Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wer denkt abstrakt?
Poeterey

Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
Wer denkt abstrakt?
Denken?
Abstrakt? – Sauve qui peut! Rette sich, wer kann! So höre ich schon
einen vom Feinde erkauften Verräter ausrufen, der diesen Aufsatz dafür
ausschreit, daß hier von Metaphysik die Rede sein werde. Denn Metaphysik
ist das Wort, wie abstrakt und beinahe auch Denken, ist das Wort,
vor dem jeder mehr oder minder wie vor einem mit der Pest Behafteten
davonläuft.
Es ist aber
nicht so bös gemeint, daß, was denken und was abstrakt sei, hier erklärt werden
sollte. Der schönen Welt ist nichts so unerträglich als das Erklären. Mir
selbst ist es schrecklich genug, wenn einer zu erklären anfängt, denn zur Not
verstehe ich alles selbst. Hier zeigte sich die Erklärung des Denkens und des
Abstrakten ohnehin schon als völlig überflüssig; denn gerade nur, weil die
schöne Welt schon weiß, was das Abstrakte ist, flieht sie davor. Wie man das
nicht begehrt, was man nicht kennt, so kann man es auch nicht hassen.
Auch wird es
nicht darauf angelegt, hinterlistigerweise die schöne Welt mit dem Denken oder
dem Abstrakten versöhnen zu wollen; etwa daß unter dem Scheine einer leichten
Konversation das Denken und das Abstrakte eingeschwärzt werden sollte, so daß
es unbekannterweise, und ohne eben einen Abscheu erweckt zu haben, sich in die
Gesellschaft eingeschlichen [hätte] und gar von der Gesellschaft selbst
unmerklich hereingezogen oder, wie die Schwaben sich ausdrücken,
hereingezäunselt worden wäre und nun der Autor dieser Verwicklung diesen sonst
fremden Gast, nämlich das Abstrakte, aufdeckte, den die ganze Gesellschaft
unter einem anderen Titel als einen guten Bekannten behandelt und anerkannt
hätte. Solche Erkennungsszenen, wodurch die Welt wider Willen belehrt werden
soll, haben den nicht zu entschuldigenden Fehler an sich, daß sie zugleich
beschämen und der Machinist sich einen kleinen Ruhm erkünsteln wollte, so daß
jene Beschämung und diese Eitelkeit die Wirkung aufheben, denn sie stoßen eine
um diesen Preis erkaufte Belehrung vielmehr wieder hinweg.
Ohnehin wäre
die Anlegung eines solchen Planes schon verdorben; denn zu seiner Ausführung
wird erfordert, daß das Wort des Rätsels nicht zum voraus ausgesprochen sei.
Dies ist aber durch die Aufschrift schon geschehen; in dieser, wenn dieser
Aufsatz mit solcher Hinterlist umginge, hätten die Worte nicht gleich von
Anfang auftreten dürfen, sondern, wie der Minister in der Komödie, das ganze
Spiel hindurch im Überrocke herumgehen und erst in der letzten Szene ihn
aufknöpfen und den Stern der Weisheit herausblitzen lassen müssen. Die
Aufknöpfung eines metaphysischen Oberrocks nähme sich hier nicht einmal so gut
aus wie die Aufknöpfung des ministeriellen, denn was jene an den Tag brächte,
wäre weiter nichts als ein paar Worte; denn das Beste vom Spaße sollte ja
eigentlich darin liegen, daß es sich zeigte, daß die Gesellschaft längst im
Besitze der Sache selbst war; sie gewönne also am Ende nur den Namen,
dahingegen der Stern des Ministers etwas Reelleres, einen Beutel mit Geld,
bedeutet.
