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Armin Steigenberger
Ressentiment wider das Ressentiment?
Einige werden es mitbekommen haben. Jürgen Brocân veröffentlichte am 5.9. in der taz einen Artikel über die Situation der Lyriker,
worauf Bertram Reinecke einige Tage später eine Entgegnung verfasste.
Ich habe Brocâns Einlassungen in der taz kürzlich auf Facebook tatsächlich geteilt, weil ich bis dato lange nicht mehr eine solch kompakte Darstellung zur „Lage der Poesie“ (was immer das sein könnte) gelesen hatte – wenngleich ich dabei auch etwas zu schnell gelesen, zu schnell gelikt und geteilt habe. Lese ich den Brocân-
Die selten gehörten Stimmen sind ähnlich verkürzt, wie man das Lamento, Lyrik werde zu wenig wahrgenommen, schon allzu oft gehört hat: es gehört, neben dem schon seit x Jahrzehnten gleichmäßig vorgebrachten schwindende[n] Interesse an Lyrik (wohl auch eine Form der Wanderlegende!) oder dass die „stille“ (!) Lyrik die wichtigere sei, na, OK, zu den alten Leiern um Lyrik und Rezeption.
Ums vordergründig kurz zu machen: Ich fand Brocâns Feststellungen im Großen und Groben dennoch richtig, dergestalt, dass einige, etliche, viele Beobachtungen mir ganz gelungen erschienen. Ich gebe ihm darin nicht recht. Aber, damit man es nicht aus dem Auge verliert: Die Leistung seines Artikels liegt doch zunächst darin, wenigstens für mich, dass er einfach für die 99,9 % der vermutlich nicht lyrisch versierten taz-
Aufmerksamkeit ist das Stichwort. Und sofern es auch nur einen Leser gibt, der aufgrund des Brocânschen Artikels fürderhin mehr poetische Luft atmen will, hat Brocân alles richtig gemacht.
Von einem der beiden Kontrahenten weiß ich, dass er 2013 in der Berliner Literaturwerkstatt auf dem Podium saß, als es in Videos um die Rezeption von Lyrik ging, wo Sätze kamen wie Ist Astrid Lindgren schon tot? Und auch die Performance der G13 rund um Ein Gleiches von einem Dichter namens Goethe zeichnete ein pandorisches Bild, was da in Schulbüchern gedruckt steht, wie das vor allem rezipiert werden soll, wie es „der Schüler“ bearbeiten soll, mit welchem Handwerkszeug – ein Blick in einen grausigen Abgrund. Das Problem wurde offenbar, dass nicht einmal die Schulen wissen, wie Poesie nahe gebracht werden könnte. Reinecke umreißt das richtig mit dem Begriff der Bedeutungsausgräberei vs. einer Verbesserung der Beobachtungsfähigkeit für sprachliche Phänomene.
(…) als wäre es den Leuten irgendwie peinlich, dass Gedichte nur aus Sprache gemacht werden – ein Nebensatz in Reineckes Argumentation, der mich stutzig macht. Es steht nur Sprache auf dem Papier und es wird nur Sprache vorgetragen. Ich habe vor vielen Jahren einmal einen bildenden Künstler damit schockiert, als ich über die Plastikfolie sprach, aus der er blumenhafte Skulpturen geformt hatte. Er empfand das Wort Plastikfolie als abqualifizierende Reduktion, – ganz, als sei da noch was anderes hinter dieser Plastikfolie, jenseits des Sichtbaren, gar eine Art Poesie jenseits des haptisch-
Für mich waren, beim „Erstkontakt“ mit dem Brocân-
Ich las den Brocân-
Auch wenn Brocân zu Schlüssen kommt, die ich – wenn ich den Artikel mit der Lupe lese – nicht teile, geht das im Prinzip in die richtige Richtung. So etwas würde ich mir öfter wünschen, gerne auch differenzierter, gerne auch entstaubter und neuer, weniger mit althergebrachten Schablonen behaftet. Insofern ist mir an diesem Punkt Reineckes Entgegnung zu destruktiv. Das hätte ja seinerseits nun auch ein anderer, neuer Artikel sein können, der, vorbei an den schiefen Formulierungen Brocans Signaturen und seiner problematischen Haltung sich freischreibt und das Ganze mal kurz und knackig ausformuliert, wie es eigentlich um Dichtung bestellt ist. Das hätte ich lohnenswerter gefunden.
