Swantje Lichtenstein: Am Ende der Weißheit / Verschalte Verbindungen
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Katharina Kohm
Swantje Lichtenstein: Am Ende der Weißheit / Verschalte Verbindungen. Performative Writing. Englisch / deutsch. Berlin (Verlagshaus Berlin – Edition Panopticon) 2021. 260 Seiten. Doppelband im Schober. 29,90 Euro.
Der Doppelband von Swantje Lichtenstein, zwei Bände, die aufeinander bezogen sind, zeigt diese Beziehung bereits im Einband an, zeigt wortwörtlich Flagge durch die farbliche Gestaltung der Einbände: Gemeinsam bilden sie die Regenbogenfarben, bilden alle Spektralfarben ab.
Alle diese zusammengenommen ergibt weiß, wobei schon der Bezug zum Titel des ersten Teilbands hergestellt ist. Die Regenbogenbrücke, die beide Teilbände zueinander bildet, vervollständigt den Farbkasten und deutet gleichzeitig schon ihre Neutralisation an, das Weiß, auf das zu schreiben ist, auf das hinzuschreiben ist, was gebrochen werden soll.
Das Format ist ebenfalls ungewöhnlich vertikal, Folio-Bände, die aus den Buchseiten Stelen machen. Dieser Eindruck wird durch die typografische Entscheidung, die Texte des ersten Teilbandes »Am Ende der Weißheit« in Majuskeln zu setzen, noch unterstrichen.
Anstatt aber die vertikale Struktur von Gedichten zu betonen, wird dieser Eindruck von der blockartigen Setzung der Textlänge und -weite konterkariert. Die Texte des Teilbandes »Am Ende der Weisheit« wirken auch durch das bewusste Weglassen von Gedichttiteln auf den ersten Blick wie Quadrate oder auch wie Monolithe vor Weiß, schnörkel-, serifenlos und schon fast körperlich, performativ, gestisch. Die Textblöcke, die dadurch rein optisch entstehen, erscheinen gesperrt, vergittert — vor Weiß gestellt, als hätte man kontinuierlich die Sperrtaste gedrückt gehalten beim Schreiben.
Dieser erste Eindruck wird darum
wichtig, da er semantischer Art ist, bewusst gesetzt, die Bedeutung der Form
als eine bewusste Wahl von Typografie und Satzspiegel als Ausdrucks-mittel. Durch
die Setzung von Großbuchstaben ergeben sich zusätzliche Spiele mit Poly-valenzen
durch Homophone, durch Polysemie, Mehrdeutigkeit, die auch von der Wahl des
Schriftschnitts der Typen, beeinflusst wird. Hier geht bewusst Individualität
verloren, oder versucht gerade dort, durchzuscheinen.
Die Blöcke wirken wie Spielsteine,
wie aus-gefülltes, gelöstes Sudoku, eingevierte Kästen.
Der Teilband
kommt mit wenig aus und mit wenig Wortmaterial ganz weit, indem er uns
genau jenes beinahe selbstgerechte selbstreflektorische Spiel mit den
eigenen, westlichen, weißen Privilegien ohne wirkliche Konsequenz vor
Augen hält, um an dieser Stelle einmal inhaltlich vorzugreifen.
Dennoch
ist hier mitnichten an das Wittgenstein’sche Sprachspiel zu denken, es
werden ernste Benennungszusammenhänge der Sprache als Machtinstrument
verhandelt, und zwar an deren unangenehmer Wurzel von Unterdrückung und
Hierarchie; Kolonialismus und Sexismus.
Die
Macht der Sprache vergittert, verklotzt, verengt Wahrnehmung und
Empathiefähigkeit, der Blick für das Besondere wird vom Stereotyp
vern/ich/tet. Das Ich wird angeglichen,
geschliffen, angepasst und eingereiht in eine Hierarchie, die eine
gewisse Gruppe von Menschen schon immer begünstigt hat.
Definitionsmacht
und Konnotationen färben auf Sprachverwendung ab, es haftet ihr etwas
an, sie kommt mit Verwendungsgepäck daher, ihr Verwendungskontext
bedingt ihre Bedeutung.
