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Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa

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In der Vortragsreihe Zwiesprachen, am 25.01.2016 im Lyrik Kabinett


Die Begegnung an der Naht



von Katharina Kohm




Die Reihe Zwiesprachen im Lyrik Kabinett ist als Möglichkeit aktueller Lyrikerinnen und Lyriker gedacht, sich mit Dichtung der "internationalen Tradition" auseinanderzusetzen. In besonderem Maße konnte man dieses Konzept bei Katharina Schultens Vortrag über ihren Bezug zur russischen Dichterin Marina Zwetajewa umgesetzt sehen.

Die Autorin und Kulturwissenschaftlerin Katharina Schultens arbeitet an der Humboldt-Universität zu Berlin und veröffentlicht seit 1998 Lyrik. Ihr dritter Gedichtband gorgos portfolio erschien, nachdem sie 2013 den Leonce-und-Lena-Preis zugesprochen bekam, 2014 bei kookbooks. Und jüngst wurde im Verlagshaus Berlin in der edition poeticon ihre poetologische Reflexion Geld herausgegeben, die Holger Pils in seiner Vorrede als poetische Landnahme skizzierte, die sich zurücknehme, was der Finanzmarkt ihr, der Poesie, abgrabe.

Während des Vortrags über Marina Zwetajewa wusste man beim Zuhören manchmal nicht, von welchem Text, Zitat oder Referat, von wessen Werk die Rede war. Wer sprach über wen?

Diese Frage war der rote Faden, der sich aus der Herangehensweise ergab, deren Knotenpunkte das Werk von Marina Zwetajewa bildete und natürlich Katharina Schultens‘ Entscheidung, sich damit auseinanderzusetzen. Es schien, als wäre die Grenze zwischen Zeiten und Personen vorübergehend aufgehoben worden.


Im Fall des Werks Zwetajewas, das sich in ihren Briefen und Tagebüchern fortsetzt, ist zu beobachten, wie unbedingt und schonungslos beides eins wird, ihr Schreiben und ihr Leben, und in aller Konsequenz auch postum eins bleibt. Das Klischee einer Liebesgedichte schreibenden Dichterin, die sich in narzisstischer Bespiegelung selbst feiert oder bemitleidet, wurde durch Schultens Art der Herangehensweise ausgeräumt, Zwetajewa nicht abstrakt ins Licht zu halten und zu sezieren, sondern sie als Person mit sich selber zu vergleichen.

»So oder so, an der Naht entlang!«


Schultens beginnt an der Nahtstelle zwischen Leben, Träumen und Briefen. Wie die Träume kämen die Briefe, wann es ihnen passt, nicht auf Geheiß. Wessen Wortwahl war das? Das Vernähen wird im Vortrag konsequent am Leben und Werk Zwetajewas vollzogen, das diese unbedingte Nähe gerade auszeichnet, die Zwetajewa aber auch immer wieder vorgeworfen wurde:

Es sei immer ein Risiko und niemals einfach, sich angreifbar zu machen, betont Schultens.
Diese Unbedingtheit im Schreiben, für sich selbst keinen Schutzraum lassend, alles unbedingt und gnadenlos zu tun, und wenn sie eine Art Seelenverwandtschaft spürt, schon vom ersten Brief an keine Distanz zu kennen! All das deute auf dieses Absolute hin, welches man sonst nur der Liebe zuspricht. Verdichtete Gegenwart, kulminierter Traum.

Diese Koinzidenz, an die sie seit ihrer Kindheit glaubt, davon spricht Schultens auch bei sich, von einer Selbstbetrachtung, seit sie Mitte zwanzig war – ein solcher Selbstfindungsversuch ist zugleich Handwerkszeug, Methode, intuitiver Zugang vielleicht. Über ihr Leben als Praktikantin, an einem falschen Platz, in einem Frankfurter Bürogebäude und möglicherweise erstmals einem Berufsleben, sogenannter Realität also, dem Leben ausgesetzt, fällt ihr Name, ein Vorname, in die zeitversetzte Zwiesprache:

»Ich weiß nichts von Marina.«


Schultens fragt sich auch, anhand der Selbstzeugnisse der Dichterin, ob man den Suizid Zwetajewas im Jahr 1941 in den Schriften kassandrisch präfiguriert nennen könne, ob sie es vielleicht auch deshalb tat, um dem Text rechtzugeben, ihm Rechnung zu tragen. Eine, wie Schultens es ausdrückte, Folgerichtigkeit? Oder folgerichtige Koinzidenz? Manches scheint sich kassandrisch selbst zu schreiben, manches müsse nicht mehr real werden, weil es im Werk schon zu Ende geschrieben und damit vollendet worden sei. Aber könne man den Schriften trauen? Zwetajewa verlautbarte einmal, während der Revolutionsjahre im Zuge eines Spiels, das darum ging, die eigene Zukunft vorherzusagen: »Ich habe zwei Pfosten mit einem Querbalken.«

Reicht dieser Satz als Vorahnung?

