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Thilo Krause: Was wir reden, wenn es gewittert

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Timo Brandt

„So lange verwandeln wir die Dinge zurück in das, was sie sind“


„Die Rosen steckten die Köpfe
durch den schmiedeeisernen Zaun.

Sie schauten.
Sie nickten nicht.
[…]
Geräusch von Milch
in einem Glas, das voller wird
und voller.“

Hat man eine Weile in den neuen Gedichten von Thilo Krause gelesen, ist es fast wie ein Augenschließen und Lauschen. Fast wie ein Träumen, oszillierend, changierend zwischen der Intensität des Déjà-vu und den entkörperten, fließenden Wirklichkeiten der nächtlichen Traumwelten, in denen die Dinge in ihrer Gestalt nah heranrücken, aufgeladen und mit einem Nachdruck, einer verblüffenden Klarheit.

Allerdings sind die Sujets der Gedichte nicht wirklich phantastisch oder surreal, sondern fast durchgehend alltäglich, mit einem Gefühlszug grundiert, den man Sentimentalität oder Melancholie nennen könnte. Wobei ich eher sagen würde, dass hier mit ungeheurer Behutsamkeit Erinnerungswelten angehoben, gewogen und langsam zwischen den Händen gedreht werden und durch die Behutsamkeit Nostalgie, Melancholie und Sentimentalität vermieden werden sollen.

Erinnerungen an ferne Kindheiten und gerade erst verstrichene Momente: all dies Vergangene ist kostbar, zumal man oft in seinem Echo wandelt, gerade wenn es um Phänomene wie den Sommer geht:

„Irgendwo ist immer ein weißes Paar Arme
mit Wäsche beschäftigt.

Der Sommer ist groß, eine Art Durst
nur vom Schauen gestillt.
[…]
Sommer, dass wir den Tod verlachten
wie eine schlecht durchdachte Idee.
[…]
Was ist das für eine Sprache gewesen
in der wir gesprochen hatten
miteinander, die ganze Zeit?“

Was ist das für eine Sprache, mit der man Erinnerungen behutsam anfasst? Und warum fasst man Erinnerungswelten überhaupt behutsam an? Nicht unbedingt, weil sie selbst zerbrechlich sind, sondern weil das, was sie konservieren, zerbrechlich wird, wenn wir versuchen, es in unserer Gegenwart erneut zu leben. Erinnerungen verblassen manchmal, und manchmal nehmen sie an Intensität zu, stehen wie eine Sonne über unserem Leben oder erscheinen des Nachts pünktlich als Stern an unserem Gedankenhimmel. Diese Erinnerungen bedeuten uns viel, aber zuweilen schmerzt ihre Abgeschlossenheit; auch dem Mix aus Schmerz und Bedeutung stellen sich die Gedichte.

Was ist das aber nun für eine Sprache, mit der man Erinnerungen behutsam beschreibt? Sie braucht so etwas wie Langsamkeit. Ein zu schnelles Umstülpen von Bildern, eine zu große Dichte an Metaphern oder Bedeutungsscheinwerfern, ein zu hohes Maß an Bewegung würde der Behutsamkeit zuwiderlaufen. Stattdessen: Beobachtungen, manche in die Länge gezogen und ein paar Bedeutungskeime. Kamerafahrten, die dann und wann auch ruckartige Umbrüche und Anschlüsse vollziehen, deren Wucht von luziden Bildern aufgefangen wird.

„Der Himmel blass nördlich.
Nie jemand gestorben und der Mond noch
über der Silhouette des Heizkraftwerks.“
    
Das Buch hat verschiedene Kapitel, die kleinere Schwerpunkte haben; zwei Kapitel, „No hobo train“ zu Fotos von Mike Brodie (der auf Güterzügen 50.000 Meilen durch Amerika fuhr) und „Beiläufige Reste Welt“, worin signifikantere Kindheits- und Jugendmomente beschrieben werden und außerdem das Aufwachsen in der DDR ein wenig thematisiert wird, stechen ein wenig heraus. „Beiläufige Reste Welt“ ist auch eines der stärksten, wenn nicht das stärkste Kapitel; wohl auch, weil sich Krauses Sprache hier einmal niederlässt, wohingegen sie sonst oft umherschwirrt, etwas entrückt ihre Kreise zieht.

Gegenüber den beiden ersten Bänden im Poetenladen – „Und das ist alles genug“ (2012) und „Um die Dinge ganz sein zu lassen“ (2015) – spürt man eine deutliche Entwicklung. Die Texte darin hatten eine einfache Anwandlung, eine schmucklose Klarheit; es waren gute Gedichte, leicht und doch poetisch, konnten oft ohne Widerstand betreten werden. Aber solche Gedichte wirken nicht selten simpel, als würden sie nicht um Erkenntnisse ringen, als wäre ihr Sprechen bei aller Kraft und Tiefe nicht auch ein bisschen ratlos, ein bisschen abgründig, ein bisschen ferner als die einfache Nähe eines Wortes neben dem anderen vermuten ließe.

„Stieg in den Morgen.
Ein Bus, der gänzlich leer war.
Nur der Fahrer und ich.
Halt dich nicht fest.“

„Vorplatz. Die Sonne zieht
die Uhren in den Kiefernzapfen auf.
Frühling. Die Jahre
ticken leise.“
  
Auch die neuen Gedichte haben simplere Momente, hüllen sich aber an zahlreichen Stellen, über weite Strecken, auch in schwerer zu fassende Zusammenhänge, lassen Abseitiges, Zwiespältiges einfließen, ihre Tiefe taucht nicht immer auf, ihre Schwingungen werden nicht mehr gebunden, eher gelöst.

In der Art wie sie die Welt verkörpern und das Ich in diesen Verkörperungen gleichsam auslöschen und mittransportieren, haben sie einen eigenen Ton gefunden und weisen über sich selbst, ihre Themen und zentralen Bilder, hinaus. Es gelingt ihnen nach wie vor famos, Elementares zu bezeichnen:

„Nass war ich. Kalt war mir.
Ich wusste, wo die Welt endete
und ich begann.“
     
Und nach wie vor ist klar, dass sie der einfachen Schönheit und der Klarheit in den Dingen verhaftet sind; ihr lyrisches Ich weiß,

„dass es an mir ist, nach diesen Dingen zu sehen:
Schilf und verworfener Beton
gegen die Stadt hin
Fäden Licht.
[…]
Straßenbahnen
mit dem ewigen Kielwasser
der Schienen hinter sich.“
               
Aber es gibt da viele zusätzliche Nuancen,

„wie ein Takt
einmal geschlagen
und noch Stunden gehört“.
     
Krauses neuer Band vereint somit das Beste aus seinen Vorläufern mit neuen Perspektiven und einer komplexeren Poetik. Ein Gedichtband, der aus der Ruhe Kraft schöpft und trotzdem unbändige Winde aufziehen lässt. Auf dem Feld der Erinnerungen: die ganze, herrliche Welt und darin wir Menschen: die zerbrechlichen Wesen, die versuchen anwesend zu sein, und doch von allem davongerissen, in alles involviert werden. Und in der Anwesenheit ständig Sehnsucht nach diesem Involvieren haben.


Thilo Krause: Was wir reden, wenn es gewittert. Gedichte. München (Edition Lyrik Kabinett – Carl Hanser Verlag) 2018. 128 Seiten. 18,00 Euro.
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