Bei Bertram Reinecke kommen mir manche – er sagt das eingangs selbst – Punkte vor, als seien sie von ihm reflexhaft und auf seine Themen insistierend geäußert worden. Wie rote Tücher gibt es für ihn den (ich nenne es:) Metrikhasserverdacht (aus dem kühlen Grunde eines Formalismus heraus), der mich eigentlich nahezu ähnlich muffig-
Ob die Entscheidung bei der taz, den Artikel zu bringen, wirklich so mutlos ist, wie Reinecke schreibt, weiß ich gar nicht. Wäre sie denn mutiger gewesen, wenn es ein obsessiverer, diskursgeschulterer Artikel gewesen wäre? Hätten wir dann nicht stattdessen einen zwar in sich stimmigen, „poetologisch korrekt“ ausbuchstabierten Artikel, der dann aber wieder bei der uns so bekannten 0,1 %-
Ja, klar, Brocân macht en gros vieles falsch – bei Reinecke aus Details heraus brillant entwickelt. Allerdings, das Grundgenörgel („Unmut“) nahm mir da, wo Reinecke sich mit kämpferischem, insistierendem und auch obsessivem Drang festbeißt, schon während der Erstlektüre sukzessive die Lust, wesentlich mehr als der Brocânartikel: weil er übers Ziel hinausschießt. Statt einfach zu zeigen: schau her, das und das geht nicht, fertig, geht da ein Gebraus und infolge dieses Gebrauses in allen möglichen Blogs und Foren ein Shitstorm los, den ich gar nicht wirklich gerne bis zum (bitteren) Ende verfolgen mag. Und genau das nahm mich letztlich zunehmend gegen Reineckes Entgegnung ein. Zumal ich seine Gründe ja alle irgendwie auch kenne; sie sind gut, nein sehr gut ausgebaute Entgegnungs-
Und würde Brocân seine Inhalte nicht auf 3 Seiten, sondern auf 300 Seiten entwickeln, würde er möglicherweise auch differenzierter argumentieren.– Jürgen Brôcan, geb. 1965, lebt als Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker in Dortmund. Der Text verwendet einige Gedanken aus dem letzten Kapitel eines geplanten Buchs über Lyrik. (taz) Vermutlich wurde der Artikel noch von redaktioneller Seite „nachbearbeitet“ um ihn für taz-
Durchaus bedenkenswert schien mir bei der Erstlektüre: Was könnte helfen, die Vielfalt des Gedichts zu erhalten und das "Dichterklima" zu verbessern? Mir scheint zweierlei unabdingbar: Die mediale Aufmerksamkeit müsste dezentralisiert werden, denn es ist nicht alles "Provinz", was sich außerhalb Berlins oder Leipzigs befindet, künstlerisches Potenzial kann man überall entdecken, es entfaltet sich an den Peripherien oftmals eigener als in den Schutzzonen der Metropolen. Darüber hinaus sollten Preise und Stipendien der vorhandenen Vielfalt stärker als bisher Rechnung tragen; deren mangelnde Unterstützung setzt nämlich einen Teufelskreis in Gang, der am Ende die Argumentation stützt, es existiere diese Vielfalt gar nicht.
Daran stört mich mehr dieses vorsichtige Müsste-
(…) keimte da nicht der Verdacht auf, dass das schwindende Interesse an Lyrik irgendwie mit dem zunehmenden Unvermögen korrespondiert, dem intrinsischen Wert der Dinge auf vielfältigere und subtilere Weise zu begegnen als mit Coolness oder Ironie. Komisch, aber auch das hat mir anfangs gefallen. Es gibt Überlegenheitsgesten, die man sich kollektiv aneignen kann. Man kann es auch psychologisch sehen, und die derzeit gängige Coolness-
Bertram Reinecke hat an Punkten angesetzt, die absolut richtig sind. Besonders bei Nebensätzen wie: Nachdem sich die Lyrik einige Zeit lang in ihrer Spracherkundung selbst genug war, wird seit ein paar Jahren wieder eine hohe Anzahl bemerkenswerter Gedichtbände veröffentlicht. Selbst das habe ich im Eifer der Erstlektüre komplett überlesen. Dazu Reinecke: Zwischen einigen zitierfähigen Gemeinplätzen, versucht der Autor einige massive Behauptungen in bewusst weichgespülte Formulierungen einzumogeln. Reineckes Exkurs über die Legende von der „reinen Spracherkundung“ habe ich sehr gerne gelesen.