Das alles trägt zur Schaffung einer Legende bei, einer Figur, die nicht mehr Mensch, sondern zum Zeichen geworden, Symptom für ein Phänomen ist. Die Vereinnahmung der Texte, um eine vermeintliche Komplizin zu werden, sei schwer zu vermeiden, drohe immer von neuem, auch in der eigenen Recherche.

Eine solche Annäherung, sagt Schultens, sei nicht einfach gewesen. Sie sei auch zu Lebzeiten schon da und zugleich nicht da gewesen, diese abwesende Anwesenheit. Es scheint so, dass, wer mit der Dichterin in Zwiesprache gerate, sich einer ähnlichen Offenlegung auszusetzen habe. Auch vom Briefwechsel her, mit fiktiven Beziehungen, mit vermeintlich fremden Freunden, Dichtern, denen sie schreibe. Da heißt es häufiger:

»Ich bin von Geburt an aus dem Kreis der Menschen, der Gesellschaft ausgestoßen.  [...] Ich habe weder Alter noch Gesicht.« (Im Feuer geschrieben, Brief an die Jerofejews, S. 55/56)


Das Unbedingte, die Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber in isolierter Selbstbetrachtung, lässt sich, laut Schultens, auch in den Briefwechseln finden, die sie als Brief-Lieben bezeichnet. Das Gegenüber wird zu einer Liebe, die anwesend und abwesend zugleich ist. Sie führt Korrespondenz unter anderem mit Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke.

Rilke etwa schreibt sie von Anfang an distanzlos, achtet scheinbar auch nicht auf seinen Gesundheitszustand kurz vor seinem Tod: »Ich bin viele [...] Unzählige, vielleicht!« (Gespräch in Briefen, Brief an Rilke, S. 73)

Die Verflechtung, die Naht, zwischen Werk und Leben erscheint generell, auch beim Gegenüber, als permanenter Konflikt. So zum Beispiel sagt Rilke 1908 im Requiem für eine Freundin, dem Tod Paula Modersohn-Beckers nachgehend:

»Keiner ist weiter. Jedem, der sein Blut
Hinaufhob in ein Werk, das lange wird,
kann es geschehen, daß ers nicht mehr hochhält
und daß es geht nach seiner Schwere, wertlos.
Denn irgendwo ist eine tiefe Feindschaft
zwischen dem Leben und der großen Arbeit.«


Im Vortrag wird nun diese Feindschaft zwischen Liebe und dem Dichter Thema, da sich die Liebe, laut Zwetajewa, laut Schultens, dem Dichter entzieht, weil sie absolut und gänzlich unbeschreibbar sei, unbannbar, und darum den Dichter nicht leiden könne. Dafür leidet er, leidet sie. Am Leben, das doch mit dem Schreiben so vernäht ist. Zwetajewa formuliert es in einem Brief an Rilke so:

»Liebe hasst den Dichter. Sie will nicht verherrlicht werden („selbst herrlich genug“!), sie glaubt ja an ein Absolut, einziges Absolut. Sie traut uns nicht.« (Gespräch in Briefen, Brief an Rilke, S. 83.)


Nachdem er gestorben ist, ist sie es, die eine Art Requiem für ihn schreibt. Aber anders als Rilke in seinem Requiem für eine Freundin, der eine klare Grenze zwischen Leben und Tod zieht und auch nicht möchte, dass sie als Geist erscheine – ist es bei Zwetajewa eher so, als wolle sie den Tod als Schwelle zur Distanz überwinden, fragt Rilke im "Neujahrsbrief" nach seiner Reise – und für sie gibt es dabei keine Grenze:

Weder Trennung noch Zusammentreffen,
Vielmehr beides – Ankunft, Abschied: Kräfte-
Messen – Aug in Auge, immer wieder
Ist’s das erste Mal.


Dieses Gedicht spricht Rilke an als ein Du, das zwar nicht mehr existiere. Aber da sie keine „Scheidung zwischen Geist und Leib“ akzeptiert, schickt sie sich zugleich auf die Reise zu ihm, ohne Zeit und Raum.

