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Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft

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Stefan Hölscher

Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2020. 72 Seiten. 19,90 Euro.

Warum wir Lyrik lesen

  
Vier Jahre nach seinem vielbeachteten und sicher immer noch sehr lesenswerten Lyrik Debutband „Flüchtige Monde“ erscheint nun pünktlich zur coronabedingt nicht wirklich stattfindenden Frankfurter Buchmesse der zweite Lyrikband von Yevgeniy Breyger: „Gestohlene Luft“ – wie schon das Debut bei kookbooks, Berlin. Die Gedichte des nur gut 70 Seiten umfassenden Bandes kreisen um das Themenzentrum Entstehen, Werden, Entwickeln, Berühren, Bewegen, Vergehen. Sie tun das in einem ganz persönlich-individuellen Sinn, bei dem hinter dem lyrischen Ich offenkundig auch das Ich des Autors durchscheint: so etwa in dem Startgedicht „Noch fünf Tage“ oder dem am Ende des Bandes stehenden „Mit sieben Augen aufgewacht und keines sieht.“ Sie tun dies aber auch, indem vor allem in den Gedichten des Zyklus „Königreiche“ individuelles Sein und Werden in einer geradezu mystisch-mythologischen Prähistorie eingebettet werden, in der die Grenzen zwischen Individuum und Welt, zwischen Mensch und Tier, zwischen Sanftheit und Gewalt, zwischen Begehren und Abstoßen fast vollständig verschwimmen. Durchaus konträr zeigt sich auch der formale Zuschnitt der Gedichte: Da gibt es diejenigen, die in fest gefügten Formen daherkommen, wie die Gedichte in den Kapiteln „Noch fünf Tage“, „Königreiche“, „Erfinden“ sowie am Endes des Bandes „Muttergeist beim Abendmahl“ und „Mit sieben Augen aufgewacht und keines sieht“. Und es gibt Texte, die in freien, zum Teil wie assoziativ ausgefranst wirkenden Formen ihren Weg vom Dichter zum Lesenden suchen, wie besonders die Gedichte in „Zwölf Esel und die Zinsbibel“, aber auch in „Nachsicht, Ente!“.

Nicht wenige der in „Gestohlene Luft“ versammelten Gedichte sind in den vergangenen Jahren schon an anderen Stellen veröffentlicht worden, wie etwa dem „Jahrbuch der Lyrik“ („Noch fünf Tage“, „Offen spricht dein Seelentier“), in Internetforen („Ein liebes Gesicht“) oder im Zusammenhang mit dem von Breyger 2019 gewonnenen Leonce-und-Lena-Preis („Königreiche“). Etliche der Texte habe ich aber nun zum ersten Mal gesehen, und neu ist ja auf jeden Fall die Gesamtschau und das Arrangement von Breygers in den letzten Jahren entstandenen Gedichten als thematisch gefügter Konnex, der in dem Buch auch durch die einerseits ganz schlichten, anderer-seits assoziativ hoch aufgeladenen und in ein puristisches Schwarz-Weiß gesetzten geometrischen Figuren von Andreas Töpfer bildlich gestützt wird, bei denen sich an weibliche Fruchtbarkeit, sich öffnende Räume, an Geburt, embryonales Zusammengekauertsein oder kosmische Grundelemente denken ließe.

Über Breygers Gedichte werden oft Dinge gesagt wie: sie würden eine verbal gar nicht dekodierbare Atmosphäre erschaffen; sie würden wie ein eingerollter Igel die Suche nach Schutz und das Stacheln nach außen zum Ausdruck bringen, oder, wie es jüngst im Zusammenhang mit einer Lesung Breygers in Dresden Jan Kuhlbrodt formuliert hat, sie seien „wie eine kabbalistische Beschwörung. Mystik, die sich ins Absurde wendet, aus dem Absurden aber auch wieder heraus.“ All das, wie auch das Statement von Kuhlbrodt, der Breyger als „mit allen rhythmischen Wassern gewaschen“ wahrnimmt, würde ich unterschreiben. Aber was passiert da eigentlich in diesen Texten, die einen, sofern man über lyrische Nerven verfügt und sich die Zeit nimmt, sie ein wenig auf sich wirken zu lassen, in starke Schwingung versetzen, ohne dass sie sich irgendwie greifen ließen?

