Zwiesprachen VIII: Mirko Bonné über John Keats
Zwiesprachen VIII - Mirko Bonné über John Keats
Die Abgestorbenheit ist bloß Gerede
von Katharina Kohm
Sich mit einem Lyriker der englischen Romantik zu beschäftigen, dessen Werk erst aktuell den Stellenwert zu erhalten scheint, der ihm gebührt, lässt einen Vortrag in Abstand, in historischer und inhaltlicher Distanz zum romantischen Pathos, erwarten. Das Gegenteil jedoch ist beim VIII. Zwiesprachen-Vortrag der Fall. Gerade indem er sich dem Risiko des Pathetischen, des Distanzlosen aussetzte, bewies Mirko Bonné, dass eine Zwiesprache im Lyrik Kabinett einen ganz anderen Zugang zu einem Dichter ermöglicht als ein nüchterner Vortrag. Der lebendige Austausch, eine Auseinandersetzung im zeit- und raumversetzten Dialog lassen gerade in Bezug auf einen romantischen Dichter zeitlose Ideen wieder hervortreten.
In seiner Einführung hob Dr. Holger Pils die Parallelen beider Dichter hervor. Vor allem die Nicht-Wiederholbarkeit des Moments – der Jahrhunderte her ist und den auch ein Gedicht nicht retten kann, und doch, in Zusammenhang des Wiederbelebens, des Erinnerns sähen beide Dichter Hauptaspekt und Triebfeder ihres Schaffens.
Die Suche nach Vergessenem lasse, so Pils, den Dichter manchmal etwas verloren, zwischen Zeiten und Stühlen, erscheinen. In dieser Verlassenheit wie diesem Zweifel und Zwiespalt, die der Dichter aushalten müsse, verberge sich jedoch die Schönheit.
Der Lyriker, Romancier und Übersetzer Mirko Bonné, der vor allem für seine Romane bekannt ist, für »Nie mehr Nacht« (2013) und »Wie wir verschwinden« (2009), die es bereits auf die Listen des Deutschen Buchpreises geschafft haben, hat den Romantiker John Keats nicht nur aktualisiert, er hebt ihn als denjenigen Dichter hervor, der ihn am eindringlichsten beeinflusst habe, und dabei seine eigenen Übertragungen der Gedichte aus dem Englischen vorbringend, die bei Reclam erschienen sind. So tritt Bonné gleichzeitig als Keats-Übersetzer in Erscheinung. Diese Doppelfunktion ließ eine besondere Art von Gespräch, von Zwiesprache zu, nämlich auf Dankbarkeit für seinen „Begleiter“, wie Bonné Keats nennt, abzielend.
Einer Poetik des Zeitlosen, die Flüchtigkeit mit Dauerhaftem versöhne, wohne der romantische Gedanke von heiligen Augenblicken inne, den es durch die Aktualisierung der Keats`schen Lyrik hervorzuheben und zu betonen gelte, dies das wesentliche Anliegen des Vortrags.
Vergänglichkeit dabei, angesichts einer zugleich Zeitlosigkeit des Augenblicks, werde als romantisches Konstrukt allzu häufig abgewertet, für Bonné ein antiromantischer Dünkel. In Bezug auf die Bekanntheit Keats' hierzulande und in Bezug auf den Zustand der Übersetzungen habe dieser Dünkel bis Ende des 20. Jahrhunderts nachgewirkt, da Keats als Eskapist verrufen gewesen sei und so die Übertragungen ins Deutsche erst von Heinz Piontek (John Keats. Auf eine griechische Urne. Gedichte, Insel 1996) und von Bonné selbst (John Keats. Werke und Briefe, Reclam 1995) geleistet wurden.
