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Timo Brandt: Poetische Dokumente der Revolte gegen die Insuffizienz

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Timo Brandt

Poetische Dokumente der Revolte gegen die Insuffizienz

 
„Am 20. Juni 2015 bin ich mittags in der Nähe meiner Wohnung auf dem Gehweg plötzlich gestürzt. Ich hatte das Bewusstsein verloren, sah mich aber schon bald auf dem Asphalt inmitten von blutigen Tüchern liegen. […] Gesicht und Stirn waren aufgeschlagen, Halswirbel angebrochen und einige Rückenwirbel zerstört. […] In einer langen Operation wurden zwei Metallstäbe aus Titan in meinen Rücken implantiert. Außerdem fixierte man zerborstene Wirbel mit Hilfe von Knochenzement und Schrauben. […] Vergebens suchten die Ärzte nach einem Grund für den Sturz. Viele Monate musste ich still liegen, damit die Wirbel wieder zusammenwachsen konnten. Ich war lange sprachlos.
Nach und nach kamen jedoch die Wörter wieder zurück. Ich begann Buchstaben ins I-Phone zu tippen. Das war ein Ausweg. Und so schrieb ich die »nichts überstürzen«-Gedichte nachts auf einer winzigen hellen Fläche, wenn an Schlaf nicht zu denken war.“
(Ria Endres, aus dem Nachwort)
 
„Periodische Aufenthalte in Krankenhäusern gehören zu meinen frühesten Erinnerungen. Meine Krankheit ist ab ovo. Die Gesunden, die auch die Lehrbücher der Anatomie und der Pathologie schreiben, nennen meinen Zustand insuffizient, defekt, abnormal. […] Die gesunde Sprache, die wir verwenden, die wir erlernen, ist dominiert von einer unverschämten Vitalität, ungebrochen und höchstens hie und da von etwas Melancholie betrübt. Die Sprache aber, die ich meine, kommt aus der Insuffizienz. Sie weiß von vorneherein, dass sie eine andere Welt bewohnt. Sie greift nicht auf kommunikable Erfahrungen zurück. Sie ist höchst labil. […] Warum sollte man sich am natürlichen Leid empören? Es entsteht ja nicht aus moralischem Fehlverhalten, aus den Abgründen der Seele, durch gewollte Entscheidungen. Es passiert einfach, trifft uns wie ein Schlag. […] Vielmehr, denke ich, ist das Schreiben des Gebissenen eine Revolte gegen die Endlichkeit.“
(Paul-Henri Campbell, aus den Anmerkungen zu »nach den narkosen«)
  
In unserer liberalen, digitalisierten, durchsexualisierten, skandal- und reizaffinen Öffentlichkeit gibt es nur noch wenige Tabuthemen, aber Krankheitszustände (zumal chronische) und körperliche Beschwerden kommen einem solchen Tabu sehr nah. Sie werden natürlich nicht totgeschwiegen, und weil Inklusion ein Anliegen unserer Gesellschaft ist, gibt es viele Maßnahmen und Hinweise, und immer wieder gibt es prominente Fälle, aber letztlich ist der insuffiziente körperliche (oder geistige) Zustand etwas, das man nicht in den Fokus rückt, auf das man nicht hinweist oder das verhandelt wird. Nicht nur aus Pietätsgründen, sondern auch weil Kranksein für die meisten Menschen in der Regel als Zustand gilt, der einzig vermieden oder überwunden werden sollte – wieso also darüber reden, ihn thematisieren?
 
Während uns selbst die eigenwilligste Vorliebe, wenn sie geteilt wird, noch mit anderen Menschen verbinden kann, ist eine Krankheit etwas, das uns meist von anderen Menschen trennt. Wir stecken in unseren Körpern, ob wir wollen oder nicht – dieser Körper bleibt unser lebenslanges Gefährt. Alle seine Verletzungen, seine Unzulänglichkeiten, müssen wir (er)tragen, und sind dabei letztlich, trotz aller wichtigen Unterstützung, allein.
 