Die Fragen, aktuell aufgeworfen, reflektieren Sprache tiefer, als das bis dato der Fall war. Der
Blick auf Banalität, Hierarchie, noch immer reale Kolonialisierung und
Ausbeutung lagern sich in der Sprache ab. Niemand ist unschuldig. Wem
das zu anstrengend ist, sollte das Lesen lieber bleiben lassen.
Wortspiele,
rhetorische Figuren schieben sich weiter, erzeuge sich, immer ein Bild
weiter wie Dominosteine, die den Impuls weitertragen wie:
WEIß WIE SCHNEE. IST MILCH. IST IMEI. IM BEGINN. EINGANG. AUSWEG.HERAUSHAUEN AUS DEM BAU. AUTSCH!HÖR AUF MIT DEM WEINERLICHENWISSEN! WEIßFLAGGENHISSEN.GEMEINSAMES. FRIEDLICHES. NISTEN.(S. 12)
Detailsemantisch
könnte man schon an dieser Stelle die »Machart« des Textes analysieren.
Der sprachspielerische Umgang mit den Worten ufert nie aus, wirkt sogar
durch den Zusammenhang ausgenüchtert und berechnend gesetzt, trotz des
Spielerischen, das der Häufung von rhetorischen Figuren anhaften könnte.
Der Text treibt es nie zu bunt.
Die jeweiligen Blöcke sind jedoch sequenziell miteinander verbunden. Unterstützt
oder konter-kariert wird diese Verbindung der Texte untereinander durch
eine Andeutung von Unterteilung durch die Nummerierung der Sequenzen.
Die
semantische Entleerung durch ein numerisches Setzen von Ziffern betont
das Zählen, die Zahlen, das Bilden von Listen. Macht darauf wiederum
unangenehm aufmerksam. Rückt dem durch ein Verwenden zu Leibe,
ironisiert diese Tätigkeit, indem die Ziffern auf den Buchseiten so
seitenfüllend gesetzt sind, dass man sie zum Ende hin kaum mehr erkennt.
Von
0-7 schreibt sich der Text in quadratischen Gedankenabschnitten fort
innerhalb ganz enger Grenzen, der Grenzen, die dadurch kritisiert und
hinterfragt, entlarvt werden. Nie wird
dabei aber die eigene privilegierte Perspektive vergessen, immer ist da
der Zweifel an der Tiefe von Reflexion über diese basalen Strukturen von
Hierarchie. Man möchte wissen, wie kommt man da wieder raus.
Man
könnte an dieser Stelle an ein Lied der Wohlstandskinder, einer
Punk-Band der 90er- und 2000er-Jahre, denken: »Denn es gibt nur eine
Lösung / und die finden wir wohl nie / Ich kenne schon den Anfang /
zerstört die Hierarchie« (Wohlstandskinder: Nur eine Lösung)
Kritik
trifft im ersten Band auch die Überheblichkeit der Elterngeneration,
die trotz besseren Wissens dann doch unreflektiert chauvinistische und
auch unbewusst rassistisch strukturierte Bewegung der 68er. Die
Reflexion des eigenen Handelns ging nicht in die Veränderung dieses
Handelns und der Denkstrukturen über, so die Kritik des sprechenden Ichs
im Band. Die 68er zementierten die Macht der Akteure durch Kritik an
dieser Macht.
Die
Arroganz der Selbstgerechten und der akademischen weißen Eliten bilden
keine Bollwerke gegen diese Hierarchien. Sie garantieren sie gerade
weiter. Zumindest die Männer. Und die haben Geschichte gemacht. In
erster Linie. Ganz klar wird dies artikuliert:
UNWISSEND ÜBERNAHM DAS WEIßE
DIE FÜHRUNG IM RASSISTISCHEN
SYSTEM. FRÜHZEITIG. VORWISSEND.
SCHAUEND. ANSCHAULICH. FAMILIEN
MIT FLUCHTTRADITION. BESSER-
WISSEND. LINKSRADIKALISIERTE
LEITGEDANKEN. PLANKEN, POLI-
TISIERTE WOHNGEMEINSCHAFTEN.
