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Stefan Hölscher: 7 bösblöde Thesen zum Stand der Gegenwartslyrik

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Lyrikkritik
Stefan Hölscher

Sieben bösblöde Thesen zum Stand der Gegenwartslyrik


Diesen Text muss man/frau nicht ernstnehmen und schon gar nicht darauf in irgendeiner Weise reagieren, denn:  

(1)  Er arbeitet mit üblen Pauschalisierungen und Zuspitzungen.
(2) Er nimmt das offizielle Thema „Kritik“ dieses Diskurses zwar auf, weitet es dann aber unbotmäßig kritisch aus.
(3) Er stammt aus der Feder von einem, der halb von außen irgendwas trompetet und hier nicht richtig dazugehört.   
(4) Er zeigt ein Herz für die Doofen, die ungebildeten 99,99% der Bevölkerung, die keinen Zugang zur gegenwärtigen Lyrik mehr finden (wollen).
(5) Er geht von der abstrusen Annahme aus, dass mehr Dialog auch der Lyrik dienlich sein könnte.
(6) Er trägt in sich den Keim einer befremdlichen Mischung von Ideen und Formen, die so überhaupt nicht vorgesehen zu sein scheint.
(7) Er arbeitet mit zu vielen Aufzählungspunkten.

Zunächst noch einmal ein kurzer Bezug auf in diesem Diskurs „zur Kritik“ versammelte Beiträge:

Ja, Amadé Esperer, Gedichte brauchen ein „gewisses Etwas“, das mit gekonntem Handwerk allein nicht zu bewerkstelligen ist!
Ja, Timo Brandt, es macht keinerlei Sinn objektive Maßstäbe für Gedichte festlegen zu wollen. Pluralität und Perspektivenvielfalt auch in der Bewertung dürfen und werden stattfinden!
Ja, Jan Kuhlbrodt, in gewisser Hinsicht, wenn auch etwas metaphorisch gesprochen, lässt sich wohl sagen, dass Kunstwerke sich ihre Norm selbst formulieren. Auf jeden Fall sind sie keine normfreie Zone!
Ja, Horst Samson, Lyrik braucht qualitativ hochwertige und widerborstige Eigenständigkeit, keine Economy-Standardisierung oder DIN ISO Normen!
Ja, Klaus F. Schneider, es gibt auch heute noch „Kunstwärter“, die faktisch „Parameter, Akzeptanzregister und auch Wirkungsfelder“ definieren!
Ja, Slata Roschal, es geht um „die innerliterarische Entwicklung, um den strengen zeitlichen Kontext künstlerischer Verfahren“, in der Produktion ebenso wie in der Kritik von Literatur!
Ja, Jan Kuhlbrodt, „weniger marktgängige Texte“, denen man gleichwohl „gesellschaftliche kulturelle Bedeutung“ zusprechen kann, „benötigen Hilfe, um in einer marktförmigen Gesellschaft überhaupt stattzufinden“!
Und noch einmal: Ja, Jan Kuhlbrodt, es ist eine ganz besondere Verbindung von „Regel und Freiheit“, die Kunst ausmacht und die es auch bei deren Kritik zu berücksichtigen gilt. Es geht dabei gerade nicht um mechanisch reproduzierbare Technik!

So weit, so gut und gar nicht so unendlich weit von dem entfernt, was schon der gute alte Immanuel in diese Diskussion miteingebracht hat. Kunst als das „freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand“ hat eine Anbindung an beides: Das Reich der Regeln, Normen, Wissensbestände etc. einerseits und das Reich der freien Imagination, Phantasie, Kreation andererseits. Kritik braucht hohe Maßstäbe und Qualitätsanforderungen, und gleichzeitig werden diese niemals objektiv sein, auch wenn sie gerne mal so verkündet werden. Es braucht aber eben auch Offenheit; Offenheit nicht im Sinne von subjektiver Beliebigkeit, sondern im Sinne einer Distanz zu eigenen Annahmen, die deren Grenzen und die Berechtigung anderer Herangehensweisen mitdenkt.
    Und damit komme ich nun – nicht ganz ohne eine kleine Portion Penetranz – auf einen Gedanken zurück, den ich schon recht zu Beginn unter dem Stichwort „Schöne neue Lyrikwelt“ in die Diskussion eingebracht habe. Ich glaube nämlich, es sollte um mehr gehen als die Kritik. Was meines Erachtens ansteht, ist eine kritische Reflexion einiger Grundannahmen, Denk- und Handlungsgewohnheiten, die in der aktuellen Lyriklandschaft recht selbstverständlich geworden sind, weil es sein kann, dass sie das Feld, das der Produktion, Rezeption, Reflektion und Diskussion, über Gebühr einengen.

Und das führt mich nun zu den ja bereits angedrohten sieben bösblöden Thesen. Als da wären:

(1) Die Szene der Gegenwartslyrik im deutschsprachigen Raum geht  (explizit und/oder implizit) von einem Paradigma aus, zu dem maßgeblich Annahmen wie diese gehören:

Echte Lyrik lebt systematisch von Abweichungen zum Erwarteten. Solche Abweichungen beziehen sich auf Erwartungen zu Narrativaufbau, Themenverknüpfungen, Satzkonstruktionen, Wortverbindungen, Denk- und Handlungsschemata etc.
Echte Lyrik hat cool zu sein, was hier bedeutet: Sie hat möglichst beschreibend, gelassen, lakonisch daherzukommen und sollte auf gar keinen Fall nach außen emotional berührt erscheinen, um nicht unter dringenden Trivialitäts- und Kitschverdacht zu geraten.
Echte Lyrik ist durch und durch komplex, reflektiert, sprachlich bis ins letzte Detail ausgefeilt und von hochkarätigem Wissen ihres literaturhistorischen Kontexts getragen.
Echte Lyrik kann nur von Lyrikexpert*innen adäquat verstanden und gewürdigt werden.
Wer sich echter Lyrik verschreibt, verschreibt sich einem Leben am Rande der Gesellschaft.
Echte Lyrik ist im Rahmen der Literatur die eigentliche Avantgarde.
Zu den Dingen, von denen grundsätzlich nichts Gutes zu erwarten sein kann, gehören: Der Markt, direkte Emotionen, einfache Sprache, politische Lyrik und Naivität.  