Schultens sagt, alles konnte ihr zum Material werden, »Menschen werden zu Flächen erklärt, vereinnahmt, beschrieben«. Nur als Fläche kann man beschrieben werden.

Das Besondere an Zwetajewa ist aber, dass diese Welt der beschriebenen Flächen keinen isolierten Schutzraum biete, es gebe keine Trennung von Dichtung und Leben. Jede Form von Verweilen in die Welt der Imagination als Rückzug hätte sie als feige betrachtet, hieß es. Der Adressat werde zur Maske der Selbstbetrachtung, zu einer vereinnahmenden Bespiegelung. Eine Suche also, ein »Traumgespinst«, ein Fadenwerk, bei dem man selbst nicht übrig bleibt, das – im Gegenüber der Autopsie - seinen Ausgangspunkt und zugleich seinen Endpunkt sucht. Der Faden forme zugleich das künftige Geschehen. Das erkläre die Vorausdeutung, das Kassandrische, die unheimliche Vorahnung, die Suche nach dem Selbst durch Schreiben.

Schultens, selber Mutter, spricht auch über Zwetajewa als Mutter. Sie vergleicht die Handlungen, sie kann nicht ohne Vergleiche leben, wer von beiden? Zwetajewa war, wie alle Mütter, allein mit ihren Kindern. Dem Vorwurf ausgesetzt, sie habe eine Unbedingtheit und Schonungslosigkeit an den Tag legen müssen, wenn sie zwischen Kindspflege und Schreiben zu entscheiden hätte, jeden Tag aufs Neue. Im Zuge der Moskauer Hungersnot 1919 brachte sie ihre zweite Tochter Irina in ein Kinderheim, weil sie dachte, dass sie dort versorgt werden würde, allerdings starb Irina an Unterernährung dann. Zwetajewa habe sich diese Entscheidung niemals verziehen. Ihre nach außen entwickelte Härte und Widerstandsfähigkeit seien keine Anekdote der Literaturgeschichte, sondern beide würden zeigen, wie man dem Leben ausgesetzt ist.

»Niemand hilft mir im Leben, ich habe weder Vater noch Mutter, weder Großmütter noch Großväter, noch Freunde. Ich bin unerhört allein und deshalb – zu allem berechtigt. Selbst zum Verbrechen!« (Im Feuer geschrieben, Brief an die Jerofejews, S. 55)


Diese Ambivalenz zwischen Abhärtung und Sehnsucht nach uneingeschränkter Nähe, nach einer Brücke durch das Schreiben, die doch die physische Distanz nicht überwinde, ist für Zwetajewa bezeichnend. Ein Schutzraum, den Dichtung bieten könnte, wird von ihr durch ihre Unbedingtheit und Unfähigkeit zur Lüge abgelehnt, ja sie formuliert diesen deutlich als Vorwurf gegenüber zeitgenössischen Dichtern:

»Denn darin [in der Liebe] seid ihr Verschwender … Denn ihr heilt euch von allem (von eurem ganzen Selbst, diesem Grauenhaften: dem Unmenschlichen in euch, dem Göttlichen in euch…) durch das einfachste Mittel – die Liebe…« (Marina an Pasternak, zitiert bei Feinstein, 286/287)


Zwetajewa habe sich ausgesetzt, nicht etwa aufgespart, schließt Katharina Schultens. Sich aufgezehrt, niemals eine Lüge in ihrem Leben zulassend, auch wenn das manchmal zu ihrem Nachteil ausgefallen sei. Diese Haltung könnte man heroisch nennen.

Katharina Schultens mit
Anna Shibarova, die die
russischen Originale vortrug.

Fotos: K. Kohm


Nach dem Vortrag wurden Auszüge aus dem Gedicht Poem vom Ende auf sowohl auf Russisch, als auch in der von Schultens präferierten Übersetzung von Hendrik Jackson (Edition per procura, 2003) vorgetragen:

»Brük – ke.

Bist Wohltat, Kraft
Verzweifelter Liebe: Brük–ke:  
Bist Leidenschaft.
Ein einziges Zwischen: Lük–ke.

Ich drük–ke: warm  
Die Rippen – und rücke näher!
Nicht bis  nicht wann !
Ein Durchraum – um Licht zu spähen!

Nicht Arm noch Bein,    
Nein: Hüfte! Sie drückt und drängt sich  
An Dich. Allein    
Mit Dir wird sie ganz lebendig.

Nimmt alles - lebt!
Ist Echo und Ohr und Weite!
Sie bebt – sie klebt
(Wie Eigelb am Weiß) – die Seite –«

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