Felix Philipp Ingold: Nie nicht Valéry!
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						Felix
						Philipp Ingold
						
						Nie nicht Valéry!
						
						Kaum ein andrer Autor der klassischen
						Moderne hat sich so erbarmungslos intelligent über Literatur ausgesprochen (und
						mehr als das – über Gott und die Welt) wie Paul Valéry. Nichts war ihm fremd,
						alles hat ihn interessiert, zu allem ist ihm Klügstes, Erhellendes eingefallen,
						zur Verslehre wie zur Chirurgie, zum Tanz, zum «europäischen Geist» oder zur
						Architektur. Festgehalten hat er seine Einsichten und Einfälle auf Tausenden
						von Seiten in seinen Arbeits-heften, in Aufsätzen oder Vorträgen, alles in
						unverkennbarem Stil: Diskurs durchwirkt mit erzählerischen und auch lyrischen
						Passagen.
						
						            Nie
						hat Valéry eine Monographie verfasst, auch keinen Roman; er bevorzugte es,
						seine Schriften verstreut zu publizieren und sie im Nachgang zu immer wieder
						neuen Konvoluten zu bündeln – es gibt von ihm Dutzende von Buchtiteln, aber
						kein Einzelwerk, das als solches geschrieben und veröffentlicht worden wäre;
						davon ausgenommen sind lediglich seine Poesiebände. 
						
						            Die
						von ihm (nebst der Poesie) bevorzugte Textsorte war der Essay, den er
						tatsächlich konsequent als Versuch praktizierte und auch jedes Mal als Experiment.
						Einen Grossteil seines essayistischen Werks hat er zwischen 1924 und 1934 in
						fünf Lieferungen unter dem Titel «Variété» (Vermischtes) bei Gallimard
						in Paris vorgelegt. Ob Versuch oder Experiment – Valérys aus der Zerstreuung
						gesammelte Schriften und Reden sind noch heute von unvermindertem, teilweise
						gar von höherem Interesse als zur Zeit ihrer Veröffentlichung: Der umsichtige
						Autor hat manches notiert, das damals nur in Ansätzen erkennbar gewesen ist,
						inzwischen jedoch volle Aktualität gewonnen hat, vorab die Frage nach der
						literarischen Autorschaft und deren doppelter Gefährdung durch technische, insbesondere
						mediale Neuerungen wie auch durch die merklich schwindende Kompetenz der Kritik
						und des Publikums.
						
						•
						
						Nach Valérys eigener Aussage handelt es
						sich bei seinen zahlreichen essayistischen Texten durchwegs um Gelegenheits-
						und Auftragsarbeiten, deren disparate Themen er als Stimulans für eigenes,
						eigenmächtiges Weiterdenken nutzte, und dies auch dann, wenn er sich – was er
						gern eingestand – als Laie dazu äusserte. Position und Perspektive des allseits
						interessierten Laien verhalfen ihm einerseits dazu, spitzfindiges
						Spezialistentum zu vermeiden und sich andrerseits als ein ingeniöser Generalist
						zu behaupten, der Allgemeinprobleme (siehe oben: Gott und Welt) wie auch
						Einzelphänomene gleichermassen vorurteilslos darzulegen wusste. 
						
						            Die
						zufällige Gelegenheit, der unerwartete Auftrag – beides war für Valéry zunächst
						eine Provokation, die von aussen an ihn gerichtet wurde, die von einem fremden
						Interesse bestimmt war und die ihn in vielen Fällen dazu zwang, sich
						kurzfristig in einen neuen Problemkreis einzuarbeiten und ausserdem bei der
						Niederschrift den verlangten Umfang zu berücksichtigen. Diese Anforderungen
						empfand er aber keineswegs als Einschränkung, sondern als produktive Prämisse
						für seine Denk- und Schreibarbeit: Wohl liess er sich die Themen diktieren,
						stellte sich der intellektuellen Herausforderung auf fremdem Terrain, nahm sich
						aber jederzeit die Freiheit, davon abzuweichen, weiterzudenken,
						weiterzuschreiben, um am Ende womöglich in einem ganz andern Themenbereich
						anzulangen als dem der Vorgabe. Statt auf diese einzugehen, ging er lieber
						davon aus, so dass ihm der Diskurs, egal worüber, gewöhnlich zu einem Exkurs
						geriet und eher mit einer Frage endete als mit einer gültigen Antwort oder gar
						einer verbindlichen Wahrheit. 
						