Foto: K. Kohm
Seit seinem Briefwechsel mit Piontek entschied Bonné, das Werk von Keats selber zu übersetzen, wodurch seine Übertragungstätigkeit zum Beruf wurde. Die Beschäftigung mit Keats also auch ein entscheidender biografischer Einschnitt. Darüber hinaus habe er von Keats alles gelernt, was sich auf sein eigenes lyrisches Schaffen auswirkt:
»The Genius of Poetry must work out its own salvation in a man: It cannot be matured by law and precept, but by sensation and watchfulness in itself – That which is creative must create itself«
»Der Genius der Dichtung muss seine Erlösung in einem Menschen selbst erwirken. Er kann nicht reifen durch Regel und Maxime, sondern nur in sich selbst durch Empfindung und Achtsamkeit – Das was schöpferisch ist, muss sich selbst erschaffen.«
Bonné eröffnete seinen Vortrag also persönlich und biografisch. Poetologisch wurde dadurch aber auch die Aktualität und Zeitlosigkeit der Dichtung selbst sichtbar. Keats erscheine Bonné lebendiger als mancher aktuelle Zeitgenosse, und er zitierte: »Das dichterische Gemüt schert sich nicht, ob jemand lebt oder tot ist; Schönes ist für immer schön.«
Schönheit überhaupt, als Kern einer jeden Poesie, also damit ebenso die Zeit, könne über den Tod hinaus ein Gespräch bewirken, einen Austausch hervorrufen und somit Trost sein. Als ein Beispiel für ein immer gültiges Werk, klar und expliziert, trug Bonné „Bright Star“ (Glänzender Stern!) vor, in seiner eigenen Übersetzung:
»Glänzender Stern!
Glänzender Stern! Wär ich doch stets wie Du –
Nicht Schimmern, einsam aufgehängt zur Nacht,
Und schlaflos, offnen Lides immerzu,
Einsiedler der Natur, der duldsam wacht,
Wie sich das Meer bewegt, das priestergleich
Die Menschenküsten reinwäscht auf der Welt,
Und auf den Schnee blickt, dessen Maske weich
Auf Heideland und Hügel niederfällt –
Nein – und doch stetig, stets unwandelbar,
Gebettet auf der Liebsten junger Brust,
Dem sanften Auf und Ab für immer nah,
Für immer wach in ruheloser Lust,
Stets, stets im Ohr den zarten Atemzug,
Und wär so ewig – sonst nie tot genug.«
Die immerwährende Wachsamkeit des Sterns tritt in einen Austausch mit der Flüchtigkeit des atmenden Lebens. Als Ausdruck von Wachsamkeit erscheine hier das Gedicht wie die Lyrik selbst als ein widerständiger Trost gegen das absehbare eigene Verschwinden.
Diese Absehbarkeit des Todes war Keats Zeit seines kurzen Lebens nur allzu bewusst. Wie viele Mitglieder seiner Familie erkrankte auch er an Schwindsucht (Tuberkulose). Seine Poesie sei für Keats Trost und Widerstand zugleich gewesen und wie der Beruf des Arztes, den er nicht ergriff, um zu schreiben, Heilung, Form, den Tod zu bekämpfen. Trotz der Zeitlosigkeit der Verse erstarre, laut Bonné, die Lyrik von Keats nicht in Belehrung oder in Theorie. Seine Dichtung bleibe dem Leben zugewandt. Im Unterschied zu Byrons Lyrik stehe bei Keats der einzelne Mensch und die Neigung seines Herzens im Mittelpunkt, dem sich jede Theorie unterzuordnen habe. Das Verbindende zwischen Flüchtigkeit und Dauer, deren Gemeinsames, sei die Schönheit, das heißt, eben jene Empfindungen und Wahrnehmungen des Subjekts in Konfrontation mit dem Dauernden.
