Rolf Schönlau: Geologische Lektürezeiträume
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Rolf Schönlau
Geologische
Lektürezeiträume
In Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon heißt es über den religiösen
Schwärmer Quirinus Kuhlmann (1651–1689), er habe seine nach Süden ausgerichtete
Studierstube mit marmoriertem Papier ausgekleidet, um von den sich daran
brechenden Sonnenstrahlen erleuchtet zu werden.
Der Beatnik Brian Gysin
(1916–1986) hatte eine Vision, als er bei Sonnenuntergang mit geschlossenen
Augen im Bus nach Marseille eine Allee entlangfuhr, woraufhin er 1961 die Dreamachine patentieren ließ, die
mittels Stroboskopeffekt eine optische Stimulierung des Gehirns bewirken soll.
Einen Bogen über drei
Jahrhunderte schlägt auch die Rezeption des Lyrikers Quirinus Kuhlmann, die
erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Protagonisten von
konkreter Poesie und Oulipo einsetzte. Kuhlmanns heute bekanntestes Gedicht ist
die Nummer XLI der Himmlischen Libes-Küsse
von 1671. Kuss-Dichtungen waren zur Entstehungszeit im Schwange. Das Genre
bezog seinen Namen aus dem Anfangsvers des Hohelied
Salomos: »Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes.«
Von den insgesamt 50 Libes-Küssen in Kuhlmanns
Gedichtsammlung ist allein der XLI. mit Widmung, Vorrede und ausführlicher Nachrede
versehen. Der Widmungsträger Georg von Schöbel und Rosenfeld war Kuhlmanns
Mäzen und Mitglied der größten deutschen Sprach-akademie der Zeit, der Fruchtbringenden
Gesellschaft. In der Vorrede geht es um das barocke Hauptthema der Wechselhaftigkeit
des menschlichen Daseins, belegt mit einem lateinischen Zitat des spätantiken
Kirchenvaters Gregor von Nazianz, der auch als Dichter reüssierte.
Himmlischer Libes-Kuss,
Nummer XLI
Auf Nacht / Dunst / Schlacht / Frost /
Wind / See / Hitz / Süd / Ost / West / Nord /
Sonn
/ Feur und Plagen /
Folgt Tag / Glantz / Blutt / Schnee /
Still / Land / Blitz / Wärmd / Hitz / Lust / Kält /
Licht
/ Brand und Noth:
Auf Leid / Pein / Schmach / Angst /
Krig / Ach / Kreutz / Streit / Hohn / Schmertz /
Qual
/ Tükk / Schimpf / als Spott /
Wil Freud / Zir / Ehr / Trost / Sig /
Rath / Nutz / Frid / Lohn / Schertz / Ruh / Glükk /
Glimpf
/ stets tagen.
Der Mond / Glunst / Rauch / Gems /
Fisch / Gold / Perl / Baum / Flamm / Storch /
Frosch
/ Lamm / Ochs /und Magen
Libt Schein / Stroh / Dampf / Berg /
Flutt / Glutt / Schaum / Frucht / Asch / Dach /
Teich / Feld / Wiß / und Brod:
Der Schütz / Mensch / Fleiß / Müh /
Kunst / Spil / Schiff / Mund / Printz / Rach / Sorg
/ Geitz / Treu / und Gott /
Suchts Zil / Schlaff / Preiß / Lob / Gunst
/ Zank / Port / Kuß / Thron / Mord / Sarg /
Geld
/ Hold / Danksagen
Was Gutt / stark / schwer / recht /
lang / groß / Weiß / eins / ja / Lufft / Feur / hoch /
weit
genennt /
Pflegt Böß / schwach / leicht / krum /
breit / klein / schwarz / drei / Nein / Erd / Flutt /
tiff
/ nah / zumeiden /
Auch Mutt / lib / klug / Witz / Geist /
Seel / Freund / Lust / Zir / Ruhm / Frid / Schertz /
Lob
muß scheiden /
Wo Furcht / Haß / Trug / Wein /
Fleisch / Leib / Feind / Weh / Schmach / Angst / Streit
/
Schmertz / Hohn schon rennt
Alles
wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen:
Wer nur disem nach wird=denken / muß di Menschen Weißheit fassen.
Was auf den ersten Blick wie
eine reine Wortsammlung aussieht, ist eine Mischform aus Petrarca- und
Shakespeare-Sonett, bestehend aus drei Quartetten und abschließendem Couplet,
mit dem Reimschema abba abba cddc ee. Im ersten und zweiten Quartett umschließt
ein zweisilbiger (weiblicher) einen einsilbigen (männlichen) Reim, im dritten
ein einsilbiger einen zweisilbigen. Das Couplet weist einen zweisilbigen Reim
auf, so dass weibliche und männliche Versschlüsse gleich verteilt sind.
Das Versmaß in den
Quartetten bricht mit allen Vorbildern und entspricht weder dem italienischen
Elfsilber, noch dem zwölf- oder dreizehnsilbigen französischen Alexandriner und
auch nicht dem englischen und deutschen jambischen Fünfheber. Die Verszeile
besteht bei männlichem Schluss aus 16, bei weiblichem aus 17 Silben, von denen 14
bzw. 15 eine Betonung tragen. Das Schlusscouplet bedient sich des
traditionellen Versmaßes jambischer Achtheber mit einer Zäsur nach der achten
Silbe.
