Stéphane Mallarmé: Zu verwirklichen ist nur das Unmögliche. Briefe
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Felix
Philipp Ingold
Der
verbriefte Mallarmé
Ausgewählte
Korrespondenzen in deutscher Erstübersetzung
Stéphane Mallarmés epochales lyrisches
Gesamtwerk – zahlreiche Gelegenheitsgedichte und verstreute Einzelstücke mit eingerechnet
– umfasst rund 350 Druckseiten, ist also in einem Band mittleren Umfangs leicht
unterzubringen. Im Vergleich damit nehmen sich seine privaten Korrespondenzen
geradezu episch aus – sie sind greifbar in elf reichlich kommentierten Bänden
(I-XI, 1959-1985), die nachfolgend mehrfach ergänzt werden konnten, so dass
derzeit ungefähr 3400 Briefe des Dichters gedruckt vorliegen. Gut 200 davon
sind seit kurzem in deutscher Erstübersetzung zu lesen, herausgegeben und
erläutert von Leo Pinke und Tim Trzaskalik, fussend auf der jüngsten, bislang
vollständigsten französischen Edition von Bertrand Marchal (2019).*
In
ansprechendem Buch- und Grafikdesign bietet die deutschsprachige Auslese nebst
dem Corpus der Briefe aus den Jahren 1862 bis 1898 einen detaillierten
Anmerkungsapparat, eine Chronologie zu Mallarmés Leben und Werk (1842-1898)
sowie eine kommentierte biographisch-poetologische Zitatcollage der beiden
Herausgeber, die all dies nach den entsprechendenm Vorgaben von Marchal sorgsam
ausgearbeitet haben.
•
Stéphane Mallarmé war kein passionierter,
doch ein aufmerksamer, verlässlicher und stilbewusster Briefschreiber, der
bisweilen seine allzu vielen Pendenzen oder auch den Mangel an Schreibpapier
oder Briefmarken beklagte, sich aber stets bemühte, den Grossteil seiner
sozialen Kommunikation prompt und verlässlich auf dem Postweg zu erledigen. In
Gesellschaft begab er sich selten, hatte dazu auch kaum Gelegenheit, solang er
als Sprachlehrer in die unaufgeweckte französische Provinz versetzt war. Dort –
in Tournon, Besançon, Avignon – meditierte er nach eigenem Bekunden in fatalem
Alleingang über seine dichterischen Projekte und über sich selbst. Die
Korrespondenz sollte ihm also nicht zuletzt die fehlenden ausserfamiliären
Kontakte und kollegialen Gespräche ersetzen, bis er 1871 endlich ein Auskommen
und eine Wohnung in Paris, mithin auch den Zugang zum dortigen Literaturbetrieb
fand. Ab 1874 hatte er zusätzlich ein kleines Haus in Valvins, unweit der
Hauptstadt, zur Verfügung, das er nun regelmässig als Sommerresidenz und auch
als Treffpunkt für freundschaftliche Begegnungen nutzte.
Seine
Gewohnheit, brieflich sich auszutauschen, sich zu unterhalten und zu
informieren, behielt Mallarmé dennoch bei. Zunehmend gehörten auch namhafte
Autoren (Zola, Verlaine, Huysmans, Verhaeren) sowie junge Dichter (Gide,
Valéry, Fort, Moréas) zu seinen Korrespon-denten, aber weiterhin waren seine
Briefe mehrheitlich an Familienangehörige und nähere Bekannte gerichtet,
ausserdem an langjährige Vertraute wie Henri Cazalis, dem er seit den frühen
1860er Jahren in kollegialer Freundschaft verbunden war. Hinzu kam seit den
mittleren 1880er Jahren eine mehrheitlich undatierte, weil verfängliche
Korrespondenz (166 Briefe) mit Méry Laurent, einer freizügigen Dame der Pariser
Haute volée, die Mallarmé in hohem Ton anschrieb und in Gedichtform
überschwänglich besang. Frau und Tochter («meine armen Kinder», «meine Lieben»)
waren davon nicht tangiert, mit ihnen pflegte er bis zu seinem vorzeitigen Tod
ein fürsorgliches, zärtliches Verhältnis, und ihnen übertrug er schliesslich
auch in Schriftform die Verantwortung für seinen literarischen Nachlass.
