Schreibheft #103 - Ort ist Dichtung. Wanderungen mit Iain Sinclair
Verlage, Zeitschriften
0
Kristian Kühn
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 103. Hg.
von Norbert Wehr. Darin ein Traktat über Sterne. Das Konvolut „Ort ist Dichtung“.
Und: „Das Gedicht in Bewegung“. Essen (Rigodon Verlag) 2024. 144 Seiten. 16,50
Euro.
Sichtschneisen
Ein paar Jahre lang (von März 2019 bis
Dezember 2022) schrieb Michael Braun für die Signaturen monatlich über eine
jeweils aktuelle Ausgabe einer Literaturzeitschrift, bis er noch vor
Weihnachten 2022 überraschend starb. Sein Wissen, sein Einsatz und seine Vorstellungs-kraft
sind seitdem kaum kompensierbar. Dennoch soll hierwieder in unregelmäßigen
Abstän-den Besonderes aus literarischen Zeitschriften hervorgehoben werden,
allerdings eher punk-tuell, mit Blick auf einzelne Aufsätze oder themenbezogene
Konvolute.
Michael Braun hatte damals mit einem Schreibheft, der Ausgabe Nr. 92, begonnen, das will ich nachtun, jetzt mit der Nr. 103, darin drei Schwerpunkte, die insgesamt den Eindruck auf mich erwecken, als sei diesmal beabsichtigt gewesen, den Kosmos in seiner ganzen Weite aufzuspannen, erst Wanderungen, sprich Umrundungen, von magisch aufgeladenen Gebieten in England, mit dem Titel „Ort ist Dichtung“, dann unter dem Titel „Das Gedicht in Bewegung“ etwas über den amerikanischen Lyriker und Erzähler Gustaf Sobin, zusammen-gestellt von Jürgen Brôcan, und schließlich Traktate über das Himmelszelt, über Sterne von Mei-mri Berssenbrugge, Claude Favre und Diane Seuss, aus dem Französischen von Stefan Ripplinger und dem Amerikanischen von Franz Hofner und Sonja vom Brocke. Jedes dieser drei Kapitel wäre einer besonderen Betrachtung durchaus wert. Doch wollen wir uns hier dem Konvolut „Ort ist Dichtung“ widmen, das Wanderungen des Londoners Iain Sinclair nach-vollzieht, der als langlebiger Dichter manche Höhen und Tiefen durchgemacht hat und der uns bei den Signaturen als Blake-Kenner bekannt ist, weil wir seine als Buch erschienene Rede über „Blakes London“¹ besprochen haben und er auch mit einem Ausschnitt eines Lang-gedichts im Sammelband „William Blake & das lyrische Konto“, namens „Kotope“², enthalten ist, alle drei Artikel, die Rede, der Gedichtauszug und das Konvolut im Schreibheft, übersetzt und zusammengestellt von Jürgen Ghebrezgiabiher und Sven Koch.
Koch sagt in seinem Nachwort zum Konvolut, „Weiterschreiben, weiter gehen“, sei für ein Lesen und Bekanntmachen Iain Sinclairs der Plan gewesen, Zugänge zu finden, „Sicht-schneisen“ zu öffnen für ein Gesamtwerk, das sehr umfangreich geworden ist nach über 50-jähriger Publikationstätigkeit und das für den derzeit 81-Jährigen ja nicht abgeschlossen ist.
