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Christian Metz: Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart

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Kristian Kühn

Schöne neue Lyrikwelt


Mit den neuen „Denkformen“ der Grünen kam auch die schöne neue Lyrikwelt. Das ist in Kurzform mein Fazit zum kürzlich erschienenen Sachbuch über die Lyrik der Gegenwart, „Poetisch denken“ von dem Frankfurter Germanisten Christian Metz.
    Das mag jetzt ein wenig bösartig klingen, dieses von mir abgeleitete Wortspiel „cogito ergo poeta sum“¹, jedoch bringe ich damit den Aufbau seines das Buch einleitenden Essays „Warum Lyrik jetzt?“ nur überspitzt auf den Punkt.
    Schon die Überschrift – warum jetzt - ist programmatisch. Und gab es vorher „Poetisiert euch“-Kampagnen der Lyrikszene, um sie zu einer kleinen Massenbewegung auszubauen, so heißt es bei Metz gleich zu Beginn fast evangelikal (S. 9):

Alle Anzeichen sprechen dafür: In Zukunft wird man die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik bestaunen. Die Frage an uns Leser*innen wird dann lauten: Wie war das damals eigentlich? Du warst doch dabei! Du warst doch mittendrin, in der Fülle hochkarätiger Gedichtbände, umgeben von der Vielfalt großartiger Lyriker*innen. […] Kurz gesagt: Es ist an der Zeit, Revue passieren zu lassen, was bisher geschah. Und zwar vor allem auch für alle diejenigen, die sich in der schönen neuen Lyrikwelt umsehen wollen, ohne in den vergangenen Jahren zu Ge­dichtbänden gegriffen oder sich in Verse vertieft zu haben.

Die eine wie die aus Amerika herüberschwappende „wave“ hat offenbar alle ergriffen, sogar die eigentlich bis dato recht unspekulative Germanistik. Handelt es sich dabei um die Logik eines versuchten Umschiffens von Widersprüchen, ein freundliches, gutgemeintes „schwaches Denken“ (Vattimo²) der ausklingenden Postmoderne, die guter Hoffnung ist, Gegensätze so auszuloten, dass sie ihre Spannung aushalten, minimieren oder gar überwinden kann?

Das Sprengen der Widersprüche: Auf S. 37 spricht Metz von „der zentralen Randlage“ der literarischen Königsdisziplin „Lyrik“ und davon, dass es falsch wäre,

wenn man die lyrische Öffentlichkeit als Gegenöffentlichkeit bezeichnen würde. Es handelt sich vielmehr um den konsequenten Ausbau einer literarischen Nischen-Ökonomie, die dennoch mit den Strukturen des Buchmarktes oder des überre­gionalen Feuilletons vernetzt ist. Zur Realität gehört also, dass ein­zelne Lyriker*innen (wie Marion Poschmann, Ann Cotten, Kerstin Preiwuß beim Suhrkamp Verlag) sehr wohl bei etablierten Verlagen publizieren. Und bis heute hat noch kein unabhängiger Verlag dage­gen protestiert, wenn eines seiner Bücher im Feuilleton einer großen Tageszeitung gefeiert oder mit einem renommierten Preis ausgezeich­net wurde. Die kookbooks-Autor*innen zumindest sind größtenteils Lieblinge des Feuilletons.

Metzens Chronik der Ereignisse seit 2000 folgt dieser positiven Absicht einer Auslotung von Positionen, die sich eigentlich nicht nahestehen, zunächst – schon im Titel – bezüglich des Bewusstseins- und Wahrnehmungspaares Poesie und Denken. Hatte die Moderne noch auf einer diesbezüglichen Polarität bestanden, vehement der Surrealismus, der im Denken eine der großen Gefahren für Lyrik sah und lieber die Nullzone des Schlafs bevorzugte, um an das Leben hinter den Gedanken und Präkognitionen zu gelangen, setzte man jetzt (so Metz zu Beginn seiner Ausführungen zum neuen Zeitalter)