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Insgesamt bietet Stéphane Mallarmés
umfängliches Briefwerk nur wenig Interessantes und Gewichtiges. Es überwiegen
alltägliche Banalitäten und Querelen: Der schriftliche Dank für eine Zuschrift,
für ein Buch; Gratulationen zu Familienfesten oder zu literarischen Erfolgen
und Ehrungen; Berichte über das Ungemach seines Lehrerberufs und seine häufigen
gesundheitlichen Probleme, über Müdigkeit, Unlust, Selbstzweifel, mangelnde
Produktivität; oder auch bloss die schriftliche Rückfrage nach dem Verbleib
seines vergessenen Regenschirms. Lediglich in einigen seiner Dichterbriefe
teilt er relevante Lese- und Schreiberfahrungen mit, nur ganz wenige
Korrespondenten lässt er teilhaben an seinen Visionen und Träumen, die er bald
höherer Eingebung, bald realem Wahnsinn zuschreibt («verrückt, wie ich bin»,
1862).
Was
die vielen Briefe dennoch so lesenswert macht, ist ihre durchwegs stilvolle
Schriftform, die keinerlei sprachliche Schludrigkeiten duldet und die als
solche Mallarmés Respekt gegenüber all seinen Adressaten bekundet, ganz gleich,
ob es sich um eine Zufallsbekanntschaft, eine Geschäftsbeziehung, eine
Freundschaft oder eine Institution handelt, ganz gleich auch, ob Freude,
Missmut, Mitleid die Intonation bestimmen – stets hält sich Mallarmé an die
korrekte Ausdrucksweise, die bei aller Konventionalität noch jedes Mal durch
einen unverkennbar persönlichen Touch aufgefrischt wird. Eine solche
Besonderheit ist etwa die häufige Verwendung des Begriffs «Hand» an Stelle von
«Gruss», also hier – «meine Hand», «Ihre Hand», «ein Händedruck»: Der Brief ist
als reale Begegnung gedacht, die Handschrift garantiert deren Authentizität.
Noch so gern würde man viele dieser Begegnungen mitvollziehen, doch dazu müsste
man auch die von Mallarmé empfangenen Briefe zur Verfügung haben.
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Mallarmés durchgehende stilistische
Disziplin verrät einen Charakter von hoher Integrität, Höflichkeit, Diskretion,
der selbst «unter Tränen» (was manche Briefe wörtlich bezeugen) sein
Formbewusstsein nicht verliert, es sogar forciert, um den emotionalen
Überschwang auszugleichen. Diesen Stil, diese Disziplin pflegte der bescheidene
«Dichterfürst» auch in seiner Alltagswelt – er trug schlichte, korrekte, eng
geschnittene Kleidung, dazu sorgsam frisierte Haar- und Barttracht, und er
umgab sich mit konventionellem bürgerlichem Hausrat, ganz anders als die
dekadenten Dandys und Rowdies unter seinen Zeitgenossen, zu deren Protagonisten
in unterschiedlicher Ausprägung Rimbaud, Verlaine, Péladan gehörten.
Von
Provokation, Zynismus, Eitelkeit, Überheblichkeit oder auch bloss Ironie gibt
es bei Mallarmé keine Spur, obwohl ihm sein später Ruhm die Aura eines
«Geistesprinzen» (Mauclair) verschaffte, eines «wahrlich royalen»
Sprachkünstlers (Morice), der «halb als Mensch, halb als Gott» zu gelten habe
(Rodenbach). Besonders deutlich ist dies an seinem Umgang mit jungen Autoren –
von Barrès und Louÿs bis hin zu Claudel, Barbusse und Francis Jammes – zu
erkennen, die er allesamt wohlwollend (man könnte auch sagen: unkritisch)
beraten und belobigt hat: Die Korrespondenz hält dafür manch ein vielsagendes
Beispiel bereit.