Zoom: Rätsel der schwankenden Reiche

Legt man die Maßstäbe normalen Verstehens an, sind Breygers Gedichte voller Rätsel, die sich beharrlich jeder klaren Antwort entziehen. Man könnte fast jede Passage jedes Gedichts als Beispiel dafür heranziehen. Hier etwa die erste Strophe des den Zyklus „Königreiche“ abschließenden Gedichts:

Königreich des weiten Wegs

Du hast sie gekannt. Sie war still, hat Gebirge verschluckt
mit dem Blick. Wie Wasserlilien im Dunkeln dich streifen,
sich in Portale verwandeln zu Ängsten, hat sie dich berührt.
Wie ein Punkt, ein gesprochenes Wort, gehört sie zu dir.

Gleich der Beginn des ersten Verses „Du hast sie gekannt. Sie war still,“ scheint rätselhaft. Wer ist „sie“? Die Mutter, die Natur, der Urgrund des Seins…? „Sie“ scheint unfassbar mächtig zu sein, wie wir sogleich erfahren, denn sie „hat Gebirge verschluckt“. Wir könnten ein Ungeheuer, eine Sphinx oder Göttin erwarten, doch die nächste Wendung bringt sofort das nächste Rätsel: „mit dem Blick“ – „Sie …hat Gebirge verschluckt mit dem Blick.“ Hat also schon allein ihr Blick genügt, Gebirge zu verschlucken, oder war es nur mit dem Blick, dass sie sie zu verschlucken schien, eine Art von Einbildung oder Projektion des Betrachters? Während wir uns derlei Fragen stellen könnten, folgen direkt die nächsten scheinbar disparaten Bilder: „Wie Wasserlilien im Dunkeln dich streifen“. Da sind wir offenbar weit weg von den „Gebirgen“, weg von dem Festen, Harten, Verschluckten in einer Welt des Fließenden, in der es nun auch plötzlich ein „Du“ gibt, das die Lilien im Dunkel des Wassers streifen. Und damit scheint nun die sphinxartige Macht des Anfangsteils zu etwas sanft Berührendem zu werden. Doch das unmittelbar folgende „sich in Portale verwandeln zu Ängsten“, bringt schon die nächste Wendung: das scheinbar friedliche und harmonische Streifen der Wasserlilien „verwandelt“ sich „zu Ängsten“. Und so, in dieser unauflösbaren Verbindung von schützender(?) Macht, fließender Sanftheit und „Ängsten“ „hat sie dich berührt. Wie ein Punkt, ein gesprochenes Wort, gehört sie zu dir.“ Und wieder können wir fragen: wer / was ist es, was zu dir gehört – so wie ein Punkt, der etwas beendet oder ein „gesprochenes Wort“, das etwas bewegen kann?

In der letzten Strophe des Gedichts erfahren wir: „Sie zieht aus mit verschlossener Lunge, offenem Mund auf der Suche nach Holz für ein Nest.“ Sie scheint also (wie) ein Vogel zu sein. Doch direkt danach heißt es: „Weil sie fliegt, ist sie schwer“ und spätestens damit sehen wir erneut, dass das Rätselhafte hier nicht in herkömmlichen Verstehensbahnen auflösbar ist. Das Gedicht schließt:

Dieser fremde Moment, wenn du wach wirst
im Traum als ein Strich und der Traum dir gehorcht,
eine Inschrift sich fügt in das Bild ihrer offenen Hand,
sich erschöpft in der Frage – Wo warst du bei deiner Geburt?

Die das Gedicht und damit den ganzen Zyklus abschließende Frage ist nun allerdings weit weniger ein Abschluss als ein Einmünden in ein Meer von Fragen: Was ist die „Geburt“? Ist es der Moment des Auf-die-Welt-kommens, des Getrenntwerdens aus einer ursprünglichen Einheit, des Zu-sich-Findens, des Bewusstwerdens von so etwas wie einer eigenen Bestimmung …? Und was ist das „Du“, von dem hier die Rede ist? Eine körperlich spezifizierbare Größe, ein Wesen mit Bewusstheit oder Unbewusstsein, das lyrische Ich, die lesende Person …?  Und wenn das „Du“, was auch immer es nun genau sein mag, schon nicht bei seiner „Geburt“ dabei war, wo war es dann dabei? Wo kann es überhaupt dabei gewesen sein? Was bedeutet Anwesenheit, und wo ist der Ort der Gegenwart?  