„bei der Analyse des Materialen, sinnlich Wahr-nehmbaren der Sprache an und lotete deren Grenzen und Bedingungen mit Hilfe von gewagten Schreibverfahren aus, indem man mit Readymades und der optischen wie klanglichen Seite der Schriftzeichen arbeitete. Nach zuvor festgelegten Spielregeln erstellte man Text-generatoren und mathematische (oder auch geome-trische Konzepte zur Zeichenproduktion.“

Diese „quicklebendige“ neue deutschsprachige Lyrik berief sich primär auf Textverarbeitung, auf  Wittgenstein, Nietzsche und die Frühromantik.³ Sie war eine Art Gegenbewegung zur Erlebnislyrik, so Metz. Ich habe Germanistik in Göttingen bei Walter Killy studiert, der ebenso wie Metz viel für Lyrik übrighatte. In dessen damaligen Standardwerk „Wandlungen des lyrischen Bildes“ heißt es einleitend, bezüglich Erlebnis-lyrik:

Die Poesie spricht in Bildern. Sie nennt Dinge der Welt, welche ein inneres Auge durch die Kraft des Wortes aufs Neue wahrnehmen kann. Die poetischen Bilder sind nicht nur Natur. Die Seele ist in ihnen aufgegangen. Sie sind nicht nur Anschauung, sie vermitteln Erkenntnis. Sie tun das von jeher auf eine Weise, die ebenso verständlich als unergründlich ist.

Schnell kommt Killy auf Goethes Satz „Die höchste Lyrik ist entschieden historisch“ zu sprechen und darauf, – um es kurz zu machen – dass Erlebnislyrik aus einem doppelten Ereignis hervorgeht, einmal aus der Begegnung mit Natur (Physis, dem sinnlich Wahrgenommenen), einem Auslöser also, und während des Schreibprozesses aus gedanklicher Vertiefung, die „das Ideale aussprechlich machen und sich mit ihnen zu einem neuen Ganzen vollkommen vereinigen kann, welches den Schein der Wirklichkeit mit dem Abglanz der Idee vorbringt, indem es mit der persönlichen Stimme des Dichters spricht.“
    So Goethes Meinung zur Lyrik, aus einem doppelten Werden heraus, einmal im überraschenden Erlebnis, dann mit dem Geist der eigenen Durchdringung. Dies entspricht in etwa dem, was Elke Erb zur Entstehung ihrer Notate schreibt.

Es gibt meiner Meinung nach – streng genommen – nur Erlebnislyrik. (Um einen alten Witz der Filmindustrie aufzuwärmen: Wer seine erste Pizza gegessen hat, sollte nicht gleich über die Mafia schreiben wollen – und selbst das wäre ein Erlebnis – ein äußerer Anlass mit anschließend innerer, vielleicht in diesem Fall rein mentaler, vielleicht aber auch prophetischer Auseinandersetzung. Wer weiß?)
    Demnach könnte man zumindest von zwei Denkformen reden, dem blitzartigen „Sehen“ beim Anblick oder Nachdenken über ein Ereignis oder Bild, das sich aufdrängt, auch Aha-Effekt genannt, der sich im Bewusstsein einprägt und nachwirkt – und einem abstrakten sachbezogenen Überdenken, ohne Impuls bzw. ohne sprudelnde Sprache, welche wie ein Bienenscharm durch den Kopf summen würde, aber mit der Absicht, die engen eingefahrenen Denkformen zu vertiefen oder umzuleiten (vgl. Rincks Titel „Honigprotokolle“). Letzteres allein wäre eine Art Kritik der eigenen Meinung in Lyrikform, eine Art Sekundär-Poesie. Und so unterscheidet Metz in seinen Ausführungen zur neuen Lyrik auch im Zusammenhang mit Brinkmanns Gedichten, die so viel Einfluss auf die damals Jungen hatten, zwei Arten von Realismus als Stil – „Brinkmanns versierten Realismus“ und als Gegenmodell den „naiven Realismus“. Bei Brinkmann hatten „noch alle sprachlichen Verfahren der glänzenden Oberfläche und den fotografischen oder filmischen Bildeffekten unterworfen zu sein. Seine Lyrik war noch in klarer Ablehnung gegenüber jedem (von ihm gerne beschimpften) selbstgenügsamen, leblosen, sich in immer luftigere Abstraktionshöhen schraubenden Avantgardegestus der High Modernity gedacht.“