[…]
(S. 16)
Von
Familiengeschichte und Kindheit ausgehend reflektiert das lyrische Ich
in den Texten den eigenen Background, die Herkunft und den damit schon
in die Wiege mitgelegten Rassismus. »SCHWADRONIEREND IM SCHWABENLAND«
(S. 17) wird ironisch immer wieder entlarvt, wie tief dieser
Zusammenhang eingeschrieben ist. Nicht zuletzt von sich selbst erwartet
das lyrische Ich ein anderes Verhalten dazu in der eigenen Sprache, im
eigenen Handeln:
MIT SCHAM UND SCHULD KOMMEICH NICHT WEITER. SIE HEMMEN MICHIN GANG ZU KOMMEN. DIE WEIßZEICH-NUNG. DIE RASSISTISCHEN ZUSCHREI-BUNGEN SIND IN JEDER SEKUNDE NEUZU DENKEN. JEDE HANDLUNG HÄNGTDRAN. […](S. 48)
Wie
über was zu sprechen ist, von einem Ich aus, das weiß ist und davon
weiß, scheint reflektierend immer wieder an Boden zu verlieren, auf dem
es etwas Sicheres zu sagen gäbe. So wird das Instrument einer
reflektierend klaren Sprache immer mehr zum ungeeigneten Mittel, zum
Problem an sich. Sprachkrise ganz unromantisch. Die
Ermächtigung durch das Verwenden einer eigenen Sprache ist voller
Fallstricke, Knoten, Anfänge und Abrisse, neu zu denken, bis das
lyrische Ich in einen Dialog, sich selbst entlarvend, also einen Dialog
mit sich selbst verfällt und verfängt. Nichts von diesem Prozess wird
verschwiegen.
ICH WEIß JA. ICH WEIß. ICHWEIß. WEIß. DIE SCHAM IST NICHTVORBEI. ICH SAG »DU«, WEIL ICH DAS»ICH« KLEINMACHEN WILL. WEGENMEINES WEIßEN ILL WILL (I WILL).ICH SAG »DU« UND »WIR« UND »ICH«.ICH WEIß NICHT.(S. 59)
Die
Idee, neben dem kulturellen Kanon von Gedanken und Sprache, eine eigene
wuchern und wachsen zu lassen, scheitert aufgrund der
Selbstreferentialität. Durch den Verdauungsprozess hindurch wird
durchpflügt, durchwühlt, durchgearbeitet, ohne dass sich der Inhalt zu
sehr überschlägt oder überlagert wird. Wie mit einem Seziermesser werden
die kulturellen Ungerechtigkeiten dekliniert durch eine Sprache, die
von sich selber weiß, wie brüchig, fragil und mehrdeutig sie ist. Das
Festsetzen und Feststellen von unangenehmen Tatsachen wird durch das
Manövrieren der sprachlichen Mittel auf den Punkt gebracht und
gleichzeitig verunsichert.
Die
Texte deuten typografisch und semantisch die Quadratur des Kreises an,
sie stoßen wie Stolpersteine unentwegt an den berühmten Satz von Adorno,
wie Vögel an Warnvögel.
Es
gibt kein richtiges Leben im Falschen; das bedeutet, in falschen
Setzungen, Satzungen, Regeln, auch Sprachregeln, Spielregeln, die sich
die marginale weiße männliche Minderheit ausgedacht hat. Im Band wird
klar gemacht, das muss nicht unbedingt hingenommen werden.
Beeindruckend
und hervorzuheben ist neben dem schonungslosen Durchgehen der mikro-
und makrokosmischen Menschheitsgeschichte als Geschichte der
Unterdrückung die sprachliche Gestaltung, die einen Gedanken zum
nächsten kommen lässt, auch und gerade durch Polysemie. Der Titel „Am
Ende der Weißheit“ birgt genau jene beiden Bewegungen, die der Band
simultan und zusammengelesen erfüllt. Er denkt vom Ende her und durch
die Sprache hindurch, ohne abzuschweifen.
Diese
unentwegte Reflexion beim Verwenden von Sprache und im Dialog, auch
Zuhören. Nur das wird helfen, vielleicht zu verstehen, tatsächlich zu
verstehen.
