Wolfgang Schiffer: Dass die Erde einen Buckel werfe
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Barbara Zeizinger
Wolfgang
Schiffer: Dass die Erde einen Buckel werfe. Gedichte. Nettetal (ELIF Verlag)
2022. 60 Seiten. 18,00 Euro.
Erinnerungen und die Suche nach dem Zauberwort
Wieso
erinnere ich mich? fragt
Wolfgang Schiffer in seinem neuen Gedichtband Dass die Erde einen Buckel
werfe. Ein paar Seiten weiter sucht der Autor nach Erklärungen, doch fehlt
ihm die Gewissheit, dass es so sei:
suche ich das Dorf meiner Kindheit als Trostim mir unübersichtlichen Heute / im Schrecken des Jetzt?gehe ich zurück / weil mir die Welt zu großgeworden ist oder ich mir zu klein?
Die
beschriebenen Erinnerungen sind allerdings nicht nur ein Trost, sondern auch
ein poetisches Bewusstwerden, warum das lyrische Ich, warum der Autor so
geworden ist, wie er ist. Gleichzeitig sind die langen Gedichte eine Hommage an
seine Eltern. An seinen Vater und seine Mutter, die er als junger Mensch nicht
immer verstand, mehr noch, deren er sich schämte.
vor allem aber schämte ich mich meines Vaters /der im Dorf den Dreck der anderen von den Straßen kehrte /der kleingeblümten Schürze meiner Mutter /die sie immerzu vor Brust und Bauch und Schenkeln trug /
Er
schämte sich, weil die Eltern arm waren und erst später, als er sich durch
Schule und Ausbildung von den dörflichen Struk-turen gelöst und mit
Gleichgesinnten (ich nehme an bei der Studentenbewegung) für die Herrschaft
des Proletariats gekämpft hatte, ändert sich sein Blick und er schreibt: schämte
ich mich meiner Scham. Und: wie nur hatte ich den Reichtum meiner Eltern
nicht sehen können?
Der
besteht nicht aus Materiellem, sondern aus Liebe, aus Solidarität dem Kind
gegenüber, indem
er der Vater /der den Lehrer zur Rede stellt
oder
wenn die Mutter in einer Metzgerei ausgesetzt ist
den schiefen Blicken anderer Frauen / weil im Dorf ein Wahlplakatder CDU warnte vor mir / ihrem Sohn / dem Kommunisten /dem Anarchisten / dem roten Studentenpack / wollt ihr den? /
Der
Titel des letzten Gedichtes in dem Band lautet Schwierigkeiten beim
Schreiben von Gedichten. Darin bittet Wolfgang Schiffer den Leser, die
Leserin selbst weiterzuschreiben, weil er nicht mehr die Kraft habe, die
zahlreichen Verwerfungen unserer Zeit festzuhalten. Denn neben den Texten
voller Erinnerungen werden in den Gedichten auch die negativen politischen und
gesellschaftlichen Entwicklungen thematisiert. So erinnert er sich in dem eindrucksvollen
Gedicht Ich sehe mich im Spiegel an die Zeit als er Flugblätter druckte,
Banner hochhielt und Verse schrieb, die aufrütteln sollten.
Wörter wie Stacheln erfindengegen die Wirklichkeit
Aber
heute ist er sich nicht mehr sicher, ob er noch an die Kraft der Wörter glauben
kann.
ach / gäbe es doch das Wort / das eine neue Weltenordnung schüfe /ein Wort nur / das / gesprochen wie ein Zauberwort / uns leben ließean einem Ort / wo Freiheit mehr ist als der hemmungslose Gebrauchvon Smartphones
Jedes
Detail sei notwendig, weil diese Welt sonst verschwinden würde, hat Peter
Kurzeck einmal gesagt. Wolfgang Schiffer nennt in seinen Texten zahlreiche
Details, er scheint alles festhalten zu wollen, die Erinnerungen und die
Gefahren, die unserer Zukunft drohen. Doch dies ist für ihn kein Selbstzweck,
sondern hinter all dem steckt der Wunsch, zu erkennen, was in unserer Welt
wesentlich und human ist. In einer Welt, in der die Sprache und die Wörter noch
die Kraft haben, etwas zu verändern.
Überhaupt
die Sprache. In einem der kurzen Prosatexte, die mit den Gedichten eine Einheit
bilden, hat er als dritte Form Speisepläne hinzugefügt, sogenannte
Wochenkarten, in denen er sowohl hochdeutsch als auch in einem Versuch einer
muttersprachlichen Rekonstruktion (De Weäkkaart / ens zo af zo mooendaachs)
aufführt, was die Familie eine Woche lang gegessen hat. Auch der Dialekt soll
nicht vergessen werden.
Der
Band enthält sieben Abschnitte und jeder Abschnitt besteht aus jeweils drei
Teilen, einem kurzen Prosatext, einem Wochenplan und einem langen Gedicht. So
tragen vielleicht die strenge Form und die magische Zahl sieben dazu bei, die
beschriebene Welt eine Zeit lang zusammenzuhalten, wenn sich Wolfgang Schiffer
auch wundert,
dass die Erde immernoch keine Buckel wirft / um uns von sich zu werfen