Sandra Gugić: protokolle der gegenwart
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Jan Kuhlbrodt
Zu Sandra Gugić
Protokolle der Gegenwart
Gugić
reformuliert das politische Gedicht.
Die Gegenwart rauscht, und da
braucht sie noch nicht mal ein Meer. Sie bedient uns mit Worten. Überall
Sprache. An Wänden, auf Straßen, bis in den letzten Winkel hinein. Sie zu
protokollieren, heißt, sie abzuschreiben, denn die Worte, die auf uns
einprasseln, bilden nur selten Sätze, haben gewissermaßen schon
Protokollcharakter.
In drei Kapiteln protokolliert
Sandra Gugić also die Protokolle, das Stakkatohafte.
Zerlegt dabei kräftig Zusammenhänge. Angekündigt jeweils in kongenialer
Gestaltung durch Schrifttafeln von Oliver Hummel, auf denen die Lettern zu
flirren beginnen, als stünde deren Zerfall kurz bevor. Sprache gespannt, im Begriff
zu implodieren.
logbuch input konfliktbereitschaft gewalt undblinde flecken repressionen gegen die zivilgesellschaft wir habendiese politische formatierung in allen farben und formen im angebot
So lautet es im Gedicht Wie hältst du es mit dem Staat. Der Titel fett geduckt in der Mitte des Textes, auf eine gesonderte Überschrift verzichtend. Und gleich darauf folgt der Text, der dem Band seinen Titel gab. Und der beginnt mit diesen Versen:
vom weggehen und bleiben unter menschenschauplatz eines der aufsehenerregendsten arbeitskämpfe
Als Kind drehte ich manchmal zum Spaß am Sendersuchlauf des Radios. Der Rundfunkempfänger, ein großer Kasten, der unter dem Fernseher stand. Mit einem magischen Auge, das langsam zu leuchten begann, wenn man das Gerät einschaltete. Irgendwann lösten sich Worte und Zahlen, lösten sich ab, weil ich immer noch drehte, bis mir irgendein Erwachsener diese Tätigkeit untersagte, weil er sich durch die Wortfetzen, die durch den Raum schossen, gestört fühlte.
Ein Sender also wurde darauf korrekt eingestellt, meist ein Nachrichtensender, denn im Haushalt hielt man sich für aufgeklärt und politisch. Das Rauschen wurde durch Wortkaskaden ersetzt, denen ich nicht, die anderen aber einen Sinn abgewinnen konnten. Zwar war die Gegenwart damals auch schon Geräusch, aber in einem Dualismus gefangen, der die Zuordnung vereinfachte. Es ist wohl eine duale Gegenwart gewesen, und man wusste genau, wo der Feind stand, er trug seine sprachlichen Insignien.
ursprünglich der wunsch etwas über hoffnung illusionen erzählendass jemand von außen kommt dich rettet erwartungshaltung:
Die Gegenwart, die Gugić protokolliert, hat ihren dualen
Sinnzusammenhang verloren, hat sich aus eben jenem herausgeschält, ohne aber neue
Festigkeit zu gewinnen. Beziehungsweise, um den Gedanken seine Melancholie zu
nehmen, die Dualität, an die man früher gewohnt war, hat sich als Illusion
erwiesen, schlimmer noch: als ideologische Konstruktion.
Solche Auflösung verlangt dem
Subjekt einiges ab, es muss klar kommen mit vielfältigen Identitäten, mit der
Uneindeutigkeit zum Beispiel seines Geschlechts, und es muss sich durch den
Wald schlagen und Bäume von Scheinbäumen unterscheiden lernen. Ein Schritt, der
der Orientierung voraus geht, ist die Dekonstruktion von Gewissheiten, und das -
unter anderem - leistet dieser Band.
Sandra Gugić: protokolle der
gegenwart. Gedichte. Berlin (Verlagshaus Berlin) 2019. 120 Seiten. 17,90 Euro.