All dies sind Fragen, die sich während der Lektüre stellen könnten – einem Teil des Bewusstseins beim Lesen. Breygers Gedichte sind aber keine extrakniffligen Knobel- oder Quizspiele. Sie tragen die Lesenden auf ihren sprachmagischen Wellen in eine Art Trance, in der das Vor- und Unbewusste mehr und mehr die Bewegung bestimmt und der nach klaren Antworten fahndende Verstand zwar wach bleibt mit seinen Fragen, seinen Hypothesen, seinen Antworterprobungen und seinem Sinn für Widersprüche, zugleich aber die Bereitschaft steigt, sich anderem zu überlassen, das sich jenseits des Reichs binärer Logik befindet: einem prälogischen und präkognitiven Kraftfeld, das den sprachrhythmischen Wogen zugrunde liegt.     

Schon der Titel des Bandes, „Gestohlene Luft“, kann hier als pars pro toto stehen: Wer oder was hat die Luft gestohlen? Kann man Luft überhaupt stehlen? Und wenn sie gestohlen wurde, kann man dann noch sprechen, gar Lyrisches aussprechen? Wie soll das gehen, was ist hier gemeint, so könnten wir uns fragen, während etwas in uns, vielleicht zugleich eine Ahnung, zu atmen beginnt, wie es ist, in einer Atmosphäre gestohlener Luft sein Dasein zu verbringen.


Zoom: „Ein Podest aus Rotz

In ihrer kognitiv unauflösbaren Rätselhaftigkeit haben Breygers Gedichte etwas stark Hermetisches. Doch so, wie fast keine Hypothese, die der lesende Verstand unterwegs auf dem Weg durch die Gedichte, bilden kann, festen Bestand beanspruchen kann, so ist auch das Attribut des Hermetischen in Bezug auf Breygers Gedichte alles andere als erschöpfend. Ihm steht entgegen, dass es in den Texten kontinuierlich einen durchaus beißenden, stacheligen Witz gibt, der jedes Absinken in hohen hermetischen Ernst vereitelt. Breyger piekst die Lesenden, aber vor allem piekst er sich selbst, wenn man das lyrische Ich mal in die Nähe des Autors rücken möchte.

Das Gedicht „Noch fünf Tage“ etwa wimmelt von solchen Selbst-Pieksern. Sein Teil I geht so:

es war der mai, an dem das innere nach außen drängte.
ein grüner panzerkäfer rief mich namentlich,
ich kannte meinen namen nicht.
saß blöd im schlauchboot, trieb zu mutter.

das meer in meinem hemd blieb schwarz.
und ich? wie mutter längst
von faulheit überwachsen, hastig,
biss käferbeinchen ab beim wandern.

das schlauchboot war mein alter ego kleines mädchen,
mehr zahnlücke als zopf und magenblind.
schon damals immer noch ein kind war ich
und wusch aus bosheit bloß die andern.

Und Teil II treibt die Stacheln durchaus noch mal tiefer:

vor fünfzehn jahren, im spiegel, sah ich
die kommenden verrisse. ein kiosk um die ecke
war für mich die welt. ich hatte mich
auf ein podest aus rotz gestellt und rief: du wurst

im glas. wie zärtlich pustest du dir wimpern von den finger-
kuppen vorm schlafengehen, wenn du betest?
wie überzärtlich schwitzen deine hände als heimliches
exil deiner fiesesten wünsche?

