Ulf Stolterfoht: Die 1000 Tage des BRUETERICH
Martina Hefter
Jan Kuhlbrodt
Lieber Jan,
ich will mit dir über Ulfs Buch „Die 1000 Tage des Brueterich“ sprechen. Als erstes erzähle ich dir eine Anekdote, die mir wiederum mein Onkel erzählte: Für die Sommerolympiade 1972 in München wurden die Goldmedaillen in Österreich hergestellt, sie waren natürlich nicht komplett aus Gold, sondern bestanden aus einem Messingkern, der außen mit einer Schicht echten Golds überzogen war. Die Medaillen mussten nach München gebracht werden, und das passierte damals ganz pragmatisch mittels eines Fahrers, der zwei Kisten Goldmedaillen in den Kofferraum packte und von Österreich Richtung München fuhr. Es gab keine Papiere, keine offizielle Bescheinigung, nichts Offizielles. An der Grenze musste der Fahrer den Kofferraum öffnen, und man fand zwei Kisten Goldmedaillen. Da es keine Papiere dazu gab, handelte es sich eigentlich um Schmuggel. Der Grenzbeamte verstand keinen Spaß, er glaubte an einen Scherz, oder dass er es mit einer gerissenen Art der Betrügerei zu tun habe. Beinahe wäre der Fahrer verhaftet worden. Er bot dem Grenzbeamten schließlich an, dass er ihm Freikarten für die Olympischen Spiele beschaffen werde, wenn er ihn jetzt fahren ließe. Anscheinend wirkte diese Verlockung doch, er winkte am Ende den Fahrer mit den Medaillen durch. Also klare Fälle von Schmuggelei und Bestechung.
Diese Anekdote hat eigentlich mit Ulfs Buch nichts zu tun, zumindest nicht in dem Sinn, dass ich fände, sie würde in oder zu Ulfs Buch passen, wenngleich auch darin einige Anekdoten vorkommen. Aber sie sind ganz anderer Art. Ich glaube, es war nur Zufall, dass mir die Medaillen-Geschichte beim Lesen von Ulfs Buch plötzlich wieder einfiel. Trotzdem – und vielleicht ist das auch nur mutwillig – fallen mir bei der Medaillen-Anekdote Stichworte ein, die mir auch zu Ulfs Buch einfallen, nämlich, u.a.:
- die merkwürdige Vergangenheit (70-iger Jahre)
- Erfundenheit vs. Echtheit
- die Schönheit unbeeindruckten Handelns
- „das Lustige“
- das Durchgeknallte
- Zeitvertreib durch „Erzählen“
- „Anekdoten“
- Tölpelei
- Autos
Ein schönes Spiel könnte sein, die Liste jetzt – immer mutwilliger – fortzusetzen und damit sowohl die Anekdote als auch Ulfs Buch immer weiter zu durchlöchern oder zu zerdehnen.
Bevor wir ins Gespräch starten, muss ich aber auch noch das sagen: Als Blog habe ich die 1000 Tage des Brueterich nicht regelmäßig gelesen, eigentlich nur ganz selten. Als Blog hieß das Brueterich TM, oder? Das Buch dagegen habe ich geradezu in mich reingefressen, es war wochenlang eines der Bücher, die immer neben mir liegen, die ich immer dabei habe. Ist dieser Sachverhalt wert, dass wir darüber sprechen? Also im weitesten Sinn über das Thema „digital, bzw. analog lesen – gut oder schlecht“?
Liebe Martina,
was mich dazu brachte, das Blog zu lesen, waren, vielmehr als die Texte, die täglich geposteten Videos, und ich glaube, in diesen Videos zeigte sich eine Art systemübergreifende Vergangenheit.