(2) Mit Leben gefüllt wird dies Paradigma in einem in sich geschlossenen kleinen Kosmos, der sich in der Lyrik-Szene im Laufe der Jahre herausgebildet hat: In diesem Kosmos wird Lyrik geschrieben, in von Lyriker*innen gegründeten Kleinstverlagen verlegt, von Lyriker*innen gelesen, von Lyriker*innen rezensiert und zumeist auch von Lyriker*innen gepreiskrönt. Obendrein gibt es Hochschulen und Institute, an denen Lyriker*innen nachfolgende Lyriker*innen ausbilden.

(3) Das Leben im kleinen Lyrik-Kosmos ist hoch vital und kreativ. Im Rahmen des bestehenden Paradigmas sind eine Fülle außerordentlich guter und spannender Texte entstanden. Gleichzeitig hat die Szene aber durch eine Verengung auf ihre paradigmatischen poetischen Handlungsorientierungen den Kontakt nach außen weitgehend verloren.

(4) Auch wenn man/frau in der Szene gerne auf Kollaborationen mit anderen Künstlern, Poesiefestivals oder wichtigen Literaturpreisvergaben an Lyriker*innen als Indizien für ein pulsierend offenes lyrisches Leben verweist: Austausch und Dialog zwischen den Akteuren der Lyrikszene und  grob geschätzt 99,99% der übrigen Menschen, darunter eben auch hoch gebildete, belesene, grundsätzlich lyrikinteressierte und weltoffene Menschen, sind stark gestört bzw. abgebrochen. Der Ignoranz der Szene Menschen außerhalb der Szene gegenüber entspricht kongenial die Ignoranz des Publikums gegenüber der aktuellen Lyriklandschaft.  

(5) Die Akteure der Szene scheinen sich mit ihrem Kleinst-Insel-Dasein abgefunden zu haben. Man/frau scheint es gleichsam wie ein Naturgesetz zu betrachten, dass gute zeitgenössische Lyrik eben auch nur von ausgewiesenen Kenner*innen zeitgenössischer Lyrik noch angemessen rezipiert werden kann. Daher scheint es in der Szene auch niemanden mehr zu wundern, wenn selbst die Auflage des Jahrbuchs der Lyrik in wenigen Jahren von 8000 (auch schon nicht gerade viel) auf 2000 Stück abgestürzt ist. Man schmort im eigenen Saft und fühlt sich wohl dabei. Eine Vision, wie und wo es mit der Lyrik im deutschsprachigen Raum in Zukunft weitergehen könnte, scheint es nicht zu geben. Verschenkt werden so sowohl gesellschaftliche wie poetologische Potenziale.

(6) Zum Gesellschaftlichen: Angesichts einer immer stärker werdenden Jugend- und Gesellschaftsbewegung, die sich systematisch und offen gegen etablierte politische Eliten für einen konsequenten Erhalt der Natur und gegen ein unsere ökologischen Existenzgrundlagen zerstörendes Wirtschaftssystem engagiert, wäre es sehr wohl vorstellbar, dass Menschen auch wieder stärker für Reflexionen,  geistige Sprünge, Wahrnehmungs- und Erkenntnis-perspektiven, wie Lyrik sie transportiert, ansprechbar sind, als dies in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten der Fall war. Diese Möglichkeit eröffnet sich auch im Kontrast zur ausgetickerten medialen Fast-Food-Kultur, die durch kommunikative Substanzausdünnung in sozialen Medien, durch Smartphone- und Internetabhängigkeit, Verlust von Aufmerksamkeits-fokussierung etc. beschrieben werden kann. Lyrik könnte hierzu ein geradezu segensreiches Gegenmittel sein.

(7) Zum Poetologischen: Im reichen Wissensfundus und der opulenten Werkstattausrüstung gegenwärtiger Lyrik liegt ein poetologisches Potenzial, das bisher nur ansatzweise ausgekostet wird. Christian Metz spricht in seinem lesenswerten Buch „Poetisch denken“ davon, die Gegenwartslyrik bewege sich in einem hochreflektierten Spannungsfeld von Ereignis, Avantgarde und Pop. In der aktuellen Lyriklandschaft überwiegt dabei insgesamt eindeutig dasjenige Element, das Metz als avantgardistisch bezeichnet. Hier wären auch noch andere Mischungsverhältnisse, Wechsel, Übergänge und Spielweisen möglich. Zum Beispiel auch Mischungen mit mehr „Pop“, direkterer Emotionalität, Lyrik-Prosa-Verwebungen oder (nicht-trivialer) Einfachheit. Dies alles natürlich, ohne auf einen historisch zurückliegenden Produktionsstand regredieren zu müssen. Die Möglichkeiten sind allesamt da. Sie ließen sich nutzen.

Danke fürs Bis-hierhin-Lesen! Und nun gerne wieder ganz entspannt zur Tagesordnung übergehen.

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