Silke Scheuermann: Gerade noch dunkel genug
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Timo Brandt
Dies dunkle, helle
Handwerk Dichtung
„Ein Gedicht steuert auf kurzem Raum viel rascher die ganz großen Fragen an: nach dem Leben und seiner Vergänglichkeit, nach dem Glück und dem Leid, der Liebe und dem Tod. Jeder Mensch stellt sie sich, Naturwissenschaftler werden von ihnen angetrieben, doch diese Rätsel widersetzen sich. Auch kein Dichter wird sie endgültig lösen können, das weiß ich bereits, bevor ich mit dem Schreiben anfange.“
Ich gebe zu, dass ich ein Bewunderer der Gedichte von Silke
Scheuermann bin. Es gibt kaum eines unter ihnen, bei dem ich auch nach längerer
Zeit und mehreren Lektüren das Gefühl habe, es vollkommen durchdrungen zu
haben. Bei den meisten Gedichten, die ich lese – ganz gleich ob ich sie schätze
oder nicht – weiß ich sofort oder nach einer kurzen Weile, worauf sie
hinauslaufen und/oder verstehe, wie sie gemacht sind, wie sie wirken. Bei
Scheuermanns Gedichten ist da oft ein großer Rest Rätsel; Spuren von Impulsivem,
Anlagen von Routine, sie enthalten beides, aber sie schlagen nicht entscheidend
in die eine oder die andere Richtung aus. Sie wirken elegant mitunter, durchaus
strukturiert, nicht selten scheint ein klares Narrativ im Zentrum zu stehen.
Aber letztlich verflüchtigt sich die Gewissheit, die Zeilen weisen von sich weg
und weisen auf sich zurück, mit derselben Geste.
Dementsprechend war ich sehr gespannt auf ihre Poetik-Vorlesungen – und wusste nach der Lektüre zunächst nicht, ob ich enttäuscht oder zufrieden sein sollte. Ich muss wohl irgendetwas anderes erwartet haben, denn meine ersten Reaktionen waren Missfallen, ja sogar Skizzen zu einer umfassenden Kritik; diese Kritik zerschlug sich schließlich, weil sich im Verlauf der Lektüre eine entwaffnende Erkenntnis einstellte: das ich nichts anderes hätte erwarten können. Denn die Vorlesungen haben viel gemein mit Scheuermanns Gedichten: sie bestehen wie diese aus einer Mischung von akzentuierter Banalität und einer Inbrunst, einer schnörkellosen Leidenschaft; eine Leidenschaft, die den Glauben an die Poesie, an das über den Saum des Greifbaren Hinausgehende, nicht überhöht, aber ihm einen heraus-ragenden Stellenwert im eigenen Weltbild einräumt.
„Nein, der Tod eines einzelnen Kindes aus dem 18. Jahrhundert hätte uns ohne die rückertschen Kindertodtenlieder nicht nur kaltgelassen, wir hätten nicht einmal davon gewusst. Aber so sehen wir staunend, dass der Schmerz der Eltern sich in keiner Weise von unserer heutigen Trauer unterscheidet. Und noch mehr: dass wir gar keine ähnlichen Erfahrungen haben müssen, um Mitgefühl zu empfinden, jenes Mitgefühl, das uns menschlich macht.Im Gedicht kommt der Relativität der Dinge ein besonderer Stellenwert zu, denn ein Gedicht schafft es nicht nur, in wenigen Zeilen um hundert Jahre weiter zu springen, es kann ebenso das Bild einer ganzen Welt zeichnen.“
Obgleich mich diese Erkenntnis mit den Texten versöhnt hat,
will ich alle anderen potentiellen Leser*innen vorwarnen: Scheuermanns
Darlegungen sind keine umfassende, ambitionierte Poetik. Sie haben eher die
Züge einer freundlichen Offenlegung, einer Bekenntnisstafette, einer kleinen
Entblößung mitunter. Schon gleich zu Anfang lädt die Autorin die Zuhörer*innen
und Leser*innen in ihre Räumlichkeiten ein, stöbert in aller Ruhe in der
eigenen Bibliothek, erzählt Anekdoten, schildert ihre Routinen; daneben zitiert
sie viel, aus eigenen und fremden Werken.