Dadurch, dass westliche Musik im Osten etwas später ankam, konnte ich, der Jüngere, einen sehr ähnlichen Musikgeschmack ausbilden wie Ulf, der ja ein wenig älter ist. (Vielleicht ist das auch der Grund, dass mir Westdeutsche immer jünger erschienen als Ostdeutsche (damals), außerdem haben sie besser gerochen, hatten Waschzusätze, von denen wir nicht zu träumen wagten. Die Systemgrenze war vor allem eine Geruchsgrenze.) Insofern schien mir Brueterich TM, so lang er mir als Blog begegnete, wie ein verspäteter grenzübergreifender Treffpunkt meiner Generation. Natürlich hat das auch etwas mit Melancholie zu tun. Im Buch scheint mir der Melancholiker mit dem Soundtrack zu verschwinden. Gewissheiten zerfallen, und plötzlich stellte sich mir die Frage, wer dieser Brueterich denn sei. Ein Frage, die sich mir bei der Bloglektüre gar nicht stellte. Dass du es lieber als Buch liest, liegt sicher an anderen Parallelitäten, die zwischen Dir und dem Autor liegen.
Lieber Jan,
stimmt, es gab ja die Musikvideos! Die hätte ich jetzt ganz vergessen, denn ich gebs frank und frei zu: Ich habe nie eines angeschaut, wenn ich in dem Blog las. Kann es sein, dass ich damit das ganze Projekt vielleicht nur zur Hälfte wahrgenommen und die wichtigsten Aspekte gar nicht mitbekommen habe? Ich frage ernsthaft. Ich habe die Videos nie angesehen, weil mich die Musik nicht so sehr interessiert hat, sie war oft einfach nicht nach meinem Geschmack. Das ist natürlich saumäßig, nach seinem eigenen Lustprinzip etwas zu lesen, was andere geschrieben haben. Aber andererseits, es bringt auch nichts, unter Zwang, und sei es ein selbst auferlegter, etwas so anzusehen/zu lesen/zu hören, wie man glaubt, es sei vollständig und korrekt.
Ich nehme jetzt mal, wieder sehr mutwillig – eins der Stichworte aus meiner Liste oben und beleuchte es etwas näher. Ich finde, ein wichtiges Stichwort ist: Erfindung vs. Echtheit.
Z.B: „steirische volksmedizin 1-7“: „gegen erschrecken. hat sich jemand erschreckt, soll er wasser trinken und den hemdschlitz weiter reißen. er lasse sich den qualm von verbrannten alten schuhen, strümpfen und hüten in den mund ziehen. falls das nichts hilft, soll er immer wieder sagen: „einher schritt ein schrecklicher türke, mit schrecklicher flinte, schrecklicher pistole, schrecklichem messer, schrecklicher kopfbinde...“ – bis es ihm besser wird“.
Weil die Rezepte 1-7 immer krasser werden, habe ich mich gefragt, sind die erfunden? Oder werden sie nach und nach immer erfundener, wird da immer mehr dazu gedichtet? Was mir selber, glaub ich, recht viel Spaß machen würde. Mich erinnern diese Rezepte ein bisschen an meine Sammlungen von regionalen Geister-Gespenster-Teufels- Hexensagen, du kennst sie ja. Auch da habe ich immer gedacht, ob es ein Spaß sein könnte, noch welche dazu zu erfinden. Allein schon, die Wörter die da vorkommen, „besessener Teufelsdreck“, oder Wendungen wie „man reißt junge Tauben über dem Kopf des Kranken auseinander“. Andererseits bin ich ja gegen das Erfinden. Aber hier könnte man ja eine Ausnahme machen.
Ich sage dir jetzt das nächste Stichwort. Für mich ist es das wichtigste in der Liste überhaupt, und es hat auch viel mit dem Stichwort von eben zu tun.
Das ist „Erzählen“. Was sagst du dazu?
Liebe Martina,
das ist jetzt ein wenig gemein, weil mich das ohnehin und immer umtreibt. Was ist Erzählen, und wo findet es statt? Gertrude Stein, die Ulf ja sicher verehrt, sagt in ihrem Essay Erzählen: „Literatur können wir sagen ist was die ganze Zeit vor sich geht Geschichte ist was von Zeit zu Zeit vor sich geht und das ist es worüber in Verbindung mit dem Erzählen nachzudenken ungeheuer wichtig ist.“ Hat Jandl übertragen und der hat auch auf die Kommata verzichtet. (Jetzt biste platt, wa, wat ich so ausm Ärmel schüttel, aber das Zitat steht auf dem Cover, da brauchte ich gar nicht lang suchen.)