Es gibt eine kleine Tradition des Schreibens über Gebrechen und Krankheiten, dünn, aber präsent. In einem Teil dieser Werke schreiben Gesunde über das Kranksein anderer, ihren Umgang damit. Seltener sind die Bücher, in denen Menschen ihre eigenen Gebrechen und Krankheitszustände umfassend thematisieren (wenn man von Tagebüchern einmal absieht). Werke wie Italo Svevos »«Ein Mann wird älter« oder Siri Hustvedts »Die zitternde Frau« sind Ausnahmeerscheinungen und Bücher wie Michael J. Fox‘ Biographie »Comeback – Parkinson wird nicht siegen« ein Glücksfall. In der Lyrik gibt es noch weniger Beispiele. Oft wird der Krankheitszustand auf Umwegen verhandelt oder bildet den Hintergrund (wie etwa im Fall von Halina Poświatowska oder bei Ianina Ilitcheva).
    Das ist ja auch verständlich, denn niemand will wohl auf eine Krankheit, eine Insuffizienz, reduziert werden. Warum also überhaupt darüber schreiben?

„dieser formvollendete Sturz
ließ meinen schmalen Rücken
im Schmerz fast ersticken
das ist jetzt Realität
in der frühsten Frühe
und spät“
(Ria Endres)

„es ist kein nistender vogel
der vom blinkenden kasten
hinter deinem lager schrill
in intervallen hervorschreit
es ist nur das kardiogramm
das wacht und fiept über dir“
(Paul-Henri Campbell)
                             
Ria Endres und Paul-Henri Campbell haben darüber geschrieben. Darüber, wie es ist, krank oder – in Endres Fall – versehrt zu sein. Bei beiden steht ein konkreter Krankenhausaufenthalt im Mittelpunkt. Hier beginnen die Gemeinsamkeiten allerdings bereits zu enden.
 
Denn während Paul-Henri Campbells Krankheit ab ovo ist und ihn bereits sein ganzes Leben begleitet (obgleich er sich in den »narkosen« zum ersten Mal literarisch damit befasst), ist Ria Endres' Zustand die Folge eines Unfalls, eines plötzlichen Einschnitts. Bei Campbell wie bei Endres speist sie die Erschütterung aus dem Moment, in der man dem eigenen Zustand mit Worten gegenübertritt. Aber bei Campbell ist dieser Moment das Ende einer langen emotionalen und theoretischen Auseinandersetzung, in dem Kindheitserinnerungen, Überlegungen, langjährige Erfahrung und übergreifende Ideen zusammenfließen. Bei Endres ist er eine Reaktion, die sich unmittelbar aus dem ungewohnten, beängstigenden und bedrückenden Zustand des Ausgeliefertseins ergibt.
 
Bei Campbell ist deswegen nicht nur die Innenperspektive, sondern auch der größere Zusammenhang vertreten; es tritt deshalb auch stärker hervor, wie es ist, als „Fall“ wahrgenommen zu werden. In seinen Anmerkungen prägt er den Begriff Salutonormativität (in Anlehnung an den Begriff Heteronormativität). Gemeint ist, dass die Welt nach den Maßstäben der Gesunden eingerichtet ist. Er, mit seinem angeborenen Herzfehler, wird in dieser Welt oft auf seinen Krankheitszustand reduziert. Jede/r Kranke oder Beeinträchtigte hat das sicher schon erlebt: wie das, was man aufgrund seiner Lage nicht tun kann, stärker gewichtet wird als das, was man sehr wohl noch tun/erleben kann. Die Warte der Gesunden ist maßgeblich.
 
Bei Endres wird dafür klarer, wie sehr eine Krankheit die Grundfesten unserer Lebenswirklichkeit erschüttern und unsere Wahrnehmung komplett umkrempeln kann. Irgendwo zwischen Schmerz und Aussichtslosigkeit muss das gestörte Verhältnis zum Körper wieder neu aufgebaut werden. Aber wie? Endres' Gedichte sind ein bewegendes Beispiel für die Schwierigkeit, den Körper nicht nur als Mittel zum Zweck und als Privileg, sondern als Gefäß und als zentrales Empfindungsorgan zu sehen.