So ist auch der Ode an eine Nachtigall (Ode to a Nightingale), die wie viele seiner berühmtesten Gedichte im Sommer 1819 entstand, dieses doppelte Leben eingeschrieben, sodass Vergänglichkeit auf ein unsterbliches Lied eines Vogels stößt, wobei es dann doch paradox bleibt, dass ein Lied nicht stirbt, der einzelne Vogel jedoch schon. So überwiegt zu Beginn die Klage über die Vergänglichkeit:
»I
Mein Herz schmerzt, und ein tauber Krampf durchfährt
Mein Hirn, als ob ich Schierling angerührt
Oder ein trübes Opiat vollends geleert
Grad hätte und zur Lethe sinken würd:
Nicht Neid ist’s auf dein glückliches Geschick,
Vielmehr des Glücks in deinem Glück zuviel –
Daß du, Dryas des Walds, dich leicht beschwingst
Am melodienreichen Knick
Aus Buchengrün und lauter Schattenspiel
Und ruhig aus vollem Hals vom Sommer singst.«
Ode an eine Nachtigall, Strophe 1, V I-X
Ein Topos, der beide Dichter verbindet und der sich von den Themen Vergänglichkeit und Dauer ableitet, ist das Vergessen bzw. die Erinnerung. Bonné setzt sich poetisch wie metapoetisch mit dem Erinnerungsvermögen im Gedicht auseinander – auch im Verlauf der Ode an eine Nachtigall wird die Vergänglichkeit mit Vergessen assoziiert. Dagegen kämpft das Gedicht an.
»III
Sich auflösen, verschwinden, und am Schluß
Vergessen, was im Laubwerk dich nie stört,
Die Qual, das Fieber und den Überdruß
Hier, wo ein jeder jeden stöhnen hört;
Wo letztes graues Haar vom Schlagfluß bebt,
Wo Jugend bleich und schemen-dürr verfällt;
Wo denken heißt, daß man vor Gram und Sorgen
Bleierne Lider hebt;
Wo Schönheit ihren Augenglanz nicht hält
Und neue Liebe dies nur schmerzt bis morgen.«
Wie im Gedicht Glänzender Stern! erscheint erneut das Bild des Auges, allerdings diesmal nicht als Symbol für Dauerhaftes, sondern als dessen Gegenteil, ein Auge, Täuschungen unterliegend, das Bleierne Lider hebt und Teil der vergänglichen Welt ist und nur diese abbildet.
Dennoch bewegt sich das Lied von einer Klage auf die Hoffnung zu, wenn es gegen Ende beinahe trotzig heißt:
»VII
Du stirbst nicht, Vogel, du lebst ewiglich!
Nein, dich zertritt kein hungriges Geschlecht;
Wie ich dich heute nacht, so hörten dich
In alten Tagen Kaiser schon und Knecht:
Vielleicht das gleiche Lied, das unverhofft
Ruth durch ihr Herz fuhr, als sie, ohne Trost,
Vor Heimweh, in dem fremden Kornfeld stand;
Das gleiche, das so oft
Magie in Zauberfenster trug, umtost
Vom Sturmmeer, im verlornen Märchenland.«
Bonné interpretierte Teile des Gedichts in einem Artikel von 2009 für Bella triste 24, wo er sie in den größeren Deutungszusammenhang der Vogelschau stellte, einer Zukunftsdeutung anhand des Vogelflugs, die schon im antiken Rom den Auguren vorbehalten war, und worin ein weiterer romantischer Vergleich, nicht nur des Dichters als Heiler, sondern auch des Dichters als Prophet aufscheint. Der Artikel ist auf Bonnés Webseite nachzulesen.
Deutet sich an der eben zitierten Stelle des Gedichts Ode an eine Nachtigall schon eine Nähe zum verlorenen Märchenland, zur Sehnsucht und Suche nach einem Mittler zwischen dieser und jener Welt an, so wird diese Nähe mit einem weiteren romantischen Topos konnotiert, dem der Wiederentdeckung und Aufwertung des Mittelalters, und zwar in einem der berühmtesten Balladen von Keats, La Belle Dame sans Merci. Bonné nimmt dieses Gedicht zum Anlass, einen weiteren Aspekt seiner eigenen poetologischen Überlegungen zu formulieren: Alles Dichten ist Gespräch, und so beginnt auch Keats' Gespräch mit einer direkten Ansprache:
»I
O was nur fehlt dir, Rittersmann,
Streifst du allein und schwach umher?
