Thomas Schestag: erlaubt, entlaubt
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Jan Kuhlbrodt
Thomas Schestag: erlaubt, entlaubt. Schupfart (Engeler
Verlage – Neue Sammlung 004 ) 2021. 150 Seiten. 14,00 Euro.
Zu Thomas Schestag
erlaubt, entlaubt
Ich werde mehr und mehr zum begeisterten Schestag-Leser. Vor
allem, weil er den Bodensatz vergangener Lektüren aufwühlt. Ein Denken, das mir
gesetzt schien, aufschreckt.
„Das Spiel ist ohne Grenze. Skandiert wird das Spiel von
Schlägen (Coups), von Gongschlägen, die den Auftakt einer neuen Konstruktion
anzeigen, auf rhythmische Weise verbinden sich Schläge mit vorausgegangenen
Schlägen, deren Echo sie bewahren.“ So
beschreibt die Philosophin Sarah Kofman den textlichen Eindruck
dekonstruktivistischer Lektüre. Und man kann hier also nicht von einer Methode
sprechen. Von einer Methode ohne Methode, sagt Derrida irgendwo.
Der Text wird also Subjekt und entlastet damit den Autor.
Auch gibt der Text vor, was zu suchen in ihm selber noch ansteht.
Schestag beschreibt an einer Stelle im letzten Drittels des
Buches „erlaubt,entlaubt“ zum Beispiel das Öffnen des Denkens Walter Benjamins
angesichts seiner Beschäftigung mit Hölderlin-Gedichten, und wie sich im Text
eine Wendung manifestiert, die später im „heilig nüchternen“ Wasser im Gedicht
„Hälfte des Lebens“ sich manifestiert.
Ich bekomme bei der Schestag-Lektüre sofort den Impuls, nach Benjamin zu greifen, und auch nach Hölderlin, aber da diese Passage sich am Ende des Buches befindet, liegt der Tisch bereits voller anderer Bücher, die die Lektüre sich herangezogen hat. Auch ich, der Leser, gebe also meine Souveränität teils an den Text ab.
Es wäre allerdings nicht richtig zu behaupten, der Text hätte auch die philosophischen Schriften Dantes bestellt. Das war ich dann schon selbst, aber der Grund dafür lag eindeutig im Text. Schestag nämlich führt sie an, mit Bezug auf Ernst Kantorowicz, der „im Niemandsland zwischen Poesie und Recht, Einflussnahmen aus der Sphäre des (Römischen und Kirchen-)Rechts auf poetische Verfahrensweisen und Selbst-kennzeichnungen des Dichters“ diskutiere.
Und hier sind wir auch bei der titelgebenden Problematik.
Erlaubt entlaubt! Hat nämlich nicht unbedingt etwas mit den jahreszeitlichen
Veränderungen des mitteleuropäischen Laubwaldes zu tun, sondern spielt auf eine
Verzahnung von Literatur oder Kunst überhaupt und Gesetz an. Das scheint dann
auch naheliegend, zumal entsprechende Formulierungen sich in den Kunstdebatten
des vergangenen Jahrhunderts häufig finden, von Meyers „Stilgesetz der Poesie“
bis zu Adornos „Kanon des Verbotenen“.
Allerdings sind weder Meyer noch Adorno die Autoren, auf welche Schestag
zurückgreift, er gruppiert vielmehr eine Schar Referenzen und Autoren wie Ovid,
Dante, Benjamin und natürlich Nietzsche um das Rechtsverständnis Immanuel
Kants, in dem er eine Leerstelle findet, die gleichsam zum Einfallstor
vielfältiger Überlegungen wird.
Diese Leerstelle sieht Schestag zumindest in der
Erstbegründung der Kantschen Rechtsauffassung, die letztlich auf Eigentum
zurückgeht und darauf, dass die Welt, ihre Güter und ihr Grund, verteilt sind.
Die Menschen begegnen sich also als Eigentümer, was ihren Umgang miteinander
und auch den mit der Sprache regelt. Aber was lag davor, wie kam es zu dieser
Aufteilung des zunächst Allen, das heißt auch Niemandem gehörenden Boden, der
Allen, auch Niemandem gehörenden Sprache?
„Die Möglichkeit solch ursprünglichen Erwerbs durch Bemächtigung oder Okkupation – Landnahme – ist grundlos und undurchsichtig...“
Das hat es jedenfalls in sich, denn hier verweist Schestag
mit Kant auf die Irrationalität und Grundlosigkeit bürgerlicher
Eigentumsvorstellungen, die ja nicht nur Vorstellungen sind, sondern in der
Gesetzgebung ihren positiven Ausdruck finden. Die Grundlosigkeit des Grundes,
wenn man so will. Und darüber entspannt sich eine ganze Metaphysik des
Brauchens oder des Gebrauchens; der Nutzung, erlaubter und entlaubter.
Und jenes Gebrauchen strahlt eben auch in die Literatur, die
Lyrik, bis in das „Gesetz des Gesangs“ bei Hölderlin; das wiederum auf eine
Leerstelle zeigt. „Das Gesetz dieses Gesangs ist oder scheint dies zu sein:
weder entspringt dem Gesetz der Gesang noch dem Gesang das Gesetz. (Beide
teilen den Sprung.)“
Das Buch verlangt eine gewisse Konzentration, aber es lohnt
sich sehr, diese aufzubringen. Und im Anschluss vielleicht auch über
Urheberrecht und solche Sachen nachzudenken, was ohnehin immer wieder mal
ansteht. Außerdem lese ich dank des Buches jetzt Dante.