Mit Mallarmés
Toleranz andern gegenüber wie auch mit der öffentlichen Anerkennung, die ihm
noch zu Lebzeiten zuteilwurde, kontrastiert sein selbstquälerisches, in vielen
Briefen einge-standenes Minderwertigkeitsgefühl, das ihn bis zum Eingeständnis
seiner künstlerischen Impotenz verleiten konnte; seinen ererbten, ihm
verhassten Namen hielt er für ein schlechtes Omen: Mallarmé ist der schlecht
Gewappnete («mal armé»), und er ist auch der, welcher sich ständig bedroht
(«alarmé») und zugleich schuldig fühlt.
Ein Brief des
Zwölfjährigen an seinen Vater (1854; fehlt in der vorliegenden deutschen
Auswahl) hält geradezu programmatisch die frühe Zerknirschung fest, von der
Mallarmés Selbstbewusstsein und sein nachmaliges Leben zutiefst vergällt waren:
«Ich schreibe dir dies in aller Kürze, um dich um Vergebung zu bitten für all
den Kummer, den ich dir bereitet habe mit meinem schlechten Verhalten und
meiner schlechten Arbeit, und um gleichzeitig deine Segnung zu erbitten.»
Signatur: «Dein kleiner geliebter [sic] Sohn.» Der Vater, der hier als
Übervater, wenn nicht als Gottvater angerufen wird, vertritt jene höchste
namenlose Instanz, aus deren Abhängigkeit sich Mallarmé nie ganz zu befreien
vermochte und die ihn in permanenten Alarmzustand versetzte.
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Dazu stehen seine erfolgreichen Auftritte
als Tisch-, Vortrags- und Grabredner in denkbar schroffem Gegensatz; noch
schroffer allerdings ist der Unterschied zu seinem (vorab von ihm selbst und
für sich selbst geprägten) Image als auserwählter Kunstpriester, der seine hohe
Berufung märtyrerhaft als eine Art von Verdammnis auf sich nimmt – in sozialer
Abgeschiedenheit, eingelassen in den luftleeren Raum eines kosmischen Buchs, an
dessen Entstehung er weniger als Autor (Schöpfer) denn als Medium (Vermittler)
beteiligt war. Diese abgehobene Buchwelt ist dominiert von Leere, Licht,
Nichts, Weiss, Schwan/Zeichen (cygne/signe), Schwarz und Azur – ahnbar zwar,
doch nicht zu begreifen. Mallarmés spätes Poem «Ein Würfelwurf wird nie den
Zufall tilgen» (1897) kann als definitives Fazit seiner Suche nach dem
absoluten – dem von allem Irdischen, Menschlichen «abgelösten» – lyrischen Text
gelten, der hier einen autonomen Realitätsstatus gewinnt.
Gegenüber
seinem Dichterkollegen Paul Verlaine hat Mallarmé in einem bekenntnishaften
poetologischen Brief (16. November 1885) seine Bemühungen um das kommende
totale «Buch» als ein qualvolles Laster bezeichnet: «So lautet das Geständnis
meines Lasters, das ich Ihnen hier, lieber Freund, entblösse, das ich
tausendmal von mir gewiesen habe, geistig geschunden und erschöpft, aber ich
bleibe von ihm besessen und vielleicht wird es mir gelingen; nicht dieses Werk
in seiner Gesamtheit zu erschaffen (dazu müsste man ich weiss nicht wer sein!),
aber doch ein ausgeführtes Fragment zu zeigen. […] Durch die hervorgebrachten
Abschnitte beweisen, dass dieses Buch existiert, und dass ich gekannt habe, was
ich nicht werde erfüllen können.» – Die für Mallarmé charakteristische
Engführung von Laster und Qual wie auch von Besessenheit und Arbeitsethos tritt
in diesen wenigen Zeilen beispielhaft zutage; andere Briefe (vorab jene an
Henri Cazalis) bieten dafür weitere aufschlussreiche Belege.