SO EINE LANGE ZEIT. SO EIN LANGERWEG. LAUSCH DEINER EIGENEN BE-GRENZUNG. TRITT DARÜBER. TAPSDAZWISCHEN. TORKEL RAUS. GENUGVORTEILE GENOSSEN. GENUG ABGE-ZOCKT, MACHT PLATZ, […](S. 205)
Auch
der zweite Band gibt sich nicht zufrieden »mit den besetzten,
übernommenen, verletzten Sprachen« (Klappentext). Er knüpft an vielen
sprachkritischen Fäden an, die in »Am Ende der Weißheit« verhandelt,
mehr noch, schrittweise durchlebt werden. Auch
diese Texte sind nicht leicht verdaulich und haben den Anspruch,
nochmals von vorne laufen zu lernen. Vor allem sind sie noch mehr auf
das Hören, das laute Lesen, das Performative bezogen, und sie sind
fabelhaft mehrsprachig.
Englisch,
onomatopoetische Laute von Tieren und Maschinen, Apparatgeräusche
mischen sich in eine Polyphonie, die ein Babel erzeugen, es darstellen,
es auf diesem Wege vielleicht teilweise sogar überwinden könnten.
Sprachgrenzen werden aufgezeigt, aufgeweicht und miteinander verschaltet
durch Homophone, Ähnlichkeiten im Laut- und Klanglichen. Anagrammatisch stehen die Strophen da in Mikrolithen, in Hörblöcken. So heißt es in »RESOUND_REWIND« ganz reduktionistisch und variiert:
HEAR HÖRT EARHERE HIER HE IHRHEAR HER NEARSHE COMES HERHERE SHE COMESHERE COMESHERE COMEHER VOICES
HERE COMES HER VOICEVOICELESSNESSHIS VOICES AREHER VOICELESSNESSHERE HER VOICE ISHERE HEAR HERVOICES COME HEREVOICES COMES NEAR
(S. 11)
Die
Heterogenität des Bandes fällt durch den Gegensatz zum ersten auf.
Hangelte sich »Am Ende der Weißheit« an diesem Ende entlang, so stehen
die Textgebilde in »Verschalte Verbindungen« je für sich als einzelne
Sprachkunst. Verbindungen entstehen durch Anagramme, Alliterationen,
sprachreflexive Vorgänge, die den Text treiben. In »Taktischer Typhon«
wird in den Gedichtanafängen das ganze Alphabet (außer Z)
durchdekliniert. Aber keine Regel ohne Durchbrechen:
Das Wort ist der Phallus des Geistes
Dass Denken wesentlich ein SprechenDes Menschen mit sich selber seiDass es nicht gut geschrieben warDass man nicht tue, was man doch tut,Indem man sie in den Mund nimmtDeep keepDen goldigsten TeilDéplacement du discoursDer Jargon ist die Wurlitzer-Orgel des GeistesDer MutDer pure Ton trieft vor PositivismusDer Pure trifft den Ton(S. 26)
Gesperrt gibt es inhaltliche Berührungspunkte zum Geschwisterband:
ICH SPRECHE VON MEINER ZEITICH PRÄGE MEINE ZEUGUNGICH LEUGNE NICHTS UND SCHREIEMEIN SANG EIN SONGMEIN SOG EIN SAUGENMEIN DRÜCKEN EIN TREIBENMEIN DRUCKSEN EIN DRÄUENDIE SÄUE RAUCHENDIE STAPFENDEN HÜTERTHE RIVER SHALL RISEOVER YOUR EYEAUßERHALB ALLER
DIE GANZEN GEMEINEDIE LECKENDE URKUH(S. 45)
An
jeder Stelle hat man es in dieser Publikation mit Texturen zu tun, die
nicht nur reflektieren, was sie gerade abhandeln, sondern mit
verschiedenen Ebenen von Sprache so präzise jonglieren, dass
Sprachtheorie hier sich des Mitatmens bewusstwird, und wir das gewohnte
schnelle Ver-dauen angeblicher Gegebenheiten verlernen, um vielleicht
anders neu und
»[…] 24/7. IMMER AUF’S NEUEZU BEGINNEN. AB JETZT. LOS. WIDER.UND WIEDER.«(AM ENDE DER WEIßHEIT, S 220)