Simon Konttas: Zwei Texte
Montags=Text
Simon Konttas
„Vielleicht weil heute Samstag ist“
I
Vielleicht weil heute Samstag ist und die Sonne scheint,
denke ich an den Waschkeller des zweiten weißen Holzhauses
auf jenem Grundstück mit den zwei Holzhäusern,
am Rande der Stadt, in einem davon wohnten wir …
Samstags wusch ich dort im Keller immer die Wäsche.
Auf dem Grundstück – es lag unweit eines kleinen Sees,
der Friedhof waren nicht fern und der Park – standen also
zwei weiße Holzhäuser.
Sie erinnerten mich damals schon an jene schmucken
Häuser in US-amerikanischen Vorstädten.
Ich musste immer an Albert Einsteins Haus in Princeton denken,
das ich einmal auf einem Foto gesehen hatte
in einer jener Rowohlts-Monographien über
den großen Physiker, da war ich wohl siebzehn Jahre alt
und hätte mir nie denken können,
dass ich auch einmal in so einem Haus wohnen würde …
So nämlich sahen die beiden Häuser aus.
Das Grundstück war von einem weißen Holzzaun umgeben.
Da wuchsen Birken und Stachelbeerbüsche.
In einem der beiden Häuser also lebten wir, im zweiten Stock.
Im anderen Haus lebten andere Leute, die wir nicht kannten,
irgendwelche Nachbarn, die wir nie zu Gesicht bekamen.
Im Keller eben dieses Hauses,
den man von außen betrat, über eine Art Luke,
die mich ihrerseits an Tornados erinnerte,
weil ich einmal in einem Film gesehen hatte,
wie eine Familie, vor dem Wirbelsturm flüchtend,
durch so eine Luke eilig in den Keller strebt,
befand sich der Waschraum: zwei Waschmaschinen
standen da im dem dunklen, feuchten Raum,
erhellt durch ein schmales, längliches Kellerfenster,
eine Wäscheleine hing von der Eingangstür bis zur
Badezimmertür. Eine Dusche hatten wir in unserem Haus
nicht, deshalb mussten wir dort duschen,
machten es oft auch gemeinsam, und das endete dann in ….
Und samstags wusch ich dort immer die Wäsche.
Vielleicht denke ich jetzt daran,
weil wieder einmal ein Samstag ist, die Sonne scheint
und ich meine Wäsche waschen müsste.
Es ist schon seltsam, wie sich der Stapel dreckiger Wäsche
ansammelt, jede Woche, immer aufs Neue,
und dass es einem nicht irgendwann zu blöd wird.
II
Vielleicht weil heute Samstag ist und die Sonne scheint,
denke ich an die bunten Holzwände des Vergnügungsparks
am Rande der Stadt, eines Vergnügungsparks
für kleine Kinder: Wasserrutsche, Geisterhaus,
und wie die ganzen sich drehenden, sich bewegenden
Gerätschaften heißen mögen, keine Ahnung.
War das denn nicht so – damals –, dass in dem Moment,
da man diesen Vergnügungspark betrat,
der Rest der Welt aufhörte zu existieren?
Jenseits der bunten Wände war die Stadt,
jenseits der bunten Wände war das Meer,
jenseits der bunten Wände waren Wald,
Hafen, die Fabrik, die Kirche, die Geschäfte,
der Fischmarkt, die Einkaufshäuser,
jenseits der bunten Wände waren die Autos,
die Schule, die Angst vorm Turnunterricht,
Hefte, Tests und Schularbeiten,
Schnupfen, Halsweh, schlechte Noten,
Asien, Afrika, China, der Nordpol,
die Flüsse, deren Namen man auswendig
aufsagen musste, die Berge,
die man auf der Karte zeigen musste,
die Vokabel, die schweißigen Hände,
Durchfall, Pickel, Blähungen und all das,
während mein guter Freund und ich
uns nichts sehnlicher wünschten, als zuerst
mit der Gruselbahn zu fahren, dann
mit den Holzbooten die Wasserrutsche hinab zu sausen,
danach eine große Pizza mit Schinken zu essen,
eine kalte Cola zu trinken ….