Mit etwas gutem Willen könnte man ja die geposteten Videos, die im Buch leider nicht mehr vorliegen, auch als Erzählung betrachten, wenn man davon ausgeht, dass schon die Liste eine rudimentäre Erzählung ist. Und letztlich handelt es sich bei Brueterich auch um ein Tagebuch, das in Echtzeit entstanden, so etwas wie tausend Tage Irrweg, Labyrinth oder so etwas erzählt. Es geht auch durch unwegsames Gelände, und hat seine bürgerlichen Erholungsphasen im Kleingarten mit angeschlossenem Vereinsheim, wo Brueterich auf seine Saufkumpane trifft und sich am Kneipentisch experimenteller Dichtung hingibt. Außerdem hatte er das Blog für Kommentare und Verbeugungen (Unterwerfungen?) geöffnet. Im Gegensatz zu den Videos finden sich die Kommentare im Buch. Und ich gebe zu, an der einen oder anderen Stelle auf dem Blog kommentiert zu haben. (Ich suche den Text besser nicht). Aber: „leser konstantin ames schreibt: der brueterich ist ein angenehmer antiauratiker.“ 113. Und hier hat Leser Konstantin Recht.
Überhaupt scheint mir das ganze Projekt mit einer Art schwäbischer Gemütlichkeit durchschossen. Aber wer macht nicht gern Pause bei deftiger Kost. Da erholt sich der Brueterich im Kreis seiner Jünger, um fortan weiter die Welt auf seine Art zu erzählen, was er auf verschiedenste Weise betreibt, mittels Bericht, Nacherzählung und Referat. Und minutiös berichtet er von seinen Reisen. Er spielt Prosaspielformen durch und wie nebenbei zeigt er ihre Vielfalt auf. (Ob das im Interesse des Lyrikers lag? Ein Versehen vielleicht.) Und vielleicht liegt hier ja auch das von dir erwähnte durchgeknallte. Ich mein, der Kerl hat sich gezwungen, tausend Tage lang einen Absatz zu schreiben, da muss man an manchen Tagen sicher im Laubhaufen wühlen.
Lieber Jan,
bin ich jetzt froh, dass du das alles so gut zusammengefasst hast! Das wäre in etwa das gewesen, was ich auch sagen wollte, aber nicht gekonnt hätte. Ich war eher wieder daran, Kategorien aufzustellen, so kurze Stichworte (schon wieder), die die unterschiedlichen Bereiche des Brueterich-Tagebuchs, na ja, erfassen, oder umreißen. Hier mal einige, es fehlen viele.
– Privates (Verein, Familie, Jugend)
– Berufliches (Verein, Roman, Dichtung)
– Erinnerung (Jugend, Dichtung)
– „die Außenwelt“ (Leserbrief, Kirchenwesen)
– Zeitung (Leserbrief, Annoncen)
– Rezept (Alchemie, Kochen)
– Rockmusik (Motorrad, Dichtung, Auto)
– Technik (Motorrad, Auto)
(…)
Am liebsten würde ich eigentlich ein Diagramm zeichnen, dann könnte man auch viel besser sehen, wo die Überschneidungen liegen. Und das Diagramm würde vielleicht ähnlich verästelt und kompliziert werden wie die vielen Sub- Neben- Spaltgruppierungen von Brueterich TM im Internet (die 39 Kammern). Ich glaub, das mache ich noch, aber nicht hier und nicht heute (womit wir bei einem völlig anderen Thema wären: ist es besser, über Literatur mit anderen Mitteln als ausgerechnet der Sprache etwas zu sagen? Aber das besprechen wir ein anderes Mal).
Ulf Stolterfoht: Die 1000 Tage des BRUETERICH. Systemgedicht. Solothurn (roughbooks) 2013. 282 Seiten. 15,80 Euro.