Längst welkt das Schilf am See und singt
Kein Vogel mehr.«
Die dialogisch strukturierte Ballade La Belle Dame sans Merci, eine Zwiesprache zwischen der Feenkönigin und dem, wie Bonné ihn bezeichnet, aus der Welt gefallenen Ritter, markiert und negiert zugleich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Zeit erscheint aufgehoben, der Ritter träumt, und träumt nicht. Immer aber, so Bonné, bleibe die Lyrik von Keats sensual, seine Beschreibungen erscheinen nicht abgehoben, sondern verdichten sich in Gesichte, in Landschaft, der Nennung von vier Küssen, die eine Interpretation provozieren. Bonné bezeichnet diese als die vier meistgedeuteten Küsse der Literatur.*
Die Figur der Lilith in seinem Roman Nie mehr Nacht sei stark von dieser Ballade beeinflusst, ihr Feenlied rücke die Dichtung in die Nähe von Mündlichkeit und Musik. Jedes Dichten, jedes Schreiben, bereits indem es werde, sei immer schon Teil der Überlieferung, der Literaturgeschichte. Schrift in ihren Stücken immer ineinander vernäht.
Diese Rätselhaftigkeit innerhalb seiner Ballade gehöre zudem zu seiner Methode der Negative Capability (negativen Fähigkeit), die Keats auch zu einem Vordenker der Moderne mache, da sie die Befähigung des Menschen umfasse, Zweifel und Skepsis nicht aufhellen zu wollen und so das Fragile des Augenblicks nicht zu zerstören, vielmehr bestünde die Fähigkeit des Dichters darin, Zweifel auszuhalten. Genau dies tue der Ritter in der Ballade, wenn es am Ende heißt:
»XII
Und deshalb harre ich hier aus,
Streif ich allein und schwach umher,
Ist auch welk das Schilf am See und singt
Kein Vogel mehr.«
Dabei liegt ein zeitloser Trost in der Lyrik von Keats, nämlich: Poesie sterbe nicht. Sein Grabspruch auf dem Protestantischen Friedhof zu Rom lautet auf eigenen Wunsch hin: »Here lies One Whose Name was writ in Water.«
Zeit seines Lebens wurde die Lyrik Keats‘ von der zeitgenössischen Literaturkritik verschmäht, und trotz seiner Krankheit hielt er doch an seinem Prinzip fest, das der Lebendigkeit und Bewegung verschrieben war: Schönheit als Wahrheit, und dieses Wissen reicht.
In diesem Sinne fasst Bonnés eigenes Gedicht Pulk die genannte Überlieferungstradition und Gespräch wie Auseinandersetzung mit Keats zusammen und thematisiert abschließend den auch für die eigene Lyrik charakteristischen Topos der Erinnerung. Ein Gedicht, das im Englischen Garten in München entstand:
»Pulk
Mit polterndem Flügelschlag steht die Gans auf aus dem Wasser
Das Gedächtnis schwärmt zusammen, ordnet sich
Noch ein Kind und liest einen Band Keats
Da stockten die Gespräche, und alle zählen – Blitz
Das Gedächtnis schwärmt zusammen, ordnet sich
Eine Graugans, Luft, eine Graugans, Luft
Da stockten die Gespräche, und alle zählen – Blitz
Über die Wände getrabt kam das Lichtpferd
Eine Graugans, Luft, eine Graugans, Luft
Jedes Gewitter löscht alle Bilder aller Gewitter
Über die Wände getrabt kam das Lichtpferd
Ihr hell- und dunkelblau geblümtes Kleid auf der Hüfte
Jedes Gewitter löscht alle Bilder aller Gewitter
Ein Junge blieb am Fußballplatz hocken
Ihr hell- und dunkelblau geblümtes Kleid auf der Hüfte
Stütz dich mit den Händen ab auf meiner Brust
Ein Junge blieb am Fußballplatz hocken
Noch ein Kind und liest einen Band Keats
Stütz dich mit den Händen ab auf meiner Brust
Mit polterndem Flügelschlag steht die Gans auf aus dem Wasser«
* She took me to her elfin grot,
and there she wept and sighed full sore,
And there I shut her wild wild eyes
with kisses four.