquariat in der zentralfranzösischen Provinz entdeckte und erwarb ich vor kurzem einen Band aus der faksimilierten Gesamtausgabe von Paul Valérys «Heften» (Cahiers), die ab 1957 bis 1961 in 29 Bänden vom Pariser Zentrum für wissenschaftliche Forschung, CNRS, zu Forschungszwecken ausgeliefert wurde. Die Ausgabe gilt seit langem als bibliophile Rarität und wird entsprechend hochpreisig gehandelt. Sie enthält das komplette Corpus von Valérys Notiz- und Konzeptheften aus dem Zeitraum zwischen 1894 und 1945 (seinem Todesjahr) in handschriftlicher Fassung, ergänzt durch zahlreiche Zeichnungen, Diagramme, Formeln und andere Extras, insgesamt mehr als 30'000 Seiten ohne irgendwelche herausgeberischen Behelfe wie Vorworte oder Kommentare, also – Urtext pur.
           Der mir nun vorliegende Band VIII vereinigt auf 914 Seiten die Hefte der Jahre 1921 und 1922. Somit deckt er genau die Zeit ab, zu der Paul Valéry, nun bereits fünfzigjährig, erstmals als freier Schriftsteller in Erscheinung trat, nachdem er zuvor unspektakulär als Staatsbeamter und bei Gelegenheit als Publizist gewirkt hatte. Doch diese neue Freiheit von beruflichen Pflichten änderte kaum etwas an der Methodik und Thematik seiner Schreibarbeit: Er veröffentlichte weiterhin eine Vielzahl von Essays, Kolumnen, Vorträgen und Dialogen, lauter Gelegenheits-arbeiten, alle jedoch mit einem Dreh ins Grundsätzliche, egal, womit er sich jeweils auseinandersetzte – sein intellektuelles Einzugsgebiet reichte von Mathematik, Physik und Medizin bis hin zur Bild- und Wortkunst, zu Tanz, Architektur und Politik. Auch als freier Autor hat Valéry nie eine Erzählung, einen Roman, ein Bühnenstück verfasst, und seine lyrische Produktion blieb – nach zwei früheren Dichtwerken – auf einen einzigen schmalen Poesieband beschränkt («Charmes», 1922).  


Die frühmorgendliche Arbeit an seinen Heften hat Paul Valéry zeitlebens nie aufgegeben, auch dann nicht, als er – seit den 1920er Jahren – rasch Berühmtheit erlangte und zu einem der führenden Intellektuellen Frankreichs avancierte, unentwegt publizierend, gefragt als Redner, vielfach mit höchsten Preisen und Würden geehrt, Mitglied der Académie française, Professor am staatlichen Collège de France: Schwer vorstellbar, wie Valéry seinen weitreichenden Ruhm und die damit verbundenen Verpflichtungen Tag für Tag abgegolten und nebenher noch Tausende von Briefen sowie regelmässig seine Aufzeichnungen verfasst hat.
           Ich selbst halte die 261 vollgeschriebenen Hefte für Valérys Hauptwerk und all seine übrigen Schriften für Schösslinge aus diesem vielschichtigen Nährboden. Manches findet sich hier entworfen oder gar vorformuliert, was später in seiner essayistischen Prosa wiederkehrt; die ganze Vielfalt seiner Interessen und Themen ist in diesen Heften ausgebreitet, oft sogar differenzierter und präziser als in den gedruckten Schriften.
           Die faksimilierten Aufzeichnungen führen 1 : 1 die winzige, dennoch leicht lesbare Handschrift des Autors vor Augen, deren wechselnde Dynamik seine wechselnden Stimmungs-lagen veranschaulicht. Korrekturen oder Durchstreichungen gibt es kaum, die einzelnen Abschnitte sind meistens durch grosse Leerstellen voneinander abgesetzt, die Seiten bleiben unnummeriert, verwendet wird durchgehend schwarze Tinte. Die Texte sind allesamt undatiert und ohne Titel. Inhaltlich umfassen sie alltägliche Trivia («ich muss zum Zahnarzt», «habe Hunger» usf.) ebenso wie mathematische Berechnungen oder philosophische und wissenschaft-liche Reflexionen; nur ausnahmsweise begegnen Entwürfe zu Gedichten.


Das Faszinosum der Lektüre besteht darin, dass die Aufzeichnungen in Valérys Heften völlig ungeordnet, thematisch und stilistisch disparat aufeinander folgen – ich lese einen Absatz über Schmerz, einen nächsten über Erinnerung, noch einen über Pflicht und weitere über körperliche Mobilität, über Mechanik, über Illusion usf. Der eine Absatz ist sprachlich brillant ausgearbeitet, der andere besteht vielleicht nur aus Stichwörtern oder einer Begriffsliste. Weil die Textfolge nicht abzusehen ist, sind die Lektüreerwartungen umso höher und das Lesen selbst wird umso spannender.
           Doch solch privilegierte Lektüre steht mir allein deshalb offen, weil ich als einer von ganz wenigen Interessenten das Faksimile von Valérys Handschrift zur Verfügung habe. Alle sonstigen Leser müssen auf die gängige zweibändige Edition der Hefte zurückgreifen («Cahiers», I-II, Paris 1973/1974; deutsch 2016), die das Textmaterial massiv kürzt und dekonstruiert, um es nach Themen – Traum, Eros, Homo, Ego, Bios, Aufmerksamkeit, Dichtung usf. – völlig neu zu ordnen, abgesehen davon, dass sie sämtliche Zeichnungen des Autors ausseracht lässt. Das mag die systematische Lektüre erleichtern, verunmöglicht aber den Nachvollzug von Valérys Denk- und Schreibbewegungen, die dem Zufall und gerade nicht einer vorgegebenen Ordnung folgen – der freien Improvisation und gerade nicht einem wie immer gearteten System.




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