Was Denken,
was abstrakt ist – daß dies jeder Anwesende wisse, wird in guter Gesellschaft
vorausgesetzt, und in solcher befinden wir uns. Die Frage ist allein danach, wer
es sei, der abstrakt denke. Die Absicht ist, wie schon erinnert, nicht die, sie
mit diesen Dingen zu versöhnen, ihr zuzumuten, sich mit etwas Schwerem
abzugeben, ihr ins Gewissen darüber zu reden, daß sie leichtsinnigerweise so
etwas vernachlässige, was für ein mit
der Vernunft begabtes Wesen rang- und standesgemäß sei. Vielmehr ist die
Absicht, die schöne Welt mit sich selbst darüber zu versöhnen, wenn sie sich
anders eben nicht ein Gewissen über diese Vernachlässigung macht, aber doch vor
dem abstrakten Denken als vor etwas Hohem einen gewissen Respekt wenigstens
innerlich hat und davon wegsieht, nicht weil es ihr zu gering, sondern weil es
ihr zu hoch, nicht weil es zu gemein, sondern zu vornehm, oder umgekehrt, weil
es ihr eine Espèce, etwas Besonderes zu sein scheint, etwas, wodurch man
nicht in der allgemeinen Gesellschaft sich auszeichnet, wie durch einen neuen
Putz, sondern wodurch man sich vielmehr, wie durch ärmliche Kleidung oder auch
durch reiche, wenn sie auch aus alt gefaßten Edelsteinen oder einer noch so
reichen Stickerei besteht, die aber längst chinesisch geworden ist, von der
Gesellschaft ausschließt oder sich darin lächerlich macht.
Wer denkt
abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete. Die gute Gesellschaft
denkt darum nicht abstrakt, weil es zu leicht ist, weil es zu niedrig ist,
niedrig nicht dem äußeren Stande nach, nicht aus einem leeren Vornehmtun, das
sich über das wegzusetzen stellt, was es nicht vermag, sondern wegen der
inneren Geringheit der Sache.
Das
Vorurteil und die Achtung für das abstrakte Denken ist so groß, daß feine Nasen
hier eine Satire oder Ironie zum vorauswittern werden; allein, da sie Leser des
Morgenblattes sind, wissen sie, daß auf eine Satire ein Preis gesetzt
ist und daß ich also ihn lieber zu verdienen glauben und darum konkurrieren als
hier schon ohne weiteres meine Sachen hergeben würde.
Ich brauche
für meinen Satz nur Beispiele anzuführen, von denen Jedermann zugestehen wird,
daß sie ihn enthalten. Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem
gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die
Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk
findet die Bemerkung entsetzlich: was, ein Mörder schön? wie kann [man] so
schlechtdenkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid auch wohl etwas
nicht viel Besseres! Dies ist die Sittenverderbnis, die unter den vornehmen
Leuten herrscht, setzt vielleicht der Priester hinzu, der den Grund der Dinge
und die Herzen kennt.
Ein
Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen,
findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse
des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren
Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte,
eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb und es ihm jetzt nur
durch Verbrechen sich noch zu erhalten möglich machte. – Es kann wohl Leute
geben, die, wenn sie solches hören, sagen werden: der will diesen Mörder
entschuldigen! Erinnere ich mich doch, in meiner Jugend einen Bürgermeister
klagen gehört [zu haben], daß es die Bücherschreiber zu weit treiben und
Christentum und Rechtschaffenheit ganz auszurotten suchen; es habe einer eine
Verteidigung des Selbstmordes geschrieben; schrecklich, gar zu schrecklich! –
Es ergab sich aus weiterer Nachfrage, daß Werthers Leiden verstanden
waren.
Dies heißt
abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder
ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen
an ihm [zu] vertilgen. Ganz anders eine feine, empfindsame Leipziger Welt. Sie
bestreute und beband das Rad und den Verbrecher, der darauf geflochten war, mit
Blumenkränzen. – Dies ist aber wieder die entgegengesetzte Abstraktion. Die
Christen mögen wohl Rosenkreuzerei oder vielmehr Kreuzroserei treiben, das
Kreuz mit Rosen umwinden. Das Kreuz ist der längst geheiligte Galgen und Rad.
Es hat seine einseitige Bedeutung, das Werkzeug entehrender Strafe zu sein,
verloren und kennt im Gegenteil die Vorstellung des höchsten Schmerzes und der
tiefsten Verwerfung, zusammen mit der freudigsten Wonne und göttlicher Ehre.
Hingegen das Leipziger [Kreuz], mit Veilchen und Klatschrosen eingebunden, ist
eine Kotzebuesche Versöhnung, eine Art liederlicher Verträglichkeit der
Empfindsamkeit mit dem Schlechten.