						            Man
						kann Valérys «vermischte» Schriften durchaus als ein Werk betrachten,
						und man wird dieses Werk für eins der umfassendsten, zugleich präzisesten und
						weitsichtigsten Zeugnisse der intellektuellen und künstlerischen Moderne halten
						dürfen. 
						
						•
						
						Um Paul Valérys essayistische Denk- und
						Schreibarbeit etwas genauer zu charakterisieren, ziehe ich hier als
						Musterbeispiel seinen «Brief über Mallarmé» (1928) heran, einen Text,
						der als Privatbrief, zugleich aber auch als Vorrede zu einem Buch von Jean
						Royère konzipiert war und der im selben Jahr überdies als bibliophiler
						Einzeldruck erschien. Mithin hat Valéry seinen Essay multifunktional in Umlauf
						gebracht – als Brief, als Vorwort, als Buch. Das bezeugt sein
						literaturbetriebliches Geschick und seinen Durchsetzungswillen als vielseitig engagierter
						Autor, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den zeitgenössischen
						Literaturbetrieb ebenso wie die damalige Vereinnahmung der Autorschaft durch
						Markt und Medien gerade in dem vorliegenden «Brief über Mallarmé» unmissverständlicher
						Kritik unterzieht.
						
						            Valérys
						Text weist über seinen aktuellen Anlass weit hinaus. Dabei geht er auf Royères
						Arbeit, die er ja eigentlich bevorworten sollte, gar nicht erst ein, und zu
						Mallarmé gibt er lediglich ein paar Reminiszenzen aus der Frühzeit seiner persönlichen
						Bekanntschaft mit dem Dichter zum besten. Tatsächlich aber nutzt er die
						Ungelegenheit des Schreibauftrags dafür, seinen komplexen, grossangelegten
						Essay auszuarbeiten zu einer umfassenden Bestandsaufnahme und
						Standorts-bestimmung zeitgenössischer Dichtung. Dies wiederum gerät ihm
						gleichermassen zu einer scharfsinnigen Zeit- und Kulturkritik, zu einer Analyse
						der damaligen «Geisteskrise» (crise de l’esprit) und ausserdem zu einer
						Abhandlung über poetologische Grundsatzfragen. Mallarmé und sein Werk liefern
						dafür lediglich den Leitfaden. 
						
						•
						
						Paul Valéry, der stets als «Adept», später
						als gleichrangiger «Erbe» und «Nachfolger» Mallarmés betrachtet wurde, bekennt
						gleich zu Beginn seines «Briefs», wie schwer es ihm falle, über sein
						Vorbild zu reden, ohne immer auch über sich selbst zu reden. Also redet er
						lieber über und von sich selbst als von Mallarmé, doch stets im Rückblick, in
						Rücksicht auf ihn. Das gibt ihm die Gelegenheit, gleich zu Beginn auf die
						Problematik der literarischen Traditionsbildung einzugehen und dementsprechend
						die oft gestellte Frage nach dem Einfluss  aufzugreifen. 
						