Auf Umwegen entsteht so eine Poetik, die Scheuermann
teilweise mit den konkreten Arbeitsweisen verknüpft, teilweise unternimmt sie
aber auch kurze Höhenflüge, belebt die Magie in den Produkten des Geistes, des
Formwillens, des Bleistifts/der Laptoptastatur. Es gelingt ihr gut, eine
Balance zwischen Persönlichem und Poetologischem zu finden, wobei sich manche
Leser*in (sicher nicht ganz zu Unrecht) fragen wird, was das Persönliche hier
bewirken soll, denn es wirkt wie Füllmaterial, das mit seiner Weichheit
allenfalls Dinge abfedert (und wer will schon Poesie in Watte verpackt).
Meine Theorie ist, dass Scheuermann diese Umwege,
Ruhepunkte, Flauten braucht, um sich mit der richtigen Geschwindigkeit, ohne
Überdrehung und zu weites aus dem Fenster-Lehnen, ihren Epiphanien und Ideen
nähern und sie besser konzentrieren zu können. Ein paar bedenkenswerte Zeilen
gelingen ihr zum lyrischen Ich, das sie ein wenig in Opposition zum Ich einer
Romanfigur stellt.
„Man kann sich als Leser leicht identifizieren mit dem [lyrischen] »Ich«. Es ist und bleibt bis zuletzt eine Leerstelle im Text. […] Wie ist es beschaffen? Wir wissen es nicht, erhalten keine grundlegenden Informationen, wie wir es bei Romanfiguren gewohnt sind. Das Wer, Wann, Wo und Wieso bleibt ungeklärt. Das lyrische Ich […] stolpert gleichsam nackt in die erste Zeile. […] Es ist ein Experiment extremen Ausgestelltseins – ohne den Schutz von Psychologie oder Geschichte. […] Das eigene Ich ermöglicht Erfahrungen, das lyrische Ich noch mehr.“
Es gibt einige Sachen, die mich konstant gestört haben (so
finde ich die Idee, dass Gedichte eher Nacht sind, Prosa eher Tag, zwar
reizvoll, aber irgendwie nicht schlüssig, etwas zu schematisch) und auch wenn
die Texte ihre Momente haben, wirken sie mitunter dilettantisch. Für mich
persönlich wird dieser Dilettantismus aber oft genug zu einer Öffnung, durch
den man unverstellt auf die simplen Anregungen, Fakten und Überlegungen eines
Schriftsteller*innen- und Dichter*innen-Daseins blicken kann. Scheuermann baut
um ihr Werk, auf das sie dann letztlich doch immer zu sprechen kommt, eine
Kulisse aus Alltag und Faszination auf, die bei aller Schlichtheit auch
Zugänglichkeit und manch ungekünstelten Eindruck gewährt.
„Ein Schriftsteller ist einer, der keine Anwesenheitspflicht im eigenen Leben hat.“
Ist es nicht vielmehr so, dass Schriftsteller*innen sogar
ein höheres Maß an Anwesenheitspflicht in ihrem eigenen Leben, ihrer eigenen
Wahrnehmung haben? Bei allen Punkten werde ich mit Frau Scheuermann wohl nicht
zusammenkommen. Aber mir gefällt, dass sie sich nicht eine Theorie zur Burg
ausbaut, hinter deren Mauern sie ungehindert in eben dieser Theorie schwelgen
kann, geschützt durch diese Zinnen und einen Burggraben, durch den ein
Wortstrom an komplexen poetologischen Schwüngen und Spitzen rauscht. Sie stellt
ihre Ansichten als Haus mitten in die Nachbarschaft, in eine Nähe zum
Gewöhnlichen, die man von Dichter*innen heute gar nicht mehr erwartet – und
versieht dies Gewöhnliche mit ihrem ganz eigenen Funken Schönheit, schließt es
an geistige Energien an, knüpft in dieses glatte Muster ein paar Stränge von
ansprechender Variation, Phantasie, Anziehung. Eine Lektüre, so finde ich,
lohnt sich.
Silke Scheuermann: Gerade noch dunkel genug. Frankfurter
Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. (Schöffling & Co.) 2018. 136 Seiten.
18,00 Euro.