Brinkmann drückt es in seiner Vorbemerkung zu „Westwärts 1 & 2“ so aus:

Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Mag sein, daß deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen. Man muß in dieser Sprache meistens immerzu denken, und an einer Stelle hörte ich, wie jemand fluchte: Ihr Deutschen mit euren Todeswünschen, wenn Ihr sprecht!“

Ich sage es mal so, ein „poetisches Denken“ mag ja brillant oder experimentell klingen, vorgelesen oder niedergeschrieben, aber wäre nur Schall und Rauch, wenn sich keine Bilder dazu generieren ließen, außer eben Schall und Rauch. Eín Todeswunsch der eigenen Idee.
    Das Verschwimmen der Gegensätze – ich zitiere Metz (S. 26):

Zugleich wurden auch die strikten Normen und Verbote der lyri­schen Avantgarde kritisch hinterfragt und die vermeintlich unüber­windlichen Gegensätze zum Verschwimmen gebracht. Damit sind wir zurück bei der Frage, wie man sich gegenüber der Erlebnislyrik positionieren sollte: Die »neuen Leute« entfalteten ein ausgeprägtes Interesse am Modell von »Erlebnis« und »Ereignis«. Hendrik Jackson führt geradezu trotzig – mit einem »doch« – das Verhältnis zwischen Gedicht und Ereignis wieder in die Poetik ein, und zwar indem er den einfachen Rückbezug durch einen aporetischen Ruck-bezug des Gedichts auf das Erlebnis ersetzt: »Poesie ruck-bezieht (das plötzli­che Anspannen der Seile, das Fangtuch, der Schatten unterhalb des Ge­stänges) doch auf Ereignisse, auf das Erfahrene (nicht aber auf eine simpel vorgestellte Realität).« (Jackson, Im Innern, 27) Die Beziehung zwischen Ereignis und Gedicht ist also nicht einfach, sondern stets (an)gespannt. Gleichzeitig tauchte plötzlich wieder das lyrische Ich in den Texten auf und berichtete von Erfahrungen, Gedanken und Emotionen. Allerdings nicht in der naiven Form, dass dort tatsächlich ein unmittelbarer Ausdruck von Gefühlen und Gedanken möglich wäre. Sondern in der – eigentlich bei Goethe und Hegel schon ange­legten – doppelten Struktur und damit also in der gewieften Form. Denn einerseits ist es qua Sprache gerade nicht möglich, Ereignisse, Gedanken und Gefühle direkt zum Ausdruck zu bringen. Anderer­seits verfügen wir über kein besseres Werkzeug als unsere Sprache und müssen im Wissen um die Unmöglichkeit der Möglichkeit die Aporie aushalten und es trotz des konstitutiven Dilemmas wieder und wieder versuchen. Und weil diese Erkenntnis alles andere als taufrisch und schockierend ist, kann man dies auch in neuer Gelassenheit der Aporie gegenüber tun.