Vielleicht denke ich daran, weil heute Samstag ist
und die Sonne scheint und der Himmel wolkenlos
ist und blau, so wie er in meiner Erinnerung jenseits
der bunten Wände des Vergnügungsparks blaute,
blau und wolkenlos,
als würde das alles etwas bedeuten.
III
Vielleicht weil heute Samstag ist und die Sonne scheint,
denke ich an den sommerlichen Wochenendmarkt
in dem kleinen Dorf Tervajoki,
dem Nachbardorf von Isokyrö, wo mein Vater
aufgewachsen ist.
Eine breite Straße, die Hauptstraße, die vom Süden,
aus der Hauptstadt, zur Küste führt,
gesäumt von Wald und Feld, von Feldern,
auf denen Silos blechern in die heiße Sommersonne ragen,
da und dort vereinzelt kleine Holzhäuser,
Autowerkstätten, Tankstellen,
und am Rande eben dieser Straße, über der der blaue Himmel
sich glockenförmig wölbt, die weißen Wölkchen
zum Horizont hin zusammendrückend,
befinden sich die flachen Ziegelbauten,
die das „Zentrum“ des Dorfes bilden: Supermarkt,
Postamt, Frisör, ein kleiner Handwerksbetrieb,
das war’s … weiter vorne ein Parkplatz,
aus dem seit Jahren das Unkraut wuchert,
und dort, auf dem Gelände dieses Parkplatzes,
auf dem ein Cadillac ohne Reifen, verbeult,
verrostet, in der Sonne glühte,
wieder eines dieser flachen Ziegelgebäude,
diesmal mit eingeschlagenen Fensterscheiben;
da mag sich einmal, in den 1970ern vielleicht,
ein Versicherungsbüro befunden haben, kaum zu glauben …
Vielleicht also, weil heute Samstag ist
und die Sonne so freundlich scheint,
denke ich an den Wochenendmarkt
und den jungen Mann, der, in einer
bis zu den Knien reichenden Khaki-farbigen Short,
mit nacktem Oberkörper
dort am Straßenrand stand, einen Strohhut am Kopf:
er hatte asiatische Gesichtszüge,
ein glänzender Schweißfilm flirrte
auf seinem schlanken, athletisch-jugendlichen Körper,
und er verkaufte, glaube ich, Holzwaren.
Die Leute drängten sich um ihn, denn er sah gut aus.
Wenn er den Kopf ein bisschen hob,
dann konnte er sicherlich das Gatter mit den
Ponys und Pferden sehen, den einen demolierten Silo,
sowie vielleicht, gerade noch,
das weiße Holzhaus der Dorffriseuse,
die über nichts andres sprechen konnte als das Wetter,
es war zum Verzweifeln mit ihr.
IV
Vielleicht weil heute Samstag ist und die Sonne scheint,
erinnere ich mich an die junge
Erdbeerverkäuferin im Dorfe Laihia,
einem Dorf, etwa dreißig Kilometer entfernt von Isokyrö.
In Laihia sieht es so ziemlich genauso aus
wie in Tervajoki und in allen anderen Orten der Gegend.
Das Zentrum befindet sich bloß etwas abseits
von der Hauptstraße, es ist in sich geschlossener
und wirkt dadurch irgendwie schmucker,
man könnte vielleicht sagen: europäischer.
Aber auch dort die flachen Ziegelbauten,
allem Anschein nach errichtet in den
1960ern und 1970ern.
Die von der Hauptstraße ins Dorf
führende Straße steigt ein bisschen an,
und oben, bei einer Biegung, erhebt sich elegant die gelbe
Holzkirche, umgeben von einem Friedhof.
Diese Kirche und der Friedhof sind der ganze Stolz
des Ortes, dahinter, die Straße weiterfahrend,
gelangt man zu den flachen, einstöckigen
Einfamilienhäusern mit akkurat gemähten Wiesen,
mit Fahnenstange, Rasensprenger, zwei Kindern,
Hund, Auto, Wochenendhaus, Kredit und zwei Fernsehern.