In den Quartetten sind
jeweils zwei Verszeilen durch die Auftaktwörter syntaktisch miteinander
verknüpft (»Auf … folgt«), was zusammen
mit den durch Endreime gestifteten Verbindungen zu multiplen Verschränkungen der
Verszeilen führt: a1–a2, b1–b2, a1–b1,
a2–b2 usw.
Die Wörter in den verknüpften Verszeilen weisen der Reihenfolge
nach semantische Korrespon-denzen auf, sei es als Oppositionspaar (»Nacht …Tag«),
Kausalitätsbeziehung (»Sonn … Licht«) oder Finalbeziehung (»Schütz…Zil«). Während
die Wortpaare im ersten und dritten Quartett aus unvereinbaren Gegensätzen
bestehen (»Leid …Freud« bzw. »Gutt… Bös«), bilden sie im zweiten Quartett eine
Vereinigung ab (»Mund …Kuß«). Das Sonett stellt auch in seiner Struktur einen Kuss
dar.
Im
Schlusscouplet kommt es zur Synthese: Wer das Gedicht, das mit seinem vielfach
aufeinander bezogenen Wortarsenal die Wechselfälle des Lebens abbildet, »nach
wird=denken«, gelangt zu allumfassendem Verständnis in Logik, Rhetorik,
Mathematik, Geometrie, Astrologie, Medizin, Naturgeschichte und Recht, wie es unter
Berufung auf Platon in der Nachrede heißt. Kurz, »alles was di Welt mit Müh
suchet« erreicht man »scherzend«, wie es ausdrücklich heißt, im Nachvollzug des
Gedichtes, und zwar durch die »Wunderversätzung«. Als methodische Quelle wird
neben Kuhlmanns Zeitgenossen und Universalgelehrten Athanasius Kircher vor
allem Ramón Llull genannt, der 1308 eine kombinatorische Erfindungskunst
mittels Drehscheiben veröffentlichte.
In
den Quartetten vom XLI. Libes-Kuß
können mit Ausnahme der ersten und beiden letzten Wörter einer Verszeile alle anderen
Wörter vertauscht werden, ohne dass die Sonettform Schaden nähme. Bei Ausschöpfung
aller kombinatorischen Möglichkeiten von 13 Wörtern ergeben sich 6 227 020 800
Variationen oder »Wechselsätze«. Bei einem Tagespensum von etwa 1000
Variationen wäre ein Schreiber damit allerdings nicht nur 100, wie Kuhlmann
kalkuliert, sondern 17 000 Jahre beschäftigt
Die
Anzahl der »Wechselsätze« für ein Quartett mit 52 vertauschbaren Wörtern nennt
Kuhlmann nicht. Als Annäherung übernimmt er die Berechnung Kirchers, der die
Summe von 50! (50x49x48…3x2x1) mit
1
273 726 838 815 420 399 851 343 083 767 005 515 293 749 454 795 473 408 000 000
000 000 angibt. Um die 67-stellige Zahl fassbar zu machen, schreibt Kuhlmann
sie aus – die Million als »tausend mahl tausend«, die Milliarde als »tausend
tausend mahl tausend« usw. – und benötigt dafür die imposante Textstrecke von nahezu
2 ½ Druckseiten. Allerdings hat sich sein Gewährs-mann leicht verrechnet, denn
50! ergibt 30 414 093 201 713 378 043 612 608 166 064 768 844 377 641 568 960
512 000 000 000 000, eine 65-stellige Zahl.
Bei
den insgesamt 156 vertauschbaren Wörtern aller drei Quartette kommt man auf sage
und schreibe 117 295 687 942 641 442 819 215 807 155 131 552 511 541 831 623
044 593 627 324 799 557 544 824 622 696 635 505 477 776 012 587 322 789 677 057
983 246 655 387 237 020 188 804 608 945 581 290 772 992 175 589 402 436 306 154
362 961 985 393 763 847 475 223 716 979 100 487 761 173 428 095 446 685 622 490
578 985 733 324 800 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 Variationen.
Dagegen
nehmen sich die Cent mille milliards de
poèmes von Raymond Queneau (1903–1976) aus dem Jahre 1961 geradezu bescheiden
aus. Inzwischen liegen auch zwei englische Versionen von John
Crombie/Stanley Chapman (1961) und Beverley Charles Rowe (o.J.), eine
deutsche von Ludwig Harig (1984), eine schwedische von Lars Hagström (1992) und
eine russische von Tatiana Bonch-Osmolovskaya (2002) vor. Hunderttausend
Milliarden Gedichte ergeben sich aus zehn identisch gereimten, syntaktisch
strukturgleichen und thematisch unterschiedlichen Sonetten, gedruckt in einem vierzehnteiligen
Klappbuch, so dass alle Verszeilen miteinander kombinierbar sind. Bei 45
Sekunden Lesezeit pro Sonett, 15 Sekunden fürs Umblättern und einem 8-Stunden-Tag
dauerte die Lektüre aller 100 000 000 000 000 potentiellen Sonette 190 258 752
Jahre.