Thilo Krause: Um die Dinge ganz zu lassen
Timo Brandt
Erfahrbar gemachtes direktes Einlassen
„Ich lerne die
Dinge
von Anfang an.“
Liegt eine Anstrengung darin, anwesend zu sein? Wenn ja, dann kann Lyrik die Art von Wiederholung darstellen, die es braucht, um im Nachhinein dieser Anstrengung beizukommen, sie aufzulösen, sich ihr mit auf angenehme Weise beanspruchten Sinnen zu nähern. Ein Gedicht ist eine Kunde des Staunens, schrieb der schwedische Dichter Lars Gustafsson. Also ein Bericht, der etwas erzählt, aber gleichzeitig auch etwas lehrt, etwas ins Bewusstsein stellt. Eine Betrachtung, die den Gegenstand beansprucht und gleichzeitig in seinem eigenen Wesen aufgehen lässt. Ich weiß nicht, ob Thilo Krause dieser Idee zustimmen würde, aber auch seine Verse empfinde ich teilweise als eine Kunde des Staunens – nur werden sie so beiläufig gesprochen und mit Schwere stiftenden Tonlagen behängt, dass das Staunen kaum mehr zutage tritt.
Es werden in diesen Gedichten fast nur behutsame Ausschmückungen herangezogen, oft zu einem Zeitpunkt, an dem man schon glaubt, die Sprache werde nun keine Maske mehr benutzen, sie sei völlig der Mimik der Natürlichkeit verpflichtet und werde nichts mehr aus den reflektierenden Höhen hinzugeben. Die Gedichte gehen ganz in ihrem Anschauen auf, bedienen sich dann aber doch wieder einer kleinen Krönung, eines Bilds, einer Metapher, dem Eindruck des Tiefersteigens, des Verdichtens, ein bisschen Rücken-deckung gebend.
Man spürt an den meisten Werken der zeitgenössischen, progressiven Dichtung, dass sie ständig auf der Suche sind nach etwas Lukrativen; nicht nur einer Neuerung, sondern einer neuen Art, sich der Sprache zu bemächtigen und mit ihr zu werkeln, zu handeln.
Es ist dann doch etwas verblüffend, wenn man einen Band wie den von Krause in Händen hält, wo jemand sein Kapital und Heil ganz offensichtlich nicht in dieser Form der Sprachimprägnierung sucht, sondern auf möglichst schlichte, illuminierende Weise auf konkrete Dinge abzuzielen versucht, wie etwa Stimmungen, Gerüche, Szenen des persönlichen Alltags, ohne irgendeinen Umweg oder besonderen Anstrich. Zum Beispiel heißt es in dem Zyklus Vorstadtsommer:
„Duft krautiger Blumen
im Schwimmbadgetös des Nachmittags.
Deine Stirn leuchtet im Wagen.
Deine Augenlider klappern unruhig
als würdest du morsen heraus aus dem Schlaf.“
Wer so bewusst seine Sprache auf das konturgenaue Maß der Wirklichkeit herunterschraubt und auf die Weite der Räume hofft, die schon einfachste Anrufungen und Wortkombinationen gewährleisten, wird sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, er öffne der Beliebigkeit Tür und Tor, trage vielleicht zur Poetisierung der Welt bei, aber nicht zur Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Und in der Tat ist bei dermaßen spärlich gesetzten Bildern der Kippmoment größer, sobald nur eines von ihnen zu grob oder zu leicht staffiert ist. Wenn sich zum Beispiel eine Amsel davonmacht und dann:
„Hinter ihr rastet die Luft ein
wie eine Tür.“
Eine griffige Illustration, abgegriffen auch. Eine poetische Tautologie, die nichts taugt, weil die geistige Beschleunigung, der Funkensprung, auszubleiben droht, zu schnell verlischt, um etwas zu erhellen, zu illuminieren.
Die Welt in den Bildern belassen, in denen sie bereits sagbar geworden ist – gerade darum geht es in der Dichtung ja nicht, oder? Sondern um neue Möglichkeiten, Dinge sagbar und erfahrbar zu machen. Und wenn man sie trotzdem erfahrbar macht?
Denn das gelingt Thilo Krause doch immer wieder und zwar mit erstaunlicher Eindringlichkeit. So gebräuchlich die Wendungen und Verfahrensweisen wirken, es gelingt darin eine Bewusstwerdung, der aufgegriffene Gegenstand stößt etwas an und bringt Zeile für Zeile eine kleine poetische Kettenreaktion in Gang.