						            Für
						die Geschichtsschreibung aller Künste ist «Einfluss» seit jeher ein
						Schlüsselbegriff, und gerade aus diesem Begriff werden kulturologische Konzepte
						wie das Erbe, die Überlieferung, der Generations- und Stilwandel, die Evolution
						hergeleitet. Generell sieht Valéry in jeder Art von Einfluss «die
						fortschreitende Prägung eines Geistes durch das Werk eines andern»; und er
						präzisiert: «Es kommt vor, dass das Werk des einen im Wesen des andern einen
						ganz besonderen Wert gewinnt, dass es darin Wirkkräfte auslöst, die unmöglich
						vorherzusehen waren und die auch recht oft unmöglich zu ergründen sind.
						Andrerseits wissen wir, dass diese hergeleitete Aktivität für das Schaffen in allen
						Künsten wesentlich ist.» Alles, was künstlerisch und wissenschaftlich geleistet
						werde, meint Valéry, «wiederholt oder verwirft, was zuvor bereits geleistet
						worden ist». Und zusammenfassend: «Strenge literarische Arbeit gibt sich zu
						erkennen und wird vollzogen durch Zurückweisungen.» Wenn er hier
						nun also nicht nur die Akzeptanz und Fortführung einer Tradition festhält,
						sondern auch deren Negation und Missachtung als Möglichkeiten
						geistiger Beeinflussung, ist dies ein bemerkenswerter Schritt hinaus über das
						hergebrachte, stets positiv gefasste Verständnis von Einfluss. 
						
						•
						
						Dass und wie die Abwehr von Einflüssen die
						Entstehung von Neuem begünstigen kann, haben die Protagonisten der europäischen
						Avantgarde vor und nach dem Ersten Weltkrieg durch ihren revolutionären
						Traditionsbruch auf breiter Front vorgeführt: Nieder mit den Vätern, den
						Meistern, den Vorbildern! Nieder mit den Akademien, den Museen, den
						Bibliotheken! Voran mit den Künsten – auf die Strasse, zu den Leuten, ins reale
						Leben! Paul Valéry war Zeuge dieses fundamentalen Umbruchs, freilich nur als
						Beobachter und keineswegs als Sympathisant oder gar als Mitbeteiliger; seiner
						konservativen Grundhaltung zum Trotz war er den Avantgardisten als Einzelgänger
						immer schon voraus insofern, als er die Konsequenzen der
						Kunstrevolution und deren Zukunftsperspektiven weit kritischer, weit genauer
						und auch weitsichtiger bedachte als sie – als beispielsweise Marinetti oder
						Majakowskij, von denen der eine zum Faschisten, der andere zum Kommunisten
						mutierte.
						
						            Dass
						die künstlerische Erbediskussion für die Avantgarde ohne Belang war, versteht
						sich von selbst: Wer das Erbe ausschlägt oder es sogar vernichtet, braucht
						darüber nicht zu diskutieren, da in diesem Fall der Status quo als Nullpunkt zu
						gelten hat, hinter den man nicht mehr zurücktritt. Dass allerdings auch die
						Kunstrevolutionäre ihre uneingestandenen Vorbilder hatten, ist leicht
						nachzuweisen, und eben dabei können Valérys einschlägige Überlegungen hilfreich
						sein.
						
						            Denn
						was er in ein paar wenigen Sätzen beiläufig dazu festhält, ist schlicht die
						Tatsache, dass jede literarische Arbeit – selbst die antiliterarische
						– von unterschiedlichen Einflüssen geprägt ist. Auch wer Schiller, Hugo oder
						Puschkin pauschal verwirft, muss diese Autoren vorgängig doch gelesen
						(rezipiert) haben, wobei es zu unbewussten, womöglich verdrängten Anleihen
						gekommen sein kann, die bei aller Verdrängung rezent geblieben sind. Dazu kommt
						nach Valérys Dafürhalten die zumeist übersehene Tatsache, dass in vielen Fällen
						nicht ein Gesamtwerk oder dessen Autor zur Einflussquelle wird, sondern irgendeine
						seiner formalen Qualitäten: Die exklusive Fortführung einer einzigen,
						noch so speziellen Qualität des literarischen Vorfahren durch «die ganze
						Kraftanstrengung» des Nachfahren könne, stellt Valéry fest, «Auswirkungen von extremer
						Originalität» haben. 
						
