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Ursula Andkjær Olsen: ist das mein kind, ist das meine mutter

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Monika Vasik

Ursula Andkjær Olsen: ist das mein kind, ist das meine mutter – Auszüge aus Mit smykkeskrin. Aus dem Dänischen von Clara Sondermann. München (hochroth München) 2022. 54 Seiten. 8,00 Euro.

„aber trotzdem / fehlt etwas“


„irgendwo
in sich
die erinnerung haben
aus mindestens zwei
zusammenhängenden organismen
bestanden zu haben
der eine im anderen
der sich daran erinnert, in einem dritten gewesen zu sein
sich vielleicht erinnert

eine zivilisation aus ketten aus mindestens zwei organismen“

Ursula Andkjær Olsen zählt zu den heute bekanntesten zeitgenössischen Lyriker:innen Dänemarks und gilt vielen als Erneuerin der dänischen Poesie. Sie hat zudem etliche Opernlibretti und einen Roman verfasst. Debütiert hat sie mit ihrem 2000 publizierten Lyrikband „Lulus sange og taler“ (Lulus Lieder und Reden). Seither sind elf weitere Gedichtbände erschienen, zuletzt 2020 „Mit smykkeskrin“ (Mein Schmuckkästchen). Die in Klammer gesetzten deutschen Titel sind KI-generiert, weil ich des Dänischen nicht mächtig bin und täuschen möglicherweise vor, dass Werke der für die aktuelle dänische Lyrikszene nicht ganz unbedeutenden Dichterin in deutscher Sprache bereits verfügbar sind. Mitnichten! Wohl gibt es auf Lyrikline einzelne von Moritz Schramm ins Deutsche übertragene Texte zum Nachlesen, doch bislang keine Einzelpublikation. Abhilfe verschafft nun dieser schmale, bei hochroth München erschienene Band. [Einziger Einwand: Ich schätze es, wenn Bücher bei normalem Gebrauch nicht in Einzelblätter zerfleddern! Mein Exemplar löste sich allerdings bereits beim ersten Aufklappen in seine Einzelteile auf, was bei den nicht vorhandenen Seitenzahlen eine gewisse logistische Herausforderung darstellte].
               Es handelt sich bei diesem Bändchen um eine Auswahl aus dem letzten Lyrikband „Mit smykkeskrin“, die die Lyrikerin gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Clara Sondermann traf, wie wir im Nachwort erfahren. Die vorliegende Ausgabe ist einsprachig, die dänischen Originale sind leider nicht abgedruckt.
        Ursula Andkjær Olsen kommt aus der Welt der klassischen Musik. Ich finde es oft spannend, wenn Literaturschaffende gerade nicht aus den recht häufigen Zusammenhängen heraus schreiben, also Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft studieren und dann dichten, oder eines der Literaturinstitute besuchen und dann mit dem Publizieren von Gedichtbänden beginnen, weil das Ergebnis, nämlich die entstandene Dichtung, mir gelegentlich ein wenig blutleer erscheint. Hingegen schätze ich es, wenn Gedichte, wenn Assoziationen und Fügungen durch das Leben gefärbt, durch andere, bunte Lebenswelten und Impulse bereichert werden. Andkjær Olsen wollte zunächst Pianistin werden und hat dann Musikwissenschaft studiert. Sie komponiert ihre Gedichtbände nach einem Konzept, das musikalischen Prinzipien folgt. Jeder Band besteht nicht aus einer Sammlung abgeschlossener Gedichteinheiten, wo eine der anderen folgt, etwa wie in einem Liederbuch. Dies wird auf den ersten Blick bereits deutlich, u.a. durch die durchgehende Kleinschreibung, das Fehlen von (Zwischen)Titeln oder die Tatsache, dass manche Texte für sich allein fragmentarisch wirken, durch Pausen durchsetzt sind, doch beim Lesen ineinander zu fließen scheinen. Die Lyrikerin setzt ein Thema, das den Gedichtband durchzieht und durch Phrasen/Verse, vor allem aber durch Motive strukturiert wird, die sie wiederholt und variiert, erweitert und fortspinnt, gelegentlich imitiert und spiegelt, Verfahren, die jenen ähneln, die in der Musik angewandt werden. Ihre Gedichte sind unterschiedlich lang, bestehen manchmal nur aus ein bis drei Versen, die etwas längeren sind durchaus eigenwillig in Strophen gegliedert, was den Texten eine eigene Art der Körperlichkeit mit musikalischen Anklängen verleiht, veranschaulicht etwa im folgenden, hier vollständig abgedruckten Text:

„vergessen
dass ich anders sein kann

muss
muss

muss

muss“

Das Gedicht wirkt wie ein Fragment, das aber nicht isoliert ist, weil es Teil eines lyrischen Fließens ist oder, um ein anderes Bild, jenes des Anfangsgedichts, aufzugreifen, „eine zivilisation aus ketten“ verdeutlicht, in der die Gedichte als Glieder orga-nisch ineinandergreifen und eine polyphone (Gedicht)Kette bilden. Das einsilbige „muss“, das hier vier Mal wieder holt wird, lässt mich an Schlaginstrumente denken, jedoch nicht an den hellen Klang eines Glockenspiels, sondern eher an den dunklen einer Pauke, die für das harmonische Gerüst in Orchestern zuständig ist und hier klanglich den Eindruck eines Mantras entstehen lässt in einem Akt der Selbstvergewisserung.
         Roter Faden in diesem Band wie auch in früheren Werken ist der menschliche Körper, der politisch ist und in Verbindung zu anderen Körpern steht.

„die nabelschnur war der erste ökonomische kanal
geteilt in mund und mundstück
am jeweiligen körper“

Im Zentrum der Betrachtung stehen Körper von Frauen und archaische Erfahrungen wie Schwangerschaft und Geburt, über die die Lyrikerin in einer Art Laborsituation nachdenkt und dieses Nachdenken in ihren Texten verdichtet. Schmuckkästchen ist der weibliche Körper genauso wie die darin verborgene Gebärmutter. Die ganzheitliche Integrität des weiblichen Körpers wird durch eine Schwangerschaft relativiert, während der man zu einer hybriden Person wird, die aus zwei Körpern besteht. Dadurch ändern sich die Innen- und Außenwahrnehmungen und verändern sich erneut durch die Entzweiung bei der Geburt. „das kind wird aus dem schließfach geholt / und kommt nie wieder zurück“, heißt es einmal, an anderer Stelle „die schwangere, die nicht behalten darf“ oder die Dichterin spricht vom „leeren saal / unter dem herzen“, davon, dass nun etwas fehlt. Doch die Gebärmutter ist mehr als ein Gefäß, das passager befüllt ist und sich wieder leert. Sie ist ein Sehnsuchtsort und ein Ort der Vernetzung, der die Generationen sogar in einer Umkehr der biologischen Reihenfolge zu verbinden vermag:

„ich habe die mutter
im bauch
wie ich in ihrem war

sie soll mich festhalten
von innen“

Zudem wird die Gebärmutter mystisch aufgeladen, wenn sie mit den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer in Verbindung gebracht wird.
          Und so reißt die Lyrikerin in diesem Band biologische, emotionale, aber auch ökono-mische Zusammenhänge an, thematisiert Liebe, Trauer, Schmerz, Schuld, Einsamkeit und Hass. Dazwischen streut sie kursiv gesetzte Erinnerungsschnipsel, etwa Szenen mit ihrem Kind oder eine Beobachtung ihrer schwer erkrankten Mutter. Inhaltlich verbunden werden die Texte u.a. durch Motive, die immer wieder aufgegriffen und in anderen Zusammenhängen kontextualisiert werden, zum Beispiel „gefühl“, „surrogate“, „puppen“ oder „glück“. Dass die vorliegenden Texte nur ein Auszug aus einem größeren Ganzen sind, bringt es mit sich, dass manche Gedanken nur angetippt oder lose in der Luft zu hängen scheinen. Man bekommt wohl einen Einblick in die lyrische Welt von Ursula Andkjær Olsen, wünschte sich aber eine Übersetzung der ganzen Sammlung „Mit smykkeskrin“, um die Texte in ihrer ursprünglich komponierten Gesamtheit ein-gehender betrachten zu können.


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