Vielleicht, weil wieder Samstag ist ….
Die Sonne schien auch an jenem Samstag,
als die junge Erdbeerverkäuferin,
sagen wir, zwanzig Jahre alt, hinter ihrem
Verkaufsbrett stand, vor der Sonne geschützt
durch ein gespanntes Tuch (mir kommt das Wort
„Velarium“ in den Sinn, dieses gigantische
Tuchwerk, das die Sklaven über die Zuschauerreihen
im Colosseum aufspannen mussten,
wenn die Sonne die Zuschauer zu verbrühen drohte),
auf dem Erdbeeren abgebildet waren,
so wie man Erdbeeren auf Kinderbettwäsche abbilden würde.
Der Verkaufsstand war provisorisch,
wohl nur jeweils jeden Samstag in den Sommermonaten,
aufgebaut auf dem Parkplatz des Dorfsupermarktes,
aus dem dicke Männer in T-Shirts und mit Schirmkappen
heraustraten, gefolgt von ihren dicken Frauen.
Die Verkäuferin aber war jung und hübsch,
sie war blond, hatte Grübchen und …
und ich hatte das Bedürfnis, mit ihr zu sprechen.
Ich verlor mich in einsamen Fantasien
an jenem Sommertag: oh, du holdes Mädchen usw.
Vielleicht weil wieder Samstag ist und die Sonne scheint,
fallen mir all diese Sachen wieder ein ….
„Am Veteranenfriedhof“
Es ist wieder so ein grauer, kühler Vormittag im Sommer.
Und wieder einmal ist das Fenster offen,
weil ich morgens immer lüfte.
Du könntest glauben, du seiest am Lande.
Die Kirchenglocke läutet,
und draußen am Gehsteig hörst du
das pittoreske Kratzen eines Besens.
Und dabei bist du in der Stadt!
Es ist wieder so ein grauer, kühler Vormittag im Sommer.
Und wie es das Schicksal so will,
bin ich wieder einmal krank: eine Sommergrippe
hat mich erwischt, es musste wohl sein, na klar.
Es dauert morgens eines Stunde – und länger – bis ich
meine Gedanken geordnet habe.
Vorletzte Nacht habe ich schlecht geschlafen,
weil ich am Vormittag einen Termin
mit der Leiterin des Gefängnisses hatte, in dem ich arbeite.
Ich hatte nicht Angst vor der Leiterin,
die eine – so paradox das klingen mag – nette Frau ist,
sondern ich hatte, wie immer, Angst,
den Termin zu verschlafen.
Und ich schlief außerdem schlecht,
weil der Roman, den ich las, so gut war,
so packend, so wahr, dass ich’s mit den Nerven
zu tun bekam.
Es ist wieder so ein grauer, kühler Vormittag im Sommer.
Oben, in Finnland, habe ich oft solche Vormittage erlebt.
Das Wasser des Flusses fließt träge,
ja scheint ganz stille zu stehen.
Die Möwen putzen sich die Flügel auf den Steinen,
Vögelchen sitzen unschlüssig auf den Zaunlatten,
von den Bäumen tropft Tau.
An so einem Vormittag bin ich – vor vierzehn Jahren schon –,
als ich in Finnland lebte, zum Bischof gegangen,
in der Hoffnung, der könnte mir bei einer Ausbildung,
die ich machen zu sollen mir eingebildet hatte, helfen.
Vor dem Termin mit dem Bischof streunte ich
in dem verlassenen Ort herum, an dessen Rand
sich die Kirche, der Friedhof und die Bischofskanzlei befinden.
Ich landete irgendwann, in einem Zustand
unschlüssiger Melancholie (weil ich diese Ausbildung
eigentlich gar nicht machen wollte
und andere Pläne im Sinn hatte),
am Veteranenfriedhof: Finnland glorifiziert
seinen Krieg gegen die Russen, ob mit Recht oder
zu Unrecht, das sollen andere entscheiden.
Von den Bäumen tropfte Tau, es war kühl,
nass war das Gras, die Wolken waren bleiern und schwer,
und am Ende einer Allee befand sich eine heldisch
gestaltete Skulptur auf einem pompösen Sockel,
der eine Inschrift und Jahreszahlen trug.