						            Mit
						andern Worten: Man kann als Autor einen Vorläufer zurückweisen und dennoch von
						ihm beeinflusst sein; und in Klammern verweist Valéry darauf, dass im gegebenen
						Problemzusammenhang immer auch davon gesprochen werden müsste, dass und
						inwieweit das Werk eines Autors diesen selbst beeinflusst – was man
						geschrieben hat, konditioniert das, was man schreiben wird. Kein Werk «lässt
						seinen Schöpfer los», so Valéry, «ohne ihn in sich selbst verändert zu haben».
						Bis heute ist diese ingeniöse Nebenbemerkung unbeachtet und unbedacht
						geblieben.
						
						•
						
						So wie Paul Valéry als bekennender
						Traditionalist zugleich ein engagierter Neuerer war, ist er als formbewusster
						Perfektionist ein Autor gewesen, der seine Schreibarbeit nicht nur äusserst
						streng und zielbewusst als Handwerk praktizierte, sondern auch den
						Zufall, den Irrtum, die Fehlentscheidung für die Dichtung zu nutzen versuchte –
						mit seiner diesbezüglichen Toleranz und Findigkeit übertraf er wohl selbst
						seinen Lehrmeister Stéphane Mallarmé. Die vollkommene Form – für ihn: das
						Schöne – sollte Unvollkommenes nicht ausschliessen, sondern, gerade umkehrt, in
						sich aufnehmen. Im Rückblick auf seine eigenen dichterischen Anfänge notiert er
						dazu: «Man hatte noch nicht die Kühnheit, den unmittelbaren, unvorhergesehenen,
						unvor-hersehbaren, ja, was sage ich? – den unerheblichen Hervorbringungen
						des Augenblicks Werte zuzuordnen. Noch war das Prinzip, wonach jeder
						Einsatz gewinnbringend sei, nicht ausgesprochen, und noch wusste man, im
						Gegenteil, einzig die gelungenen Einsätze zu schätzen …»
						
						            In Valérys eigener Dichtung sind solch unwerte «Werte» allerdings
						kaum auszumachen – in dieser wie in andrer Hinsicht überbietet seine Poetik
						seine Poesie.
						
						•
						
						«Rar sind die Sterblichen, die sich nicht
						verletzt fühlen, wenn sie nicht verstehen …» Das Problem (und die
						Provokation) des Verstehens «schwieriger» Gedichte hat mit Stéphane Mallarmé an
						Dringlichkeit stark zugenommen – er galt als «rätselhafte Erscheinung», als
						abgehobener Hermetiker, für manche war er bloss ein anmassender Snob; ein enger
						Zirkel von Eingeweihten umgab und verehrte ihn, hielt alles «Barbarische und
						Unstatthafte» von ihm fern. Wer dazugehörte, der «verstand» auch, was der
						Meister schrieb und lehrte, und wer nicht verstand, wurde dem Pöbel
						zugerechnet und jener mehrheitsfähigen Literatur überlassen, die «bloss eine
						Provinz im ausgedehnten Reich der Unterhaltung» bildete. 
						
						            Paul
						Valéry selbst kann als Zeitzeuge bestätigen, dass «damals etwas Religiöses in
						der Luft der Epoche lag», das dem Kult um Mallarmé zugutekam. Das Verstehen
						seines dunklen Werks war den wenigen Gefolgsleuten vorbehalten, die dieses Werk
						zu lesen wagten, als ob sie es schon immer verstanden hätten. Für die
						Eingeweihten war auch das Missverstehen und selbst das Nichtverstehen eine
						berechtigte Art des Verstehens. Diese ebenso elitäre wie streitbare Auffassung
						wurde im Kreis um Mallarmé so sehr radikalisiert, dass schliesslich das
						gewöhnliche Verstehen gewöhnlicher Leser als Makel galt: Wer mich zu verstehen
						meint, kann mich nicht verstanden haben.
						
						•
						
						Zwar akzeptiert und bewundert Valéry seinen
						Mallarmé als den ersten bewusst und selbstbewusst «schwierigen Autor» der
						französischen Literaturgeschichte, doch nimmt er klar Abstand von dessen
						massiven Verständnisschranken. Gleichzeitig weiss er jedoch zu schätzen, dass
						durch solche Schranken der «Geist» des Lesers gefordert und der Leser selbst
						aufgewertet wird in seiner neuen Rolle als produktiver Partner (statt bloss
						eines «Rezipienten») des Autors. 
						
