Semre Ertan: Mein Name ist Ausländer - Benim Adım Yabancı
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Stefan Hölscher
Semra Ertan:
Mein Name ist Ausländer - Benim Adım Yabancı.
Gedichte. Deutsch / türkisch. Münster (edition assemblage) 2020. 240 Seiten. 18,00 Euro.
Der Glaube an das Gute
Semra Ertan wäre 2021 64 Jahre alt geworden.
Kein Alter in Zeiten, in denen, wenn nicht gerade pandemische Beschränkungen
herrschen, auch 85jähige noch auf Weltreisen gehen. Semra Ertan reiste 1971 aus
der Türkei nach Deutschland, um fortan in Kiel bei ihren Eltern, die als „Gastarbeiter“
dorthin gekommen waren, zu leben. Sie arbeitete, nachdem ihr der Zugang zu
einem Gymnasium nicht möglich war, als Bauzeichnerin, begann aber auch schon
mit 15 Jahren, Gedichte zu schreiben, also ein Jahr nach ihrer Ankunft in
Deutschland. Insgesamt schrieb sie, wie wir im Anschluss an das Vorwort des im
Herbst 2020 von ihrer Schwester Zühal Bilir-Meier und ihrer Nichte Cana
Bilir-Meier herausgegebenen Bandes „Mein Name ist Ausländer“ erfahren, 350
Gedichte und einige Satiren. Die Gedichte, von denen nur ganz wenige zu Semra
Ertans Lebzeiten in Anthologien veröffentlicht wurden, sind damit nun erstmals
in einem Sammelband zusammen mit ein paar Briefen, Portraitfotos und
Abbildungen aus Originalmanuskripten erschienen.
Ertan kam zu einer Zeit nach Deutschland, in
der die Ablehnung von „Ausländern“ ein immer weiter verbreitetes und laut in
die Welt geschrienes Phänomen wurde. Wie der Wikipedia-Artikel über Ertan
berichtet, „so waren es im November 1978 noch 39 % der Deutschen, die die
Forderung, die Ausländer sollten in ihre Heimatländer zurückkehren,
unterstützten, während zwei Monate vor Ertans Tod bereits 68 % der
Bundesdeutschen dieser Meinung waren.“
Bürgerinitiativen wie „Ausländerstopp“ begannen sich ebenso wie rechtsgerichtete
Gewalttaten gegenüber Ausländern deutlich zu mehren.
Semra Ertan starb am 26. Mai 1982, zwei Tage
nachdem sie sich aus Protest gegen den zunehmenden Rassismus in Hamburg
öffentlich verbrannt hatte. Der fast vier Jahrzehnte nach ihrem Tod
herausgegebene Sammelband erscheint in einer Zeit, in der verbale und körperliche
Gewalt gegenüber „Ausländern“, Geflüchteten, aber auch gegenüber Juden und
Homo-, Bi- und Transsexuellen wieder zu
einem erschreckend häufigen Phänomen im deutschen Alltag geworden ist. Schon
allein dadurch kommt dem Buch eine traurige Aktualität zu, auch wenn sich die Angriffspunkte
der Attacken leicht verschoben haben.
Das letzte in dem Sammelband wiedergegebene
Gedicht von Ertan schließt mit den Zeilen:
Ich will leben,Wie es sich mein Herz erträumt. ...
Die Texte zuvor zeigen, dass Semra Ertan so, wie
von ihrem „Herz erträumt“, nicht leben konnte. Es sind Texte, die durchgängig
Nicht-Zugehörigkeit und Einsamkeit thematisieren:
Mein Name ist Ausländer,Ich arbeite hier,Ich weiß, wie ich arbeite,Ob die Deutschen es auch wissen?Meine Arbeit ist schwer,Meine Arbeit ist schmutzig.Das gefällt mir nicht, sage ich.„Wenn dir die Arbeit nicht gefällt,Geh in deine Heimat“, sagen sie.
Es geht allerdings nicht nur um die Einsamkeit,
die dadurch entsteht, sich weder im jetzigen noch im ursprünglichen (vermeintlichen)
Heimatland als dazugehörig zu fühlen. Die Einsamkeit wurzelt tiefer. Sie
betrifft ganz existenziell und ganz generell das Sein unter den Menschen, so
wie sie sind:
Was ist dabei? Wenn wir noch einmalUmder Heimatwillen sterben...Der Menschen.Allein bin ich...Das ist eine besondere Einsamkeit...Andere behaupten, ich sei eine Egoistin,Dass ich mich allein gefühlt habe.Sie hätten sich doch beteiligen können an meiner Einsamkeit...Ich pfeife auf solche Einsamkeit.Ich drehte eine Zigarette, hat nicht geholfen.Ich trank einen Wein, hat mich auch nicht gerettetUnd...Mich hat niemand gerettet von meiner Einsamkeit.
Die immer wieder verhandelte Einsamkeit wird in
den späten Texten das dominante Thema schlechthin: das Gefühl eines unrettbaren
Verlorenseins unter den Menschen und in der Gesellschaft. Gleichzeitig befindet
sich das Einsamkeitserleben aber im Kampf, in einem das ganze Werk
durchziehenden Kampf mit Impulsen wie Wut, Rebellion, Liebessehnsucht und Selbstvergewisserungsstreben.
Die Texte von Semra Ertan sind allesamt auch Versuche, die innere und äußere
Zerrissenheit und Nicht-Zugehörigkeit sprachlich zu fassen, sich ihrer bewusst
zu werden, sie (mit-)zu teilen und sie dadurch auch ein Stück zu überwinden.
Es dürfte lyrikerprobte kritische Leser*innen
geben, die die Frage aufwerfen ob die sprachlich sehr schlichten, in eigentlich
jeder Hinsicht raffinementarmen und auch noch nicht einmal bildstarken Texte
wirklich Gedichte seien. Eine dieser ewig unnützen Diskussionen. Natürlich sind
diese Texte Gedichte – egal, wie man sie in Bezug auf ihre literarische Qualität
näher beurteilen mag. Sie sind ein intensiver und existenziell absolut ernstzunehmender
Versuch eines Welt- und Selbstverstehens mit Mitteln kreativen, und das heißt
hier lyrischen Schreibens. Und sie sind ein, wenn auch zuletzt tragisch endender
Versuch, Denken, Schreiben und Handeln wieder miteinander zu verbinden:
Es geht nicht nur um das Träumen und Schreiben.Es geht darum, an das Gute zu glauben,Die Hauptsache ist, es zu tun...
„Es zu tun“, solange der Glaube an das Gute
noch irgendwie besteht, könnte man ergänzen. Diesen Glauben scheint Semra Ertan
am Ende ihres kurzen Lebens vollständig verloren zu haben. Die Frage, die die
in dem Band versammelten Texte damit auch aufwerfen könnten, nämlich wie wohl
nicht nur das Leben, sondern auch das Schreiben dieser Autorin sich entwickelt
hätte, wenn sie etwa ein Gymnasium hätte besuchen, mehr Ausbildung im Umgang
mit Literatur erwerben und sich in einem sie menschlich und künstlerisch
integrierenden Umfeld hätte weiter ausprobieren können – diese Frage wird für
immer unbeantwortet bleiben.