Die Skulptur: ein junger Soldat, nackt,
kniend, den muskulös-jugendlichen Oberkörper,
den man unweigerlich mit neidvoller Bewunderung
betrachten musste, leicht nach hinten gestreckt,
einen Helm schief auf dem Kopf.
Das war der Stil, in dem man damals heldische Skulpturen
schuf, Arno Breker kam mir da in den Sinn
und die ganze homosexuell angehauchte – aber
vielleicht täusche ich mich? – Kameradschaftsglorifizierung.
Ich betrachtete die Skulptur und erinnerte mich
an jenes anderes Soldatenstandbild
in meiner Heimatstadt Baden.
Vor der katholischen Kirche steht es.
Auch so ein kniender, schlank-muskulöser, junger
Soldat, die Hände verzweifelt gen Himmel reckend,
als riefe er, nackt auf dem Schlachtfeld, zu seinem Erlöser.
Es kann keiner behaupten, es sei nicht Absicht,
dass von diesen Monumenten ein gewisser erotischer Reiz
ausgehen soll: ein Reiz, den ich irgendwie nicht begriff,
denn stand das alles nicht im Zusammenhang mit dem Krieg?
Es ist wieder so ein grauer, kühler Vormittag im Sommer.
Es ist wie damals, vor vierzehn Jahren, als ich
in einer schwermütigen Verstimmung, am Veteranenfriedhof
herumschlenderte und dann den Termin beim Bischof wahrnahm.
Er empfing mich freundlich.
Es ging darum, mir eine Ausbildungsstelle zu beschaffen.
Ich hätte sie, durch Verbindungen, vielleicht leichter
bekommen können, aber bei der ganzen Sache war mir mulmig zumute.
Ich wollte diese Ausbildung nicht machen,
denn das hieß, ich müsste weitere vier Jahre im Land bleiben.
Meine Freundin damals hatte andere Pläne.
Ich hatte andere Pläne.
Unsere Pläne überkreuzten sich, das spürte ich,
und das machte, dass ich mich schwermütig, schwach
und entschlusslos fühlte.
Nach dem Gespräch mit dem Bischof – oder war’s vorher? –
saß in einem Café des verlassenen Ortes und schrieb
etwas in mein Notizheft, dann fuhr ich heim
und versuchte, das alles irgendwie zu vergessen;
und zum Glück ist es anders gekommen als befürchtet.
Es ist wieder so ein grauer, kühler Vormittag im Sommer,
ich habe Schnupfen, gestern hat der Hals gekratzt,
ich fühlte mich unwohl, weil ich müde war
und öfter als gesund ist, an den Tod dachte
und andere Unliebsamkeiten.
Ich wusste, dass Ordnung zu schaffen
die einzige Lösung ist gegen solche seelischen
plumpen Behinderungen,
den Roman las ich übrigens in der Nacht zu Ende.
Es gibt so Zeiten, da man sehr gefühlsselig ist.
Gestern Abend war ich’s, denn ich musste fast weinen
an manchen Stellen des Buches:
weil sie so extrem gut sind, weil sie so wahr sind,
weil sie mich an etwas erinnerten, weil mir durch sie
etwas klar wurde, und wenn dir die Dinge klar werden,
dann empfindest du zuerst einmal so etwas wie Trauer.
Erotik und Krieg: vielleicht machte mich diese Skulptur
deshalb so traurig.
Das Kratzen des Besens auf der Straße an einem
kühlen Vormittag im Sommer: vielleicht
bin ich deshalb ein bisschen traurig,
aber ich weiß, ich weiß,
auch das wird vorübergehen, der Schnupfen,
die Müdigkeit verfliegen, es kommen – du kannst es nur hoffen –
hellere Tage, freudigere Stunden,
und du zuckst ein bisschen mit der Schulter,
lässt den heldisch-jugendlich-muskulösen Soldaten hinter dir
und gehst weiter, egal, ob du’s verstanden hast – oder nicht.