„hat die Ewigkeit
da schon benommen
begonnen
[…]
Erinnerungsfäden
auf der Zunge
ich aber bin die Stumme“
(Ria Endres)
             

„those bypasses those valves
unmanageable blood pressures
etcetera etcetera
                       what I mean
is ab ovo before anything
as though the angel of darkness
personally meddled with your flesh
before you could say yes yes
yeeeeees adam molly and eve
and fall by your own undoing”
(Paul-Henri Campbell)

Aus diesen Umständen ergibt sich auch die Tatsache, dass Campbells Band, vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen, sehr viel virtuoser und ambitionierter erscheint. Obgleich beide gegen die Endlichkeit revoltieren, will Endres vor allem aus ihrem Zustand hinausfinden, ihn bewältigen, während Campbell eine Art feste Gegenposition zu seiner Krankheit bezieht und ihr mit allerlei Anwandlungen, Spielereien und Ideen beizukommen versucht. Endres' Gedichte sind eindrücklich, ihre Form und ihre Reime wirken improvisiert und notgedrungen, aber dadurch ist mitunter die ganze Botschaft gelungen komprimiert: Es geht um den Ausdruck der Regung willen, einer Regung, die sich irgendwann weit genug strecken kann, um sich aus dem Abgrund des Unfalls hinauszuziehen.

Niemand kann nur aufgrund eines literarischen Dokuments ermessen, in was für einer Wirklichkeit der Mensch, der es verfasst hat, lebt. Aber der/die Lesende kann sich auf Elemente dieser Wirklichkeit einlassen, findet vielleicht Emotionen, Hoffnungen, Gedanken, die ihm/ihr vertraut sind und lernt, sie in neuen Zusammenhängen zu sehen. Und lernt so die andere Seite der Wirklichkeit zumindest kennen, vielleicht sogar verstehen.

Mich haben beide Werke beeindruckt, aus sehr unterschiedlichen Gründen. Während Campbell mich formvollendet zwang, seine Lage mitanzusehen, wahrzunehmen, mich in meiner Position näher an seine Warte zu begeben, lieferte Endres mir viele Anstöße zur Auseinandersetzung mit tiefsitzenden Ängsten, und ihre Gedichte machten mir darüber hinaus klar, was Schreiben in bestimmten Momenten bedeuten kann, wieviel Erlebnis in Worten konserviert und gebannt wird, was für ein Ventil Sprache ist. Beide Bände schlagen größere Stücke aus der angeblich so kleinen Ignoranz. Und beide Bände sind mutige Dokumente, in denen immer wieder klar wird, dass Literatur auch eine Form von Selbstbemächtigung ist, eine Möglichkeit, jenseits der sonstigen Schranken von einem Ich, der Welt, dem Empfinden und Erleben, dem Schönen und dem Schrecklichen zu sprechen.

„black out
break down
stürzen
in town
[…]
Glück und Glas
wie schnell
bricht das
[…]
ich sag euch jetzt
in einer Sekunde
ist munter alles zerfetzt
[…]
Seien wir ehrlich
leben ist wirklich
lebensgefährlich
(Ria Endres)
                                 

„auf deiner brust drei weiße elektroden
mit stählern nippeln kühl verklebte nacht
verkabelte nacht durchzogen von lila kurven
[…]
während du in aufruhr ganz dein körper bist
schielst auf deinen schwellenden puls bist hand
und hoffst dass niemand alarmiert hereinstürzt
da die lust viel stärker ist in dir als jener schmerz“
(Paul-Henri Campbell)
                   

Ria Endres: nichts überstürzen. Von meinem iPhone gesendet. Aachen (Rimbaud Verlag) 2017. 144 S. 20,00 Euro.

Paul Henri Campbell: Nach den Narkosen. Gedichte. Heidelberg (Das Wunderhorn) 2017. 96 Seiten. 18,80 Euro.
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