Ich weiß nicht, ob und wie erfolgreich heutige Lyriker*innen mit diesem Versuch umzugehen verstehen, ihre „zentrale Randlage“ durch ein „poetisches Denken“ und im Bewusstsein der Aporie zu entgrenzen und damit zu optimieren. Auch im Vergleich zu früheren. Man könnte ins Zentrum vorstoßen – obwohl ein größerer Erfolg meistens nur jenen zuteilwird, die sich auf die Peripherie zubewegen. Grillparzer unterschied zwischen Genius und dem Talent, das Empfangene oder Imaginierte differenziert aufzuzeichnen, so dass es zwar unscharf, aber dennoch bewegend zu lesen sei. Lord Byron legte sich ein dunkles Tuch über die Augen, um zu „sehen“ – Rilke lief auf und ab und schrieb angeblich kein Wort, bis dann plötzlich die ersten Zeilen aus ihm herausschossen. Ted Hughes sagt in seinem Essay „Wie Dichtung entsteht“, wenn das Imaginierte nicht in ihn hineintritt, von ihm Besitz ergreift und ihn dirigiert, oder wenn es nach der Niederschrift nicht mehr in ihm lebendig bleibt, dann schmeiße er das Gedicht in den Müll.

Und heute? Metz spricht von Collage und „Re-Kombinationen“:

„Die Lyrik nach 2000 zeichnet sich dadurch aus, dass das einzelne Gedicht offenlegt, wie es sich zu Pop, lyrischer Avantgarde und Erlebnis verhält. Jeder einzelne Text setzt die Kunst der Verschränkung in die unterschiedlichsten Figurationen um. Ereignis, Avantgarde und Popkultur werden verwoben, vernäht, ineinander verstrickt, gefaltet und miteinander verschraubt.“

Es könnten auch verschiedene Erlebnisstrukturen ineinander verwoben sein. Das angebliche Programm der Gegenwartslyrik basiere aber auf dem Slogan „Poetisch denken“. Ausgehend von der kollektiven Poetik „Helm aus Phlox“ (2011), gemeinsam von Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrik Jackson, Steffen Popp und Monika Rinck verfasst, die als erstes Kapitel eine „Grammatik des Denkens“ enthält, wurde der „Zusammenhang zwischen Dichten und Denken“ dann besonders in der Poetiksammlung „Poesie und Begriff“ (2014) weiterverfolgt.
    Doch nennt die „Grammatik des Denkens“ im Passus 2 sehr wohl schon den Unterschied zwischen der wahrgenommenen Beschaffenheit von Dingen und dem Ziel beim Denkprozess (hier Entelechie genannt) – neues Denken ermögliche damit neue Verbindungen, „neue und mehr Verknüpfungen mit der Welt. Deshalb ist Denken schließlich auch Macht, denn ein Mehr an Macht kann sinnvoll nur ein Mehr an Verknüpfungen meinen.“ Diese simple Logik von gedanklicher Manipulation ist nicht zu falsifizieren und bestätigt indirekt auch den Machtzuwachs jeder affirmativen Agenda, etwa bei den Grünen, die ja bekanntlich neuerdings konservativ, mittig und links sein wollen, um das Beste aller Positionen gedanklich zu kombinieren und kompatibel zu machen.   

Metz führt noch, bevor er zu Popp kommt, einen Halbsatz aus Hendrik Jacksons „Dunkelströme“ ein, der eigentlich schon aufgrund seines dazugehörigen Titels kein Beispiel für philosophisch-poetologisches oder akademisch-abstraktes Denken ohne Geistesblitz ist: „ein Denken, schneller / als das Denken“ – von Jan Wagner dann auch lakonisch kommentiert mit „Ein Gedicht nimmt sich das Recht, die Dinge so zu denken und zu sehen, wie sie nie zuvor bedacht und gesehen worden sind.“ Eine salomonische, fast spöttische – aber wie immer bei Jan Wagner – leise Antwort, die letztlich so oder so zu interpretieren ist. So und so, beides – „Denken Sie doch so.“ führt Metz an, Monika Rinck aus „Risiko und Idiotie“ (S. 14) zitierend. Doch was sie sagen will, lässt er an dieser Stelle aus:

„Denken Sie doch so: Ein Geschenk an den Leser, an die Leserin – die andere Sprache, eine volle Erfahrungssprache, die geschichtsbereite Sprache, informiert und aufgespeichert, Spannungs- und Traumbögen richten sich auf. Sagen Sie: Sauge auf die Panik, Wonne und die Logik der Nacht, jenseits der Unterscheidung von Fiction und Non-Fiction. Dies sind bewegte autonome Sprachbilder, auf die das Bilderverbot nicht zutrifft, weil sie ein Umschlagen der Gedanken ermöglichen.“

Stattdessen kommt Metz nun in seiner Denkformung auf Steffen Popp und dessen Formel „poetisch denken“ als Referenz des eigenen Sachbuches zu sprechen:

„Die Formel „poetisch denken“ selbst allerdings hat Steffen Popp in den Diskurs eingebracht und zu einem eigenen Programm ausgearbeitet. So allgemein dieser Zweiwortslogan daher­kam, ließ sich eines doch von vornherein festhalten: Mit dem Fokus auf das Denken blieb die Lyrik automatisch anthropologisch und auf die Frage nach dem Subjekt ausgerichtet. Was wiederum nicht hieß, dass jede aktuelle (sogenannte posthumanistische) theoretische Über­legung, ob die anthropozentrische Ausrichtung der Welt zu einseitig gewesen sei und ob angesichts von Neuro-Enhancement, Cyborg-Fi­guren oder künstlicher Intelligenz über das Menschsein grundsätzlich neu nachgedacht werden müsste, spurlos an der Lyrik vorbeigegangen wäre. Die Fragen des Posthumanismus waren und sind in der Lyrik virulent.

Soweit Metz zu einer Idee von Lyrik nach dem Menschen oder zumindest ohne die Unberechenbarkeit seiner/ihrer irrationalen Anhaftungen, bzw. wie kann der Mensch sich gedanklich so weiterentwickeln oder weiterentwickelt werden durch „gewieftes Denken“, dass er nicht mehr stört. Schreibdressur und Lesungen als Ventil. Z.B. heute die „wilde Stunde“! Das wäre bereits die „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley. Ist sie schon angebrochen?
    Aber ich muss Steffen Popp an dieser Stelle wirklich in Schutz nehmen. Die zitierte Stelle aus „Poesie und Begriff“ lässt sich (wie zuvor bei Rinck) auch ganz anders lesen. Zumindest lässt Popp eine Unterscheidung zwischen Wort und Begriff zu und wendet sich zwischen seinen geschickt gewählten Zeilen auch Platons Höhlengleichnis zu, aber hören wir Jan Kuhlbrodt zu dieser Passage in seiner (und Martina Hefters Brief-)Rezension:

Was das Verhältnis von Wort und Begriff angeht, so ist es wahrscheinlich nie endgültig zu klären, und wir benutzen beide eine Ausgangsposition, um überhaupt losgehen zu können, und so eine Ausgangsposition schafft, denke ich, auch Steffens Text. Er führt eine Reihe von philosophischen Begriffen an und untersucht sie hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Gedicht. Auch macht er eine Reihe von Analogien auf. Handeln. Was hieße poetisches Handeln? Usw. retrospektiv ist das alles sehr interessant. Ich glaube aber, dass sich daraus keine neuerliche Regelpoetik ableiten lässt, und Popp will das ja auch nicht. Ich denke, es geht ihm um Selbstbewusstsein und die Frage: Was mache ich da, bzw. was habe ich gemacht, und was und wie machen es die anderen? Hier dann doch mal ein Zitat: Ich habe die Art von Sprachverwendung in Gedichten schon mehrfach als “poetisches Sprechen” bezeichnet, ohne auf den Hintergrund oder intendierte Rede einzugehen. … Das Bild für die Relation “Handeln - Sprechen - poetisches Sprechen” wäre vielleicht “Schlägerei - Boxen - Schattenboxen”. Hier scheint Popp ein Platonisches Modell zu verwenden, das die Kunst im Gegensatz zu Platon positiv interpretiert. Nach Platon jedenfalls ist der Künstler am weitesten von der Realität der Ideen entfernt, weil er sich nur mit einem Abbild der Dinge befasst. Im Grunde sogar mit dem Schatten des Abbildes. Aber das wendet Popp hier ins Positive.