Jürgen Brocân hat zu gut gebrüllt, als dass man den Artikel in seiner Gesamtheit nicht wertschätzen könnte. Wir reiben uns wohlgemerkt vorwiegend an Nebensätzen. Man muss ihn nicht loben, aber sollte auch anerkennen, dass er – was Basics angeht – einiges sehr verständlich und klar formuliert. Nicht immer richtig, aber deutlich. Manches stimmt auch vollkommen: Sätze wie Selbst innerhalb des Literaturbetriebs ist die Lyrik marginalisiert kann ich unterschreiben. Da gibt es genug Essays dazu, warum das so ist, aber eigentlich reicht ein kurzer Blick in jede Bahnhofsbuchhandlung.
Man muss Brocân zugutehalten, dass er den Stein ins Rollen brachte. Jetzt kann man hergehen und Brocân runtermachen und auf seinen Artikel Häme und Spott und Grundsätzlichkeiten ausgießen. Und zeigen, was das alles für ein horrender Nonsens ist. Wer’s mag? Das ist der eine Weg. Der andere Weg ist, sich zu überlegen, dass man im gleichen Boot sitzt und als Lyriker doch eigentlich daran interessiert sein müsste, a) herauszufinden, woher das schlechte Klima für Lyrik kommt und b) was man aktiv tun könnte, dass sich etwas verbessert. Wo also ist denn bitte der Artikel, den die taz druckt, der uns das Ganze in argumentativ erstklassiger Qualität unverbraucht vorstellt? Können nicht 3 oder 4 Autoren, die meinetwegen auch gegensätzliche Standpunkte haben, sich zusammentun und einen solchen Artikel entwickeln?
Was mir schon vom Ansatz her nicht einleuchten will: dass da ein paar sehr kluge Köpfe nicht anders können, als (schadenf)roh ihre Messer zu wetzen, ihren Unmut zu kühlen und nach allen Regeln der Kunst Brocâns Plädoyer für Dichtung zu dekonstruieren. Fast, als hätte man auf so etwas gewartet. Man kann das freilich machen; aber da werden mir selbst gute Freunde unsympathisch. Und vielleicht bin ich anders gestrickt: ich ergreife da, wo jetzt gefühlt die Majorität peu à peu beispringt und sich sekundierend auf Reineckes Seite schwingt (was ja immer ein Leichtes ist, wenn der Hauptpegel sich in eine Richtung neigt!), für denjenigen Partei, der den Stein ins Rollen brachte und eigentlich für eine gute und wichtige Sache in die Bresche springen wollte.
Zugegeben, leicht verunglückt. Auch ich habe Probleme, wenn jemand sich als Missionar versteht und Gründe anbringt, die an der Sache knapp vorbeigehen.
Gegen manche Verteidigung. – Die perfideste Art einer Sache zu schaden ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen verteidigen. (Friedrich Nietzsche) – Es geschieht nicht mit Absicht. Zumal da, wo es Brocân „jenseits von Popularität und Quote“ um „das Nachhaltige und Hochwertige“ geht und er eine Sprache bedient, die der Lyrik nicht angemessen scheint. Aber anstatt zu sagen: Jürgen Brocân, wir helfen dir, wir machen deinen Artikel nochmal neu und gut und setzen all unsere Kraft ein, um das Ganze gut auf die Füße zu bringen, wird verunglimpft und ausgeweidet. Das begreife ich nicht. Geht es da um Aufmerksamkeit? Um ein Abreagieren? Um ein anderes Ressentiment – wogegen? Ich sehe den Mehrwert nicht. Und, um es abzuschließen: in puncto Politik halte die Außenwirkung dieser Debatte – sofern es sie gibt – weder für sinnvoll noch für klug.