Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger)
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Andreas
Hutt
Senthuran
Varatharajah: Rot (Hunger). Roman. Frankfurt a.M. (S. Fischer Verlag) 2022. 120
Seiten. 23,00 Euro.
Man
muss die Sprache brechen, um zur Sprache vordringen zu können
Senthuran Varatharajahs Text Rot (Hunger)
Das
ist eine Liebesgeschichte, übertitelt Senthuran Varatharajah
sein Buch Rot (Hunger), genauer gesagt erzählt er zwei. Zum einen thematisiert
der Autor schlaglichtartig das Beziehungsleben eines Protagonisten namens
Senthuran, was durch die Wahl des Namens bewusst in die Nähe des
Autobiographischen gerückt wird. Zum anderen beschreibt er die finale Begegnung
zwischen dem „Kannibalen von Rotenburg“ und seinem Opfer, die am Bahnhof
Wilhelmshöhe in Kassel ihren Anfang nahm.
Dabei
unterwirft der Autor sein Material einer rigiden formalen Strenge. Sein Text
besteht aus zwei Teilen, nämlich A, was zum einen auf den Vornamen des
„Kannibalen von Rotenburg“ Armin verweist und zum anderen auf den Namen der
Geliebten des Protagonisten Senthuran, der aus dem ersten Buchstaben des arabischen
Alphabets besteht. Der zweite Teil heißt B, eine Anspielung auf den Namen des Kannibalen-Opfers
Bernd Brandes. Beide Teile bestehen aus zwölf Kapiteln, die jeweils vier Seiten
umfassen. Jedes der Kapitel enthält eine Rückblende, die als Vers bezeichnet
und durchnummeriert ist. Dabei wird abwechselnd die Geschichte Senthurans und die
Begegnung des Kannibalen von Rotenburg mit seinem Opfer beleuchtet, zwei
Handlungsstränge, die sich gegenseitig inhaltlich ergänzen und aufeinander
verweisen.
So
besteht der Kern der Geschichte von Senthuran darin, deutlich zu machen, in
welchen Formen der Wunsch nach Verschmelzung mit einem geliebten Menschen angestrebt
wird, aber zumeist scheitert, was mit Hilfe von kulturellen Versatz-stücken, wie
z.B. dem Vers aus einem Song von Radiohead, gespiegelt wird. There’s a gap in between/ there’s a gap where we
meet./ Where I end and you begin. (S.
31) Eine besondere Rolle kommt dabei Redewendungen zu, in denen ein Part sich
den anderen einverleiben will, wie Ich habe dich zum fressen gern oder I
will eat you alive (S. 31 bzw. 33). Im zweiten Teil des Buches findet diese
Thematik eine Steigerung, indem auf Verletzungen eingegangen wird, die man sich
im Eifer des Gefechtes beim Liebesspiel zuziehen kann, Bissen als Vorstufe von
Verinnerlichung des Körpers eines Anderen.
Vor
diesem Hintergrund liest sich die Tötung und Einverleibung von B, dem Opfer des
Kannibalen, wie er im Buch genannt wird, als logische Fortsetzung der im
Senthuran-Handlungsstrang geäußerten Sehnsüchte. Hier verschmilzt ein Mensch im
wahrsten Sinne des Wortes mit einem anderen, indem er von ihm gegessen wird, ein
Gedanke, der ebenfalls durch Zitate vertieft wird: Liebe strebt diese
Unterscheidung aufzuheben; zwischen der völligen Hingebung, der einzig
möglichen Vernichtung, der Vernichtung des Entgegengesetzten in der
Vereinigung. (S. 48)
Zusammengehalten
werden die beiden Erzählungen durch eine gleiche sprachliche Rhythmisierung,
Leitmotive, wie Wir werden den Kiefer zerstören, um den Kiefer zu erreichen
(S. 18), und eine Mischung aus dokumentarischen Elementen der Darstellung und
hermetischen. So entspricht die im Buch dargelegte Geschichte des Kannibalen
von Rotenburg weitgehend den Tatsachen. Zitate aus dem Chatverlauf zwischen
Bernd Brandes und Armin Meiwes wurden nahezu wortwörtlich übernommen, aber
arrangiert und gekürzt. Der Erzähler übt sich in Zahlenfetischismus, führt z.B.
minutengenau Uhrzeiten an, fokussiert sich auf den Inhalt seiner Hosentasche
oder den von Papierkörben. Daneben finden sich Formulierungen, die offen und
poetisch sind:
ein Mundist stumpferals ein Messerdamit wir sanftertrauern können. (S. 16)
Der
Autor reflektiert, dass Sprache nicht nur einen dokumentarischen, darstellenden
Charakter hat. Über die beiden Handlungsstränge hinausgehend spielt er geschickt
mit kulturanthro-pologischen Zitaten, die Zusammenhänge zwischen Sprache und Körpern
thematisieren: Der Fleischwerdung des Wortes (S. 38) oder Man muss
einen Körper öffnen wie ein Buch (S. 31). So gesehen werden die Körper des
Protagonisten sowie seiner Geliebten, von Armin Meiwes sowie von Bernd Brandes
bzw. ihre Handlungen Sprache und damit Dichtung. Am Ende der Sprache gibt es
keinen Unterschied zwischen einem Körper und einem Vers. (S. 34) Ein sehr
dichtes, ein rätselhaftes Buch.