						            Doch
						gerade diese neue, mit viel Anstrengung verbundene und deshalb durchaus
						respektable Rolle könne, so vermutet Valéry zu Recht, von einer breiteren
						Leserschaft niemals angenommen und ausgefüllt werden. Bemerkenswert ist dann
						aber schon, dass er daran die Forderung knüpft, jeder moderne Autor müsse
						eigens «für das Publikum (unterstrichen von Valéry!) Genüsse
						ausarbeiten, die keine Anstrengung erfordern – oder fast keine». Nur vom
						Publikum selbst sei zu erfahren, was es zu geniesserischer Lektüre benötige, zu
						seiner Unterhaltung, seiner Rührung, seiner Begeisterung. 
						
						            Das
						nimmt sich fast schon wie eine Rechtfertigung der Trivialliteratur aus, doch
						Valérys Argumentation geht dahin, dass diese mehrheitsfähige Literatur genauso
						ihre Berechtigung hat wie die hohe und schwierige Dichtung, doch er besteht
						darauf, dass diese von jener so konsequent getrennt bleibe wie die
						Gebrauchssprache von der Dichtersprache. Die Dichtersprache wiederum richte
						sich an eine exklusive Leserschaft, die sich «keinen Genuss ohne Mühe
						vorstellen möchte, die nicht geniessen möchte, ohne dafür zu bezahlen, und die
						nicht glücklich wird, wenn ihr Glück nicht zumindest teilweise ihr eigenes Werk
						ist, dessen Preis sie zu spüren bekommen will». 
						
						            Damit
						wird die Lektüre poetischer Texte aufgewertet zu einer produktiven Leistung,
						die sich an die Schreibarbeit des Autors anschliesst und sie erst eigentlich
						zum Abschluss bringt. Diese Leistung – und darüber hinaus das jeweilige Werk,
						das sie erbringt – wertet Paul Valéry zudem als dezidierten «Widerstand gegen
						alles Geläufige», gegen alles, was beim Schreiben leicht fällt, sich anbietet
						und ohne Anstrengung zu haben ist.
						
						•
						
						Für Valéry ist die unangestrengte
						Trendbelletristik – «die Mehrheit dessen, was gedruckt wird» – das genaue
						Gegenstück, aber eben auch die natürliche Ergänzung der von ihm vertretenen
						«strengen» und «starken» Dichtung, die keinerlei Automatismen, Klischees und
						sonstige Geläufigkeiten zulässt, sich vielmehr zu behaupten versucht als «ein
						entschieden gewolltes und gesuchtes Werk» – wozu «volles Bewusstsein und volle
						Klarheit» unabdingbar seien. Im Unterschied dazu begnüge sich die gängige
						Literatur damit, möglichst «naiv» und «persönlich» zu sein, um damit
						Authentizität vorzutäuschen, und sie setze bloss das ins Werk, was «sich bequem
						von wem auch immer erfinden lässt, was leicht zu verarbeiten, umzuwandeln,
						abzulehnen ist». Das liesse sich, mit den selben Worten, auch für die
						Gegenwartsliteratur sagen – die japanische und kanadische ebenso wie die
						euroamerikanische, die sich bekanntlich vorab der Docufiction
						verschrieben hat und mit lebensgeschichtlich grundierten Plots ein breites
						Lesepublikum erreicht.
						