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Es findet sich in Mallarmés Briefwerk auch
manch ein Beleg dafür, dass und wie er bei sich bietender Gelegenheit – oft aus
nichtigem Anlass – zu grosser dichterischer Form auflaufen konnte. Gerade in
seinen letzten Lebensjahren gerieten ihm immer wieder banale briefliche
Mitteilungen zu kleinen kunstvollen Essays oder gar zu eigentlichen
Prosagedichten. An unterschiedlichste Empfänger verschleuderte er freigiebig
derartige Mikrotexte, ohne sich weiterhin darum zu kümmern und sie allenfalls
seinen literarischen Schriften beizuordnen. — Auf eine unbedarfte redaktionelle
Anfrage bezüglich seiner Einschätzung des Fahrrads als Sportgerät antwortete
der Dichter (im Mai 1897) wie folgt:
«Monsieur, ich
habe das Fahrrad nicht ausprobiert, aus Verbundenheit, vielleicht, mit
altehrwürdigen dünkelhaften Sportarten wie dem Fechten oder dem Binnensegeln
und, zumindest hätte ich das gerne, dem Reiten; aber erkenne durchaus seine
wunderbare Praxis an.» Um nach ein paar weiteren, leicht ironisch getönten
Sätzen fortzufahren: «Der Mensch nähert sich nicht ungestraft einem Mechanismus
und vereint sich mit ihm nicht verlustfrei. Noch mehr ins Gewicht fällt aber,
dass diese Gewohnheit, so heisst es, dem Tanz schadet, jenem anderen Taumel;
den ich ihm [dem Radfahren] immer vorziehen werde.»
Wenn diese
perfekt ausformulierte Antwort damals ungedruckt blieb, so vermutlich aus zwei
Gründen: Erstens wegen des allzu gehobenen Stils; zweitens wegen der
kultur-pessimistischen Einschätzung des Fahrrads durch den berühmten Dichter,
der hier explizit vor der Verschränkung von Mensch und Maschine warnt, und der
sich auch nicht scheut, dem Radfahrer eine «alberne und jeder Anmut bare
Haltung» vorzuwerfen – mit Hinweis auf den Tanz als freien Gegenzug zu
jeglicher mechanischen Bewegung.
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Als Briefschreiber hat Stéphane Mallarmé
nebst unterhaltsamem Tratsch in gepflegter Rhetorik auch offenherzige, dabei
tiefgründige und oftmals tragische Selbstbekenntnisse zu bieten, dazu
vielfältige Reflexionen über Literatur und Kunst, begriffen als Berufung, als
Handwerk, als eine besondere Art von Wahrheit und Wirklichkeit. In einem
Schreiben von Ende November 1886 an Vittorio Pica fasst der Autor seine
diesbezüglichen Überlegungen ebenso präzis wie spekulativ zusammen:
«Ich
glaube, dass uns die Literatur, geschöpft an ihrer Quelle – der Kunst
und der Wissenschaft – ein Theater liefern wird, dessen Aufführungen der
wahre moderne Kult sein werden; ein Buch, eine unseren schönsten Träumen
genügende Erklärung des Menschen. […] Jeder hat sich daran versucht, ohne es zu
wissen; ob Genie oder Hanswurst, jeder, der den Mund aufmacht, findet einen Zug
davon wieder, auch wenn er es nicht merkt. Dies zu zeigen und einen Zipfel des
Schleiers zu lüften, der über dem liegt, was ein solches Gedicht sein
kann, ist in Abgeschiedenheit meine Lust und meine Qual.» Zu diesem «modernen
Kult» hat Mallarmé mit seinen Dichtungen wie mit seinen sonstigen Schriften –
das grossartige Briefwerk inbegriffen – nachhaltig beigetragen.
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* Stéphane Mallarmé: „Zu verwirklichen ist nur das Unmögliche“. Briefe. Ausgewählt, kommentiert und aus dem Französischen übersetzt von Leo Pinke und Tim Trzaskalik, Matthes & Seitz Berlin 2023, 639 Seiten, in Leinen gebunden mit zwei Lesebändchen, Fadenheftung, 48,00 Euro.