Der selbst-pieksende Stachel mutiert hier unversehens, wie in der zweiten Strophe deutlich wird, zu „Wimpern“, die „zärtlich“ „von den Fingerkuppen“ weggepustet werden. Immer wieder zeigt sich in Breygers Gedichten ein zartes, hochempfindsames und höchst verletzliches Wesen als die andere Seite der „rotzig“-kecken Stacheligkeit. Doch auch das lässt Breyger so nicht stehen: Sofort wird aus dem zärtlichen Pusten ein „überzärtlich schwitzen“, noch dazu „als heimliches Exil deiner fiesesten Wünsche“. Schneller als der Leser gucken kann, verwandelt sich Rotz in Sanftheit und wieder zurück.

Und selbst wenn, wie in „Noch fünf Tage“, der vierte und letzte Teil des Gedichts eine deutlich sehnsüchtig-melancholische Saite zum Schwingen bringt, kann man als Leser den Geruch vom „Rotz“ nun schon nicht mehr ganz vergessen:

war zwischen uns zu viel: was wahr ist, war.
was rast, verschiebt gemeinsamzeit auf bald.
ohne dich ist mir kalt. mir fällt auf, die heizung
riecht so lang bereits nach terpentin.

ich würde gern gehen und lege mich daneben.
draußen sirenen, kontaminiertes wasser,
ein freies elektron dringt in einen fisch.
was wird das für ein leben?

Die scheinbare Ruhe drinnen ist offenbar alles andere als ungetrübt, denn da sind „draußen sirenen“ und „kontaminiertes wasser“, in dem dies alles sich bewegt. Und ob das „freie elektron“, das in den „fisch“ dringt, wärmende Verbindung, sanfte Gelassenheit, stechende Verletzung bringt oder das alles zugleich – was wohl am ehesten Breyger-typisch wäre – bleibt hier gänzlich offen, wie die letzten Worte nahelegen: „was wird das für ein leben?“


Zoom: „Gedanken wie quirlige Biber“

Auch wenn Breyger ein Meister darin ist, Gedanken im Fluss zu wenden, und ihnen dadurch immer wieder neuen Sinn zu geben wie zu stehlen, sodass einem schon beim Zuschauen schwindelig werden könnte, finden sich in seinen Gedichten zahlreiche Wendungen, die – für sich betrachtet – ideenschillernd sind. Als da wären zum Beispiel:  

·        wie überzärtlich schwitzen deine hände als heimliches exil deiner fiesesten wünsche?
 
·        das ist wie wenn ein alter mann sich selbst im krankenzimmer liebt
 
·        Am Flusslauf warten sie wie Augen
 
·        Folgsam schwanken Bäume, duldsam zanken Träume
 
·        Der Tag wird von Scherben zu Abend getragen
 
·        Im Fisch ist ein Zimmer, das du nie verlässt
 
·        Das Haus ist beheizt, doch die Kälte sitzt unter der Luft
 
·        mein herz ist eine sammelurne für blicke panischer insekten
 
·        Ein liebes Gesicht zu schminken im Geiste der Forschung
 
·        Es spricht deine Sprache, das Altern. Wie albern
 
·        Sieben Mäntel auf meinen Schultern, ohne mich zu schmücken
 
·        Die Tage hatten Saugnäpfe an den Flossen und keine Scheu zu saugen.
 
·        Richtig ist, den Gesunden ihre Blödheit vorzuführen
 
·        fällt ein Blütenblatt ins Gras, steckt das Grün mit Abschied an
 
·        Wer mir dein Geheimnis nennt, wird mit Liebe ausradiert
 
·        Lieber krank als ausgehöhlt
 
·        Wach, weil Schlaf für Dumme ist
 
·        Mit sieben Augen aufgewacht und keines sieht
 
·        Ich sitz im Bett wie ein Magnet. Ich falte mich wie Rinde im Familienstamm
 
·        Die Wege meiner Eltern sind ergründlich, sie führen über Deutschland auf Touristeninseln

· Mein Mädchen schläft als Fledermaus in ein er Hängematte, ich liebe sie, weil sie kopfüber
aussieht wie ein Kranich

·        Erwachsenwerden ist den Groben vorbehalten

So quirlig und mitunter aberwitzig diese Gedanken nun auch daherkommen: es scheint ihnen ein Anspruch zu eigen, als dürfte sich keinerlei Zweifel regen an dem, was sie besagen. Sie tragen etwas fast Apodiktisches an sich; und darin liegt noch nicht einmal ein Widerspruch zu ihrer Quirligkeit: denn ihre Bestimmtheit gilt genau für den Moment und genau in dem sprachlichen Umfeld, in dem sie in Erscheinung treten und uns begegnen. Begegnen wie abgezockte Zaubersprüche.