						•
						
						Für Valéry ist dichterische Schreibarbeit
						nichts anderes als eine asketische Schreibübung am Leitfaden der
						Sprache. Dichtung wäre demnach so etwas wie angewandte Linguistik, wäre
						vertiefte, differenzierte, auch kritische Auseinandersetzung mit
						allgemeinsprachlichen Gegebenheiten, und ihre Poetik liesse sich bestimmen als
						ein strenges Wechselspiel zwischen Grammatik, Syntax, Lexik, Semantik
						einerseits und Rhetorik, Metrik, Metaphorik andrerseits, ein Spiel, das sich
						Valéry als «sehr frei und sehr sicher in der Durchführung» vorstellt und auch
						wünscht. In Stéphane Mallarmé erkennt er den Schrittmacher und Wegbereiter
						einer solcherart funktionierenden Sprachkunst, die sich auszeichnet «durch
						kombinierte Analyse und Konstruktion» bei der Zusammenführung von «Formen» und
						«Ideen». Vers, Strophe, Reim bilden dafür das strukturelle Gehäuse, das wie ein
						Bauwerk möbliert und belebt werden muss mit entsprechendem «Geist» (esprit).
						
						            «So
						klärte sich für mich ein Konflikt (den ich zweifellos naturgemäss in mir trug)
						– der Konflikt zwischen meiner Neigung zur Poesie und dem bizarren Bedürfnis,
						sämtlichen Anforderungen meines Geistes zu genügen», bekennt Paul Valéry zum
						Schluss seines «Briefs über Mallarmé»: «Ich habe mich bemüht, beides zu
						bewahren.»
						
						            Nachbemerkung:
						26 Jahre vor dem «Brief über Mallarmé» war Hugo von Hofmannsthals «Brief
						des Lord Chandos» (1902) erschienen, ein Text, der bis heute als epochales
						Gründungsdokument der literarischen Moderne gilt und entsprechend oft zitiert
						und kommentiert wird. Das ist bemerkenswert deshalb, weil dieser fingierte, ins
						frühe 17. Jahrhundert zurückdatierte Brief keineswegs ein Dokument des
						Aufbruchs und der Erneuerung ist, sondern umgekehrt eine pathetische, äusserst
						wortgewaltige Bankrotterklärung sowohl der schönen Literatur wie auch der
						Gebrauchssprache ist – letztlich (bei aller demonstrativen Wortgewalt) ein Abdankungsschreiben,
						in dem der Verfasser den «Alten» (Caesar, Seneca, Cicero) nachtrauert und sich
						selbst gleichsam zum Analphabeten erklärt, derweil er in abgehobener Rhetorik
						unentwegt weiterschreibt.
						
						            Dass
						Hofmannsthal mit seinem resignativen sprachskeptischen Manifest so viel mehr
						Zuspruch und Nachfolge fand als Valéry mit seinem zukunftsorientierten «Brief
						über Mallarmé», der doch, fast schon wie eine Rezeptur, konkrete Hinweise
						für produktive Schreibarbeit gibt, ist eine schwerlich erklärbare Tatsache. Denn
						nicht Lord Chandos’ beziehungsweise Hugo von Hofmannsthals wehleidiger Abgesang
						auf jegliche Literatur hat sich in der Folge bestätigt, vielmehr ist das 20.
						Jahrhundert von so vielen literarischen Neuerungen geprägt wie kein anderes
						Jahrhundert zuvor – vom Futurismus, Expressionismus, Surrealismus, den
						«Oulipoten» und «Konkreten» ebenso wie von namhaften einzelgängerischen
						Autoren, die ihrem «Geist» und ihrem «Handwerk» nach Paul Valéry sehr viel
						näherstehen. Doch weiterhin hat demgegenüber der «Brief des Lord Chandos»
						in der Literaturgeschichte, in Anthologien und Schulbüchern klaren Vorrang vor
						dem ungleich ergiebigeren «Brief über Mallarmé». Dieses Missverhältnis
						sollte dringend berichtigt werden.
						
						Paul
						Valéry, «Variété», in: P. V., Oeuvres, I, Bibliothèque de la Pléiade,
						Paris 1957; Taschenbuchausgabe: P. V., Variété, I-II, folio essais,
						Paris 2002; deutsche Gesamtausgabe: P. V., Werke (Frankfurter Ausgabe),
						I-VII, Frankfurt a.M. 22021. – Alle im Text angeführten Zitate
						wurden vom Vf. übersetzt.
 
 
