Diese Schnitte haben nichts mit Reduktion zu tun oder Bescheidung, sondern mit einer Schärfung des Blicks auf die Gegebenheiten, einem aufklärerischen dazu.
Kai Pohl gelingt der Spagat zwischen der Poetisierung und Politisierung der Räume, des Denkens, der Erinnerungen, des Privaten, wobei es sich eigentlich gar nicht um einen Spagat, sondern vielmehr um zwei Seiten einer Medaille handelt. Vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen wie etwa der TTIP-Verhandlungen, der Versuche, demokratische Bürger- und Grundrechte in Hinblick auf den Flüchtlingszustrom oder eine potentielle Bedrohungslage (Terroristen) auszuhebeln, muß man Pohls Abriß seines Aufwachsens und Werdens in der Bundesrepublik als zoon politikon wie Marktsubjekt einfach politisch lesen. In „my degeneration“ haben Kai Pohl und Kombattanten den neoliberalen Neusprech analysiert, mithilfe eines dichterischen Übersetzungsverfahrens, das seriell angelegt ist. Der vorliegende Band liefert gleichsam den geschichtlichen wie gegenwärtigen, aber auch subjektiven Kontext dazu, geht dabei bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Und eröffnet einen philosophisch grundierten Diskurs, mit Sätzen, die sentenzartig sind und „Merksätze“ darstellen könnten. Eher sind es verschiedene Diskurse, die hier literarisch reflektiert werden und einen gemeinsamen Nenner haben, z.B. die Frage, wie bewegt sich, wie lebt Mensch in einer Gesellschaft, die mehr und mehr marktförmig organisiert wird, in der der Mensch nur noch etwas gilt, wenn er sich der Vermarktungslogik unterwirft und so zwangsläufig diese Strukturen mit reproduziert? Was macht das mit, was aus uns? Das Sprechen über ein Proletariat scheint obsolet, der Begriff greift hier nicht mehr, angesichts der unüberschaubaren Zahl angefixter Selbstausbeutungs-Subjekte beispielsweise in der Kultur- und Kreativwirtschaft, denen das Maß an Entfremdung im Produktions- wie Lebensprozess als Selbstverwirklichung und Freiheitsgewinn offeriert wird. Die an dieser und jener Stelle auch so erfahrbar sind …
Der dritte Teil bildet eine Art Abrechnung mit den verinnerlichten Zuschreibungen/ Wertigkeiten der kapitalistischen Wirklichkeit. Pohl läßt Fixpunkte der jüngeren deutsch-deutschen und der Weltgeschichte Revue passieren, in die er die des literarischen Subjekts eingeflochten hat. Der unvollständigen Chronik des Jahres 1964 wird eine wahre Geschichte beigestellt, als Niederschrift, die dessen Vater in einer Flaschenpost aufgefischt haben soll. Diese stellt die Beschreibung eines Endzeitszenarios dar, in dem Flüsse und Meere verseucht sind, das Gros der Lebewesen ausgestorben. Und so weit entfernt von unserer Gegenwart ist das nicht, angesichts vermüllter Meere, kaum noch rückgängig zu machender klimatischer Veränderungen, schwindender Ressourcen, sich ausbreitender unfruchtbarer Zonen (Böden): … „der Hunger wuchs proportional zu den wachsenden Erträgen der Landwirtschaft“ heißt es an einer Stelle, mit der er das Dilemma treffend umreißt – während wir hier in der an den sogen. westlichen Werten orientierten Welt Überschüsse generieren, mit denen wir nichts anzufangen wissen. In den 60/70er Jahren kippte man die einfach ins Meer, heute überschwemmt man die Märkte in Afrika damit, sodaß die Subsistenzwirtschaften vor Ort kaputt gehen. Pohl spricht aus der Perspektive einer Generation, die dem Credo der konsumorientierten Welt, ihren Zukunftsversprechungen nicht mehr gläubig zu folgen gewillt ist, der dies alles nur noch absurd erscheint. (S. 19) Da spielt auch das Vergessen-wollen, das sich aus der eigenen Wirklichkeit Hinausbewegen eine Rolle: ich möchte einmal wie ein Tier in die Wolken starren, in keiner Sprache zuhause sein (S. 8). Aber die Stadt faselt weiter […] es ist unmöglich, den gemischten Chor der Maschinen vom Lärmen der inneren Furien zu unterscheiden (S. 8). Schreibt sich hier das Lenz’sche Ungenügen an der Wirklichkeit fort, eine Reminiszenz gar an Rilkes zivilisatorischer Kritik: doch die Stadt will nur das ihre (…). Fluchtwunsch …
Ein Manifest, eine Abrechnung, da geht es um die vom ausbeuterischem Verhalten zu verantwortende Klimakrise, wobei „Krise“ im Politikersprech als ein die Ursachen bemäntelnder Begriff gesehen werden kann, denn vielmehr haben wir es mit den Folgen menschlichen Wirkens, der Produktions-, Eigentums- und Arbeitsverhältnisse, die in den Gesellschaften vorherrschen, zu tun. Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um Mißverständnisse in die Welt zu setzen schreibt Pohl so hellsichtig wie ironisch (S. 28), und an diesem Punkt setzt er mit seiner Arbeit an. Sprache spiegelt Machtverhältnisse nicht nur wider, sondern „begründet“ sie auch. Womit wir es also zu tun haben …
Januar 2016
Kai Pohl: 1964 oder Das marktkonforme Schweigen der Seele des männlichen Marktsubjekts. Berlin (Distillery #42) 2015. 36 Seiten. 7,00 (bei amazon 10,00) Euro.