Insgesamt bleibt Metz in seinem Buch primär verschiedenen Formen der sprachkritischen Richtung von Lyrik zugetan, (ihn fasziniert als Germanist das Gedachte, die Konstruktion, weniger das Gedicht), und er verweist die anderen Richtungen heutiger Poesie auf Nebenplätze oder nutzt sie zum Vergleich und konstatiert:

Heute muss man zugeben, dass das Gedicht sicherlich nicht mehr der Gefühlsbeweger Nummer 1 ist. Schon mal bei der Lektüre eines aktuellen Gedichts geweint? Es ist also eine realistische Selbsteinschät­zung, wenn die Wirkung der Lyrik zuerst auf das Denken ausgerichtet ist und erst von dort aus eine emotionale Bewegung erzeugen will. Auf die Irritation und Erschütterung des Denkens kommt es an, um Raum für potentiell neue Gedanken zu eröffnen.

Metz erwähnt in diesem Zusammenhang auch Adornos „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ von 1951, in der Lyrik grundsätzlich gesellschaftliche Verantwortung zugeschrieben wird und in der sie diesen Aspekt auch im Werk zu verfolgen hat.  Auch Brecht hatte ja schon vor dem großen Krieg und seinen unmenschlichen Vernichtungen moniert in „Der Lyriker braucht die Vernunft nicht zu fürchten“:

„Einige Leute, deren Gedichte ich lese, kenne ich persönlich. Ich wundere mich oft, daß mancher von ihnen in seinen Gedichten weit weniger Vernunft zeigt als in seinen sonstigen Äußerungen. Hält er Gedichte für reine Gefühlssache? Glaubt er, daß es überhaupt reine Gefühlssachen gibt? Wenn er so etwas glaubt, sollte er doch wenigstens wissen, daß Gefühle ebenso falsch sein können wie Gedanken. Das müßte ihn vorsichtig machen.
    Einige Lyriker, besonders Anfänger, scheinen, wenn sie sich in Stimmung fühlen, Furcht zu haben, aus dem Verstand Kommendes könne die Stimmung verscheuchen. Dazu ist zu sagen, daß diese Furcht unbedingt eine törichte Furcht ist. […] Ist das lyrische Vorhaben ein glückliches, dann arbeiten Gefühl und Verstand völlig im Einklang. Sie rufen sich fröhlich zu: Entscheide du!“

Auch Metz lockert seine eigenen Ausführungen S. 52 zu Popps „Grundmodell des poetischen Denkens“ (aus der Dankesrede zum Peter-Huchel-Preis, 2014), indem er davon berichtet, wie jener am letzten Tag seines Philosophiestudiums vor seinem Professor sitzt und dieser ihn fragt, was er denn denke, ja, ob er überhaupt denke. „Popp weiß, dass sein Professor, ihn als Lyriker kennt, und er nimmt die Frage ernst, viel ernster, als sie von dem Professor wohl gemeint war. Also folgert er: „Denke ich, denkt man, Gedichte schreibend, ‚überhaupt‘, und wenn ja, was macht dieses Denken aus?““

Ich möchte hier den Disput über Denken, Bewusstsein, Tod und Inspiration und das Prinzip des Imaginierens mit einem Zitat aus einem meiner Lieblingsbücher beschließen, „Die Literatur und die Götter“ von Roberto Calasso. Er endet seinen Band mit der Betrachtung einer antiken Scherbe, auf der ein schreibender Dichter, der befehlende Apollon und der abgetrennte Kopf des Dionysos über den Wassern der Tiefe abgebildet sind:

„Die Literatur ist niemals Sache eines einzelnen Subjekts. Mindestens drei Akteure gehören zu ihr: die schreibende Hand, die sprechende Stimme und der Gott, der überwacht und gebietet. Im Aussehen sind sie nicht sonderlich verschieden: alle drei jung und mit dichtem, gelocktem Haar. Leicht könnte man sie für drei Erscheinungen derselben Person halten. Aber nicht das ist das Entscheidende, sondern die Teilung in drei unabhängige Wesen. Wir können sie das Ich, das Selbst und das Göttliche nennen. Zwischen diesen drei Wesen findet eine beständige Triangulation statt. Jeder Satz, jede Form ist eine Variation in diesem Kraftfeld. Daher die Zweideutigkeit der Literatur.“

Sehr schön beschreibt Metz schließlich noch in seinem Essay „Warum Lyrik jetzt?“ die Anfänge und dann den Ausbau der Vernetzung innerhalb der jungen Lyrikgemeinde.

Eine Handvoll führender Verlage hat sich durchgesetzt, und eine Gruppe ausgewählter Autor*innen hat eine nicht zu unterschätzende Diskursmacht entfaltet. Alleine schon der Andrang von Auto*rinnen, die mit am kookbooks-Tisch sitzen und philosophieren wollen, hat die Position des Verlags verändert.

Um noch einmal auf die Wellenausbreitung sprechen zu kommen - Metz folgert schlüssig, die Lyrik-Bewegung stünde vor folgender Notwendigkeit:

„Am Übergang von Lyrik 1 zu Lyrik 2 steht die Gegenwartslyrik am Scheideweg. Entweder verpuppt sie sich im Status der Insiderkultur, nach dem Motto: Es geht uns gut, weil und solange wir unter uns sind. Oder die Lyrik öffnet sich für ein weiteres Publikum und schmiegt sich an den Mainstream an. Nicht unwahrscheinlich, dass es zunächst beide Bewegungen parallel geben wird: eine Öffnung zum Main­stream und zugleich eine Gruppe von Lyriker*innen, die sich in ihren Diskussionen weiter spezialisiert und ihre Schreibweisen in Extreme forciert.“

Zum Schluss seines Essays erklärt Metz, der jahrelang an dieser seiner Auswertung der Lyrik seit 2000 gearbeitet und fast nichts an Nebensträngen, zumindest als Randnotiz, ausgelassen hat, auch wenn diese anderen Richtungen nicht im Vordergrund zu stehen scheinen (und damit auch nicht in dieser Besprechung), wie die folgenden ca. 350 Seiten zu lesen seien und warum er – statt die ganze Szene durchzugehen, zu etikettieren – lieber „vier herausragende Autor*innen“ ausgewählt habe, um anhand von je einem Gedicht von Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp „zu schauen, was die Denkformen der einzelnen Autoren auszeichnet, wie sie verfahren und welche Themen sie warum faszinieren. Und es geht darum, Lesarten des Gedichts zu entfalten, die dem Potential dieser Texte gerecht werden.“

Für Monika Rinck wählte er das Gedicht „mein denken“ (Ich habe heute mittag mein denken gesehn,/), für Jan Wagner „1 (shepherds’s pie)“ (schafe sind wolken, die den boden lieben./), für Ann Cotten „Gedanken kubital“ (Als wär ein Eck in meinem Denkvermögen/ oder ein Leck im Rohr vom Hirn zu Kopf/) und für Steffen Popp ein Gedicht ohne Titel (Brandungsnah leben. Meeresgelassenheit, gestrüpp.)