Um dies zu bewerkstelligen, arbeitet Krause oft mit einem Changieren zwischen diffusen und luziden Einstellungen. Mit Fächerndem, das gleichsam einschließt und begrenzt ist.
Das erste Kapitel „Draußen fallen die Wörter weiter“ steht ganz im Zeichen eines ruhigen Alltags, in dem ein Kind und seine neue Form der Selbstwahrnehmung eine Rolle spielen; eine neue Art, den Erscheinungen zu begegnen.
Im dritten Kapitel, „Gräber möchte ich verstehen“ das u.a. gespickt ist mit Zitaten von Tomas Tranströmer und Jan Skácel, ist die Perspektive etwas freischwebender, die Balance im Ton gerät etwas aus dem Ruder, manchmal zeigt sich die Sprache sogar geradezu widerspenstig. Abrechnende Anklänge werden übereinander und ineinander geschoben, zeichnen Skizzen einer verschwundenen Ungerechtigkeit oder Verlorenheit.
Nach diesem Hinausfahren wirkt das vierte Kapitel „Das ist die Menge Licht“ wie eine Rückkehr, ein wieder in die Ruhe Treiben. Wieder streicht die Sprache kleinteilige Eindrücke ein und über glatte (Alltags-)Erinnerungstalismane.
„Ich schlief im schmucklosen Innern
des Regens.“
In den beiden Kapiteln 5 („Sechs Arten eine Kiefer zu sehen“) und 6 („Mit den Ärmeln voller Tränen“) intensiviert Krause dann noch einmal seine Auseinandersetzung mit den Werken von anderen Dichtern, u.a. Seamus Heany, Basho, Wallace Stevens. Es sind mir die liebsten Seiten in diesem Buch, auch weil Krause seine Sprache hier richtig zur Entfaltung bringen kann, da sie nicht so oft an konkrete Gegenstände oder Stimmungen oder Absichten gebunden ist.
Das 2. Kapitel, das ich ausgelassen habe, heißt „Briefe im Winter“ – nomen est omen:
„Quecksilbrig floss der Bach heute
sehnig, gespannt. […]
Der Abwind der Züge kam wie ein Sog
die Brücke herab, bis das Unkraut
wieder senkrecht stand
mit frostverbissenen Blüten.“
Oder:
„Grau hat sich das Eis zusammengerollt
entlang des Wegs, ächzendes Tier
unter meinen Schritten.“
Ich höre nicht nur das Eis aufstöhnen, sondern auch einige kritische Stimmen. Warum will ich mich nicht zu ihnen gesellen, obwohl ich gleichwohl verstehen kann, wie rückständig oder plakativ manche dieser Zeilen wirken müssen (und vielleicht hier und da auch sind)?
Der Titel des Werkes lautet „Um die Dinge ganz zu lassen“. Ein Titel muss noch kein Programm sein, aber vielleicht ist in diesem Fall ein solcher Rückgriff hilfreich. Mir ist nicht daran gelegen, Thilo Krause Intentionen in Richtung einer Heile-Welt-Poetik anzudichten. Ich glaube, es geht um viel mehr und um sehr viel weniger. So leicht viele dieser Verse scheinbar wirken und wiegen, es gibt darin einen Zug, der bei aller Einfachheit erstaunlich ist, und das ist die Entfernung, die zwischen den Gedichten und ihren Gegenständen liegen: es sind sehr kurze Entfernungen, so kurz wie ein Moment, eine Tat, ein Blick, ein Gefühl, ein Gewahrwerden. Diese Nähe ist es, die die Dinge ganz lässt. Sie werden nicht aufgeteilt, eingeführt, vorbereitet oder von mehreren Seiten betrachtet. Man bewegt sich nicht lange um sie herum und trägt sie nirgendwohin. Sie werden ganz gelassen, sind im direkten Umfeld des lyrischen Ichs anzutreffen und werden als Form der Nähe beschrieben, sollen gar nicht aus diesem Umfeldstatus entfernt werden.
Dies soll keine abschließende Interpretation sein, vielleicht noch nicht mal ein Lob. Aber so bin ich den Texten begegnet, so verstehe ich sie, so ist ihre Art. Eine Art, die meiner Meinung nach manches birgt, was nachlässig wirkt, und manches, in dem ein Geschehen sich auftut und auf den Lesenden wie eine greifbare Präsenz wirkt. Was eine Form von poetischer Erfahrung ist.
„Im Rinnstein
treiben die letzten Bienen
in die Schleusen.“
Thilo Krause: Um die Dinge ganz zu lassen. Gedichte. Leipzig (poetenladen - der Verlag) 2015. 96 S. 17,80 Euro.