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Tibor Schneider: magnesiumsgeschwindigkeit

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Stephan Turowski

Tibor Schneider: magnesiumsgeschwindigkeit. Berlin, Tübingen (Verlag Schiler & Mücke) 2021. 90 Seiten. 16,00 Euro.

mit dem falschen wein aufgestanden
Zu Tibor Schneiders Gedichtband magnesiumsgeschwindigkeit


Es ist nicht einfach, über das Buch eines Freundes zu schreiben. Das weiß jeder, der schonmal versucht hat, über ein Werk eines ihm nahestehenden Menschen mehr als nur subjektiv huldigende Worte, so aufrichtig und reflektiert sie auch sein mögen, zu finden. Und dennoch ist es möglich, wie ich beim Schreiben dieser Rezension nach und nach bemerkt habe, vorausgesetzt, das jeweilige Schaffen, die jeweilige Poetik, um die es geht, ist weit genug von dem entfernt, was man selber für sich, für die jeweils eigenen Gedichte, erstrebt. Im Falle der Gedichte Tibor Schneiders, um dessen nun erschienenen zweiten Band es im folgenden gehen wird, ist dieser poetologische Abstand in hohem Maße gegeben – und gerade deshalb, weil ich beim Lesen dieser Texte etwas irritierend und zugleich verlockend Fremdartigem begegnet bin, das ich selber niemals auf solche Weise hervorbringen könnte, möchte und kann ich etwas zu diesem neuen Werk des Freundes sagen.

Auch in den neuen Gedichten Tibor Schneiders, ähnlich wie in seinem Debütband zimt für deutschland, prallen die Sprachen, Jargons und Perspektiven knallhart aufeinander. Das poetische Idiom, das Schneider aus der Legierung von Hegel- und Hölderlin-Zitaten, HipHop-Slang, Dadaismus und Jugendsprachlichem erschaffen hat, ermöglicht ihm, vor allem in dem Zyklus „sphären I–IX“, die Erschaffung eines multiperspektivischen „Weltinnenraums“ (Rilke), dessen Ich als gebrochenes lyrisches Zentrum die Fäden miteinander ver-knüpft, um sie im nächsten Vers schon wieder voneinander zu lösen. Das klingt, so beschrieben, ambitionierter und anstren-gender, als es, beim ersten oder wiederholten Lesen, tat-sächlich ist: Schneiders Idiom ist, bei aller Hybridität, geschmeidig lesbar, überraschenderweise, man gleitet in diese Gedichte hinein, surft auf ihrer, bei aller Gebrochenheit, gefälligen Oberfläche dahin, retardiert allenfalls durch die beim ersten Lesen ungewöhnliche Art und Weise der Zeilen-brechung, die Schneider durch das einfache Setzen von Punkten mitten im Satz realisiert, wodurch die verführerische Smartheit bewusst ins Stocken gerät.

Es gibt da jedoch noch einen anderen wichtigen Aspekt in Schneiders Gedichten, der die Texte vor der Gefahr einer möglicherweise allzu selbstsicher rüberkommenden Vorführung von Wissen und Schreibweisen bewahrt – es ist das von Schneider bewusst eingegangene Wagnis, die eigene, durchaus selbstbewusst ausgespielte Cleverness durch die Offenlegung eigener Verwundbarkeit zu brechen: Das Subjekt dieser Gedichte ist nicht wirklich kuhl, in Schneiders Schreibweise, es ist durch eine immer wieder ambivalent erlebte Liebe und durch prekäre Lebensverhältnisse den im Grunde allen bekannten oder zumindest zugänglichen widrigen Existenzabgründen ausgesetzt. Und Schneider verfügt zudem, speziell in diesem Zusammenhang, über die seltene Gabe, auch diese subjektiv schmerzhafte Ebene seiner Texte durch eine Art von subversiven Humor aufzubrechen, die immer wieder bewusst platzierten Kalauer (mit dem falschen wein aufgestanden, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen) sind gewissermaßen die Clownsmaske, durch die sich das Ich dieser Gedichte vor sich selbst und uns Lesenden verbirgt, indem es sich gerade hierdurch poetologisch und existentiell offenbart.  


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