Für sein Nachwort oder seine conclusio bringt Metz die Überschrift „Blüh doch – Lyrikhochzeit und kein Ende“, fasst darin seine Ergebnisse noch einmal zusammen und bringt sogar einen Ausblick Richtung Nachwuchs und dreier neuer sich anbahnender Trends, nämlich dass die digitale Kultur „Stück für Stück Einlass in die Buchform findet“, dass „die Lyriker*innen vermehrt eine Überlagerung und Verbindung der eigenen Kunst mit anderen Kunstarten und lyrikfremden Orten suchen“ und neben dieser Hybridbildung, dass es vermehrt Lyrik im Digitalen gibt, E-Poetry für den Screen geschrieben.

Mit Dank an Christian Metz für seine affirmative, aber auch kolossale Leistung, mit einem so anspruchsvollen Thema die Nähe zu einem erweiterten Markt mit neugierigem Publikum zu suchen, immerhin ist das Buch bei S. Fischer erschienen, schließe ich mit dem Gedicht, das er für die E-Poetry-Szene als Beispiel ausgewählt hat und das die Polarität von Denken und Poesie auf eigentümliche Weise konstant hält  – es ist von Stefanie Sargnagel (Fitness, 214 f.):

Wenn ich nüchtern bin, bin ich so:
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Wenn ich betrunken bin, bin ich so:
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
     

¹ Gedacht / Gedicht: Ich denke, also bin ich Dichter (frei nach Descartes).
² Schwaches Denken: https://de.wikipedia.org/wiki/Das_schwache_Denken
³
Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Epilog (Das Ende des Gedankens):  
„Denken können wir nur, wenn die Sprache nicht unsere Stimme ist, nur, wenn wir in der Sprache unsere Stimmlosigkeit bis zum Grund – in Wahrheit gibt es keinen Grund – ermessen. Was wir Welt nennen, ist Abgrund.
    Die Logik beweist, daß die Sprache nicht meine Stimme ist. Die Stimme – sagt sie – gab es, aber es gibt sie nicht mehr, noch kann es sie je wieder geben, Die Sprache findet im Nicht-Ort der Stimme statt. Das bedeutet, daß dem Gedanken über die Stimme nichts zu denken bleibt. Sie ist seine Barmherzigkeit.
    Die Flucht, die Unentschiedenheit der Stimme in der Sprache muß folglich ein Ende haben. Wir können aufhören, die Sprache und die Stimme in der Schwebe zu halten. Wenn es die Stimme nie gegeben hat, wenn der Gedanke Gedanke der Stimme ist, dann bleibt diesem nichts mehr zu denken. Der vollzogene Gedanke hat keinen Gedanken mehr.“
Einfacher und frühromantisch ausgedrückt bei Novalis: Monologen 1.
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wer denkt abstrakt?
So in etwa beginnt die Rede – und Popp fährt fort: „Die Frage beim Wort nehmend, könnte ich sagen: Soweit ich es sehe, spielt sich das, was mir an zu Gedichten führendem Handeln denkähnlich vorkommt, in der Tat „über Haupt“ ab, mit anderen Worten, es übersteigt die übliche Bühne des Denkens oder steigt zu ihr herab bzw. fällt, mitunter schmerzhaft, auf sie zurück. Wo Denken etwas hervorbringt, lebt es von einer Kontaktaufnahme mit etwas, das begrifflich nicht schon bestimmt, auf der Ebene von Aussagen nicht schon ins Sprechen eingemeindet ist. Um eine solche Kommunikation, einen solchen Kontakt geht es auch, wenn man an Gedichten arbeitet – etwas soll ins Sprechen geholt werden, genauer, das Sprechen selbst soll etwas holen, etwas hervortreiben: etwas, das ihm nicht schon gehört und das es am Ende der Aktivität, die das Gedicht ihm zu entfalten erlaubt, wieder aus sich entlassen muss.“


Christian Metz: Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart. Frankfurt a.M. (S. Fischer) 2018. 432 Seiten. 20,00 Euro.
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