Zu Beginn als erfolgloser Autor, mit Antiquariatsbuchhandlung und angeschlossenem Kleinstverlag, zelebrierte er – eigenen Aussagen zufolge – so eine Art „Kult des Unlesbaren“. Er und Dichterfreunde wie Brian Catling trafen sich in Buchläden – wie einst William Blake im Laden des Verlegers Joseph Johnson, wo die Freunde der französischen Revolution und der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft tagten, der Mutter der späteren Frankenstein-Autorin und Ehefrau von Percy Pysshe Shelley gleichen Namens. Sinclair zieht hierzu auch Vergleiche in seinem Langgedicht „Kotope“ – und er spricht, was ihn betrifft, mit Humor von Veröffentlichungen, die kaum über ein Exemplar hinausgingen – England war und ist, was Förderungen betrifft, noch härter als hier bei uns. Dennoch waren alle Jungen damals in London wie in einem Rausch, beim Schreiben und Überfliegen von Texten:
„Zu meiner Schande habe ich sie nicht immer gelesen. Mir genügte es, in ihnen zu blättern, während sich die tintenschwarzen Ergüsse durch meine Haut brannten. Raserei auf Papier: Man bräuchte schon eine Krankenhausstation voll wahnsinniger Autodidakten, um mit der Intensität und dem Tempo dieses Outputs Schritt zu halten – Kleinschreibung, kurze Satzzeichen, Langzeiler, Adorno- und Benjaminzitate, auf dialektische Weise lyrisch, Rachelieder.“(Dirigent des Chaos, S. 22)
Iain Sinclair erwähnt verschiedene eigene London-Projekte, dabei immer wieder in die Fußstapfen William Blakes gelangend, der den Umkreis Londons zeitlebens ja nicht verlassen hatte, und diese auch suchend. Derweil der erste Teil des Konvoluts sich mit den Sorgen eines jungen Schriftstellers beschäftigt, vom Untergrund zum Mainstream und zurück, dem Hektografieren (damals), dem kleinsten Eigenverlag, dem Handel mit gebrauchten Büchern (Zweiter Bildungsweg Buchhandel, S. 28), haben die beiden Übersetzer in ihrem anderen Teil die Gedankenreisen und das „psychografische Schreiben“ Sinclairs in England vorgestellt, für das er als Mitbegründer gilt.
„Dabei wird Ort als Phänomen mit einer kulturellen Tiefenschicht aufgefasst, dessen unter dem Offensichtlichen verborgenes Substrat an Mythen, Geschichten und Kunstwerken [….] sich immer wieder neu entdecken und erzählen lässt.“(Koch: Weiterschreiben, weiter gehen, S. 67)
In Sinclairs Hauptartikel, „Ort ist Dichtung“, von 2015, geht dieser auf ein Diagramm ein, das sich bei Blake auf der Tafel 34 seines Milton-Epos befindet und das Welten-Ei (The Mundane Egg) darstellt. Blake zeigt darin den menschlichen Schädel als eine „mundane Muschel“, die das Gehirn dort umschließt, wo das Bewusstsein seinen Sitz hat. Hier befindet sich zugleich das Interaktionsfeld zwischen weltlichen Daten, die vom Gehirn aufgenommen werden, und dem Prozess der Datenverarbeitung. Um diese Muschel herum sieht Blake die vier Zoas, die vier Arten, die das Bewusstsein ausgebildet hat, um aufgenommene Informationen zu nutzen. Jedes Bewusstsein reagiert demnach unterschiedlich in einer der vier Weisen auf die erhaltenen Eingaben, weil diese vier Blake’schen Zoas das Abbild des Welten-Eis im Menschen solange umwinden, wie das Bewusstsein unfähig ist, die Denkwege der drei anderen Zoas aufzunehmen.
Auf Tafel 15 (17) von seinem Epos „Milton“ erklärt Blake dazu:
„Die mundane Muschel ist eine gewaltige konkave Erde: ein immenserVerhärteter Schatten aller Dinge auf unserer vegetativen ErdeVergrößert in ihrer Dimension & verformt zu einem unbestimmten Raum,In siebenundzwanzig Himmeln und all deren Höllen; mit ChaosUnd Urzeitnacht und Fegefeuer. Sie ist eine kavernöse ErdeVon labyrinthischer Komplexität, von siebenundzwanzigfacher opaker Faltung“
Dies erklärt, warum im Blake’schen Sinn für Sinclair allein der Ort bereits die Dichtung wiedergibt, auch von Menschen, die vor langer Zeit da mal waren. In seinem epischen Gedicht „Die Vier Zoas“, das in den frühen 1790ern geschrieben wurde, aber bis in das 20. Jahrhundert unpubliziert blieb, werden die vier Zoas Aspekten der menschlichen Seele zugeordnet, Urizen dem Verstand und Gesetz, Tharmas der Leidenschaft und dem Verlangen, Luvah den Gefühlen und der Imagination und Urthona der Kreativität, die wie ein göttlicher Funke im Menschen agieren kann. Auch in diesem Gedicht sind die Zoas in Konflikt zueinander geraten und müssen deshalb in sich mit den Kräften den Bösen streiten, solange die Welt im Chaos und nicht ausgeglichen und versöhnt ist.³
Sinclair gelangt in seinen assoziativen Überlegungen von Gedanken über William Butler Yeats zu Vorlesungen Anfang der 70er Jahre von J.H. Prynne, die dieser zu Miltons „Paradise Lost“ gehalten hat, den ganzen Raum-Zeit-Bogen des Welteneis ausspannend, wo Prynne von der Möglichkeit einer „Kenntnis des Universums als Ganzes“ spricht, also alles in einem, weil die Matrize vom Kosmos als mundane Muschel sich ja auch im Kopf der Menschen befindet und ihr Bewusstsein umfaltet, allein schon, wenn das Auge zum Nachthimmel blickt, „in dessen Innerem der Mensch die Ewigkeit ausbrüten und wiedererlangen kann.“ (Prynne, Ort ist Dichtung, S. 55.)
