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Simone Scharbert: Erzähl mir vom Atmen

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Dirk Uwe Hansen:

Vom Fließen / vom Zwischen


Zugegeben: Ich habe mich gewundert, dass der Band „Erzähl mir vom Atmen” in der Reihe der Raniser Debuts (als zweiter Band überhaupt und als erster Lyrikband — mögen noch viele folgen!) erscheint. Zum einen, weil es ganz unvorstellbar scheinen will, dass es von einer Autorin noch gar keinen Einzelband geben soll, deren Texte mir und wohl allen, denen die Gegenwartslyrik am Herzen liegt, aus allerlei Zeitschriften- und Anthologieveröffentlichungen gut bekannt sind. Es sind Texte von hohem Wiedererkennungswert; fast immer Miniaturen, die wie Prosa gesetzt werden, immer treten sie unprätentiös auf und entwickeln dabei einen ganz eigenen Rhythmus. Häufig folgen die Texte auf den ersten Blick hergebrachten Erzählmustern und doch will jedes der Gedichte als Einzelwesen wahrgenommen sein, dessen Sprachregeln der Leser sich erst im Lesen erarbeiten muss (ich will mich hier nicht in Wesepennester begeben, aber diese Eigenschaft von Scharberts Texten, einen je eigenen auch grammatikalisch eigenen, Zugang vom Leser zu verlangen, nutze ich als Rechtfertigung dafür, sie Gedichte zu nennen; wer mag, darf gern widersprechen, das ändert dann aber natürlich nichts an der Qualität der Texte). Ich kann Scharberts Gedichte nicht lesen, ohne immer wieder das Bedürfnis zu verspüren, sie, oder wenigstens einzelne Formulierungen, jemandem vorzulesen, und sei es den Menschen, die um mich herum im Café sitzen: „von uns steckt inneres jetzt flachatmig in spalten”, „das staunen am versinken der sprache im organischen”, „in weißen bettlaken tauschen wir sätze wie einweggefäße”, „in dir reiben finger haut zu papier”… das kann man doch gar nicht leise lesen!

Der zweite Grund dafür, dass der Band nicht den Eindruck eines Debuts oder Frühwerks macht, ist seine ausgefeilte Komposition und inhaltliche Geschlossenheit. In den drei Kapiteln „Körper”, „Raum” und „Materie” wird die Positionierung des Individuums durchgespielt oder von allen Seiten umspielt. Alle Kapitel bieten neben Einzeltexten stets auch kleine Zyklen und jedes Kapitel endet mit einem Gedicht, das Scharbert mit einer anderen Dichterin oder einem anderen Dichter geschrieben hat. Diese Gemeinschaftsarbeiten betrachte ich durchaus als programmatisch, denn wie das in den Texten sprechende Ich sich gegenüber oder innerhalb einer Außenwelt positionieren will, positionieren sich auch die Texte in einem Netzwerk nicht nur von Literatur. Neben Sirka Elspaß, Jonis Hartmann und Maria-Daria Cojocaru, den Mitautoren je eines Gedichtes, kommen hier Lukrez, Virginia Woolf, Sylvia Plath, Rosmarie Waldrop, Uljana Wolf und die Fotografinnen Anna Atkins und Francesca Woodman und andere mehr ins Spiel.

WHITE SPACE

im zwischen deiner worte streiche ich manchmal ein brot mit
butter oder tauche es einfach in eine schale öl kaue langsam
höre im innern das auf und ab meines kiefers eine trägheit
ohne daran zu rühren kaue weiter kauere mich ins zwischen
deiner worte kaue vielleicht auch daran mit angezogenen knien
und eingezogenem rücken so ein rückzug ins eigene selbst eine
innere mongolei

Wie ein Körper ebenso durch den Raum definiert werden kann, den Materie einnimmt, oder den Raum, der Materie umgibt, so lassen sich auch die drei Kapitel des Bandes nicht unabhängig voneinander lesen, sie bedingen und durchdringen einander.
Immer wieder geht es dabei, wie in diesem Gedicht aus dem Kapitel „Raum”, um das miteinander Verfließen dessen, was Grenze, und dessen, was Verbindung ist, um das Verhältnis von Körper zu Sprache, um das „zwischen deiner worte” — und folgerichtig können wir Scharberts „du” immer sowohl als Anrede an ein Anderes oder an ein Selbst lesen, wie im folgenden Text aus dem Kapitel „Materie”:

FROTTAGE
„forest and sun” (max ernst, 1927)

dein körper ein wald dünn gezeichneter rippen aufeinander
gelegte formen in hohlräume verzweigtes längs und quer
schraffiertes dickicht in dir reiben finger haut zu papier
drücken dein inneres nach außen ohne ein wort oder den
mund in bewegung du aber jetzt eine fläche ein durchschlag
manchmal geht darin die sonne auf

Scharberts Gedicht zielen nie darauf, irgendetwas eindeutig abzubilden. Sie machen vielmehr (um mich bei Paul Klee zu bedienen) etwas sichtbar, nämlich eine Bewegung, ein Fließen, ein Gleichzeitig von Innerem und Äußerem, das also, was sonst sprachlos im Dazwischen verborgen bliebe, wenn wir isoliert nur entweder Raum oder Materie betrachten würden. Wer sich auf diese Bewegung einlässt, wird reich belohnt, deswegen zum Abschluss noch ein Beispiel aus dem ersten Kapitel „Körper”:

NOTIZ AN ALICE

nimmst deinen körper aus dem schrank dieses fragile gebilde
das dich tag für tag umhüllt einen dünnen schutzmantel bildet
mal mehr mal weniger grenzorgan zwischen dir und der welt
aber manchmal so eng dass kein hineinkommen geschweige
denn hinauskommen ist und du alice james im kopf im bett
sitzen bleibst für einen moment notizen schreibst an dich
selbst diesen dir meist unbekannten adressaten

Simone Scharbert: Erzähl mir vom Atmen. Jena (raniser Debut - Lese-Zeichen e.V.) 2017. 88 Seiten. 10,00 Euro.
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