Zoom: Sprüche wie spitze Steine

Vor allem da, wo sich Breyger in seinen Texten fester Formen bedient, wird die Nähe zur Spruchdichtung, zum magischen Zauberspruch überdeutlich. Hiervon leben etwa die Kurztexte in dem Kapitel „Erfinden“, wie beispielsweise:

ich habe eine liebe mutter
sie lässt mich bei den steinen schlafen
verrate ich ihr meinen namen
erklärt sie mir die sonnenwende
am abend zähle ich die sterne
die mich an ihr gesicht erinnern

ich fürchte mich vor jedem anfang

Nicht nur die Rhythmisierung der Kurzverse, die Fülle der Assonanzen (vor allem über das „a“), die Reduktion auf elementares Vokabular („Mutter“, „Steine“, „schlafen“ „Namen“ …), sondern insbesondere auch die Verbindung der hier eröffneten Wortfelder („Steine – schlafen“, „“Namen – Sonnenwende“ …) schafft ein Netz magischer Bezüge, durch das sich das lyrische Ich mit seinem lesenden Konterpart zu einem anderen trans-, sur- oder subrealen Ort hinbewegt.   

Die Nähe zur Wortmagie zeigen dabei gerade auch die längeren Gedichte am Anfang und am Ende des Bandes („Noch fünf Tage“, „Muttergeist beim Abendmahl“). So lautet der Beginn des „Muttergeist“-Kapitels:

Offen spricht dein Seelentier,
menschlich seine Augenzahl.
Mitten durch die Zellmembran,
küsst sich ein geheimer Wind,

trittst du in mein Leben ein.

Wer mir dein Geheimnis nennt,
wird mit Liebe ausradiert.
Sieben freie Jahre lang,
dumme kurze Tage lang

achtsam sein als Todesgott

Was hier durch die Magie von Rhythmus, Klang und Form bewirkt wird, ist etwas sehr Sonderbares: Obwohl man die einzelnen inhaltlichen Elemente, die hier auftauchen („Seelentier“, „Augenzahl“, „Zellmembran“, „geheimer Wind“, „mit Liebe ausradiert“, „Todesgott“ etc.) als rätselhaft disparat in ihrer Verbindung betrachten könnte, gewinnt das ganze Ensemble doch die Kraft einer Notwendigkeit, die in der Sprache und hinter der Sprache zu liegen scheint, obwohl sie sich zugleich jedem Versuch einer eindeutigen Referenzbestimmung entschieden entzieht. Es hat gerade da, wo die extrem wendigen und seltsam anmutenden Bewegungen sich in feste Formen fügen, den Anschein, als ob genau das, was da steht, auch da zu stehen hat, kein Wort zu wenig, keines zu viel, jedes an genau seinem Platz (obwohl uns Breyger ja mit seinen kühnen Sprüngen ständig zeigt, dass es anders weitergeht als gedacht). Was wie ein Widerspruch klingt und für den kognitiv arbeitenden Verstand wohl auch ein Widerspruch bleibt.

Womit wir es in den Gedichten von Breyger intensiv zu tun bekommen, ist also das Verbinden scheinbarer Gegensätze: Die Texte sind absurd und in höchstem Maße ernst zugleich; sie hören nicht auf zu pieksen und bezeugen dabei eine verletzliche Zartheit; sie bringen einen Gedanken an und stoßen ihn sogleich wieder um; sie geben uns etwas an die Hand und nehmen es uns sofort wieder weg; sie sind voller Komplexität und elementarer Sinnlichkeit zur gleichen Zeit; sie verbinden, was sonst nicht vereinbar zu sein scheint und brechen die Bindung im nächsten Moment rau wieder auf; sie sind getragen von einem Sehnen nach Kindlichkeit und sind mit hoher Selbstbewusstheit unerhört reif. Das alles ist wie Zauberei; und das ist, warum wir Lyrik lesen.   


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