Dies alles enthält von der menschlichen Anlage her die Möglichkeit eines Revisionierens: Man erkennt sich selbst und das Ganze, wenn man im Kleinen wie im Großen davon weiß, dass das Universum nicht nur außen, sondern auch im Bewusstsein unter der Schädeldecke sich befindet, ob man nun Sand betrachtet oder den nächtlichen Sternenhimmel – Sinclair sagt, er sei nur schleppend, so sei es gewesen, zu der Erkenntnis gelangt: „Ort ist Dichtung.“
„Die Wanderung braucht keinen Wanderer. “ (S. 55)⁴
Denn es gäbe eine große Logik dieser Energieteppiche, man müsse nicht einmal mit dem Fuß die Durchquerung der Erde vornehmen:
„In diesem Boden ist eine versteckte Grammatik angelegt: Pilzwuchs. Hügel, Klippenprofile, miteinander verbundene Grabhöhlen. An diesem Punkt beginnt die eigentliche Wanderung: steinernes Gleißen brennt die Emulsion von unseren Nervenendplatten. Die Felsen träumen uns, übersetzen Impulse in Bilder, sprechen in Zungen.“ (Ort ist Dichtung, 62)
Und doch lassen diese Kraftlinien die Dichterfreunde Brian Catling und Iain Sinclair sowie andere nicht mehr los, sie ziehen „auf mehreren Wanderungen in England und Wales“ ihre Umkreisungen. Ein paar dieser Reisen gehen auf William Blakes Illustrationen zu John Bunyans „The Pilgrim’s Progress“ zurück, der Fortschritt der Pilger, ihrem Ziel entgegen, wird umso forcierter gesucht, als einer der Freunde dafür, um diese Reisen entsprechend Blake zu würdigen, extra noch die Kunst des Kupferstechens erlernt. In Zusammenhang mit dem „Revisionieren“ von Bunyans „The Pilgrim’s Progress“ schuf Blake nämlich am Ende seines Lebens 28 (unfertige) Wasserfarb-Illustrationen zu Bunyans Text. Und so wird ein bewusst archetypisches Schreiben oder auch archetypisches Lesen zu einer Wanderung durch imaginierte Ebenen und Wege.
¹ Iain Sinclair: Blakes London. Rede. Aus dem Englischen von Jürgen Ghebrezgiabiher und Sven Koch. Berlin (Friedenauer Presse bei Matthes & Seitz) 2020. 46 Seiten. 14,00 Euro.
² Suicide Bridge, daraus das Kapitel „Kotope“ in (Kristian Kühn, Norbert Lange:) William Blake & das lyrische Konto. München (Aphaia Verlag) 2024. 281 Seiten. 24,00 Euro.
³ Das Weltenei oder kosmische Ei als Bewusstsein inmitten des Gehirns ist Teil vieler Religionen und Schöpfungsmythen, vor allem in Europa im alten orphischen Dionysoskult, mit der Anspielung darauf, dass der Mensch den niedrigen Aspekt der weltlichen Muschel zu verlassen in der Lage ist und aus dem Ei ausschlüpfen kann. Auch moderne kosmologische Modelle spielen mit dieser Idee, dass die gesamte Masse des Universums vor Jahrmilliarden in gravitativer Singularität komprimiert gewesen war und durch den sog. Urknall daraus hervorgegangen ist.
⁴ Vgl. William Blake: The Mental Traveller.