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Ursula Maria Wartmann: Am Ende der Sichtachse

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Monika Littau

Ursula Maria Wartmann: Am Ende der Sichtachse. Gedichte. Norderstedt (edition offenes feld) 2021. 100 Seiten. 19,50 Euro.

Okulare und Kanäle


In ihrem neuen Lyrikband führt uns Ursula Maria Wartmann ans „Ende der Sichtachse“. Wir wissen nicht, was sich an diesem Ort befindet, ob es der Punkt ist, wo die Sonne am Horizont auf- oder untergeht. Ob es sich um die markierte Stelle im Hamburger Stadtplan handelt, wo der Sprengmeister bereits den Sprengstoff angebracht hat und das Gebäude, vermutlich das Millerntor-Hochhaus, „in blitzschnelle Tiefe rauscht(e)“. Auch nach der Sprengung bleibt das Ende der Sichtachse markiert, vermutlich für neue Pläne.

Die Stiche des niederländischen Graveurs, Zeichners und Malers Gallis von Scheyndel (1635-1678), die auf dem Cover und vor Beginn der jeweiligen Kapitel des Buches zu finden sind, suggerieren, dass die Gedichte eine Genauigkeit im Umgang mit der Welt anstreben: des Meeres, der Landschaft, der Gebäude und der winzigen Menschen, die sich in der Landschaft entdecken lassen, Menschen, oft im Gespräch miteinander, bei der Arbeit oder beim Schlittschuhlaufen. Die Bilder legen nahe, dass sich ein Ende der Sichtachse finden und verorten lässt.

Aber Ursula Maria Wartmann ist keine Vermesserin, die mit technischem Gerät hantiert, nach Achsen, Entfernungen, Winkeln sucht, so dass sich vermuten lässt, die Gedichte umkreisen Orte, die überhaupt nicht sichtbar und fassbar sind, vielmehr nur behutsam aufscheinen:

Nachts wird die Geschichte weitererzählt
wenn du das Fühlen von der Leine
lässt von Schmerz von Gewalt unterm
Lebendrupf wirst du erfrieren dein Zittern
wird dich die Nacht entlang tragen …“
(S.16)

Auf dünnem Seil“ heißt dieses für das erste Kapitel titelgebende Gedicht. Insgesamt gibt es fünf Zitate, unter die die Autorin ihre Texte bündelt. Im ersten Kapitel behandelt sie existenzielle Themen, spricht über den Tod zweier Kinder und die Trauer der Eltern, spricht über den Krieg und die Belastungen, die er nach sich zieht: „Unsere Koffer sind ramponiert/ randvoll mit dem Schweigen der Mütter“ (S. 14) heißt es da. Die Lyrikerin spricht über die Schuld der Großmütter, „die Skrupel streichen sie mit knotigen Fingern/ am steifen Brokat der Vorhänge ab“ (S. 17).

Immer wieder geht es um die innere Kraft und die fehlende Wärme:
Das Weltenherz pumpt Kälte“ heißt es da (S. 18), oder „der Herzmuskel taumelt/ unter dem wütenden/ Brennen nach/Schutz nach/ Zuhause.“ (S.19)

Heilung gibt es weder in der Herkunftsfamilie und „klassischen“ Familie, noch im „Kirchenschiff“. Zitiert werden im zweiten Kapitel Orte der Gewalt und des Missbrauchs: „das Schweigen“, heißt es dort, „sagt man, ist die Siegerin der Lüge“ (S. 27). Das Abschlachten von Frau und Kind wird euphemistisch zum „erweiterten Selbstmord“ deklariert. Eine Spirale beginnt sich zu drehen, Gewalt löst Gewaltphantasien ab. „Schluck, du Luder“ steht auf dem Altpapierfahrzeug. Die beobachtende Frau

„(…) lädt ihren Hass in Ruhe
durch und trifft beim ersten Mal

Das Grinsen platzt hinter der Schreibe
weg wie eine reife Melone…
        
Gejagte fliehen, Frauen singen „Lieder von Freiheit“, lassen die Bombe hochgehen, die den Herrschenden ein Ende bereitet. (S. 37)