Ganz anders
hörte ich einst eine gemeine alte Frau, ein Spitalweib, die Abstraktion des
Mörders töten und ihn zur Ehre lebendig machen. Das abgeschlagene Haupt war
aufs Schaffot gelegt, und es war Sonnenschein; wie doch so schön, sagte sie,
Gottes Gnadensonne Binders Haupt beglänzt! – Du bist nicht wert, daß
dich die Sonne bescheint, sagt man zu einem Wicht, über den man sich erzürnt.
Jene Frau sah, daß der Mörderkopf von der Sonne beschienen wurde und es also
auch noch wert war. Sie erhob ihn von der Strafe des Schaffots in die
Sonnengnade Gottes, brachte nicht durch ihre Veilchen und ihre empfindsame
Eitelkeit die Versöhnung zustande, sondern sah in der höheren Sonne ihn zu Gnaden
aufgenommen.
Alte, ihre
Eier sind faul, sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau. Was, entgegnet diese,
meine Eier faul? Sie mag mir faul sein! Sie soll mir das von meinen Eiern
sagen? Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen, ist
nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen und ihre Großmutter im Spital
gestorben, – schaff sie sich für ihr Flitterhalstuch ein ganzes Hemd an; man
weiß wohl, wo sie dies Halstuch und ihre Mützen her hat; wenn die Offiziere
nicht wären, war jetzt manche nicht so geputzt, und wenn die gnädigen Frauen
mehr auf ihre Haushaltung sähen, säße manche im Stockhause, – flick sie sich
nur die Löcher in den Strümpfen! – Kurz, sie läßt keinen guten Faden an ihr.
Sie denkt abstrakt und subsumiert sie nach Halstuch, Mütze, Hemd usf. wie nach
den Fingern und anderen Partien, auch nach [dem] Vater und der ganzen
Sippschaft, ganz allein unter das Verbrechen, daß sie die Eier faul gefunden
hat; alles an ihr ist durch und durch mit diesen faulen Eiern gefärbt, dahingegen
jene Offiziere, von denen die Hökersfrau sprach – wenn anders, wie sehr zu
zweifeln, etwas daran ist –, ganz andere Dinge an ihr zu sehen bekommen mögen.
Um von der
Magd auf den Bedienten zu kommen, so ist kein Bedienter schlechter daran als
bei einem Manne von wenigem Stande und wenigem Einkommen, und um so besser
daran, je vornehmer sein Herr ist. Der gemeine Mensch denkt wieder abstrakter,
er tut vornehm gegen den Bedienten und verhält sich zu diesem nur als zu einem
Bedienten; an diesem einen Prädikate hält er fest. Am besten befindet sich der
Bediente bei den Franzosen. Der vornehme Mann ist familiär mit dem Bedienten,
der Franzose sogar gut Freund mit ihm; dieser führt, wenn sie allein sind, das
große Wort, man sehe Diderots Jacques et son maître, der Herr tut nichts
als Prisen-Tabak nehmen und nach der Uhr sehen und läßt den Bedienten in allem
Übrigen gewähren. Der vornehme Mann weiß, daß der Bediente nicht nur Bedienter
ist, sondern auch die Stadtneuigkeiten weiß, die Mädchen kennt, gute Anschläge
im Kopfe hat; er fragt ihn darüber, und der Bediente darf sagen, was er über
das weiß, worüber der Prinzipal frug. Beim französischen Herrn darf der
Bediente nicht nur dies, sondern auch die Materie aufs Tapet bringen, seine
Meinung haben und behaupten, und wenn der Herr etwas will, so geht es nicht mit
Befehl, sondern er muß dem Bedienten zuerst seine Meinung einräsonieren und ihm
ein gutes Wort darum geben, daß seine Meinung die Oberhand behält.
Im Militär
kommt derselbe Unterschied vor; beim preußischen kann der Soldat geprügelt
werden, er ist also eine Kanaille; denn was geprügelt zu werden das passive
Recht hat, ist eine Kanaille. So gilt der gemeine Soldat dem Offizier für dies
Abstraktum eines prügelbaren Subjekts, mit dem ein Herr, der Uniform und Porte
d'épée hat, sich abgeben muß, und das ist, um sich dem Teufel zu ergeben.
In Georg
Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 2, Frankfurt a. M. 1979.
Entstanden
1807. Erstdruck (aus dem Nachlaß) in: Hegel, Werke, 17. Band, 1835.