Glückliche Momente finden sich nur „Auf dem Weg zu dir“ – so der Titel des dritten Kapitels – wenn „das hungrige Herztier/ hinter dem Rippenbogen/ grast“ (S. 43), wenn das lyrische Ich die Tür zur Waldlichtung aufstößt und auf dem Weg zu seinem Gegenüber ist, sich des Innersten gewahr werdend, und dabei „(…) dein Lächeln/ wie Quecksilber über/ mein Herzrot“ rollt. Es ist die lesbische Liebe, die den Geschmack der Süße bringt, wenn „Unter dem Gaumen die/ warme Runzelknospe der Brust“ (S. 47) Süße verspricht, Bereitschaft zu Milde und Wachstum in der Beziehung erhoffen lässt (S. 48).

Im vierten Kapitel richtet die Autorin ihr Augenmerk auf die Natur, die ökologischen Probleme, den möglichen Untergang. Borkenkäfer zerstören Wälder, Wale verenden, nukleare Endlager werden nicht gefunden, Fluten bedrohen Menschen. Und trotzdem flackern

„Träume wie schwarze
Dochte wir fahren hinaus wir
fischen sie von den Schaumkronen
mit sperrigen Netzen wir
schicken sie in die Umlaufbahn
der Hoffnung (…)“ (S. 65)
          
Das letzte Kapitel des Buches trägt den Titel „Im Süden traurig sein“. Nicht ohne Trauer, aber mit der Gewissheit zu bleiben, endet der Lyrikband.

Ich werfe mein Sehnen
mit weitem Arm in
die Zukunft wie
einen Anker. Hier
bleibe ich …“ (S. 91-92)        

Und auch im Winter findet sich Hoffnung: „…Unsere Träume/ fädeln wir am Ofen zum Trocknen auf/so gehen sie uns nicht verloren.“ (S.97)

Ursula Maria Wartmann ist von Hause aus Journalistin und begann ihre literarische Arbeit zunächst mit Erzählungen und Romanen. Seit 2019, also erst seit kürzester Zeit, schreibt sie auch Lyrik. „Am Ende der Sichtachse“ ist nach „Gegen acht im Park“ (2020) der zweite Gedichtband, der in der edition offenes feld von ihr erscheint. Den ersten Texten des neuen Buches spürt man die Journalistin noch ein wenig an, hat man den Eindruck, dass Ursula Maria Wartmann auf Presseberichte, auf Bilder reagiert und die Ecken auszuleuchten versucht, für die im Journal kein Platz ist. Sie geht deutlich über die Sichtachse hinaus, ist auf der Suche nach der persönlichen Wahrheit, der „Herzenswahrheit“. Selten habe ich in jüngster Zeit einen Lyrikband gelesen, in dem so oft das Wort Herz vorkommt, ohne zu belasten, ohne pathetisch zu werden. Ursula Maria Wartmann scheut sich nicht, diese Metapher zu verwenden, stellt sie in Kontexte, die mit starker Metaphorik ein Gesamtbild eingehen. Sie belauscht die Katzen „die sich durch Hunger wühlten wie wir und durch unsere Träume“, sie durchschreitet Räume voller „taunasser Streuobstwiesen der Angst“ (S. 14) und auch voller Hoffnung.

In freien Rhythmen, die den sprachlichen Eindruck mit Alliterationen und Parallelismen, einem Zeilenbau, der Ambivalenzen aufzeigt und Bedeutungsverschiebungen bewirkt, geht sie bewusst dorthin, wo nicht mit dem Auge betrachtet wird, zumindest nicht ausschließlich. Man sieht nur in der Lyrik gut, könnte man am Ende bestätigen. Die Gedichte von Ursula Maria Wartmann sind zugleich Okulare, um tiefer in die Welt zu schauen, und auch Kanäle, durch die etwas Neues in die Welt eintreten will.


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