Robert Duncan: Meine Meister
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v.l.n.r.: Jerome Rothenberg, Robert Duncan, Philip Lamantia, Lawrence Ferlinghetti
Robert Duncan
Meine Meister
Autobiographische
Notiz
aus dem amerikanischen Englisch von Friedhelm Rathjen
Ich habe in meinem Leben zwei Lehrer gehabt, die in eine
Biographie meiner Dichterexistenz gehören: auf der High-School Edna Keough, die
mich zum Schreiben als Berufung geführt hat, die gleichzeitig fordernd ist und
dabei doch auch ein intensives und tiefes Fühlen ermöglicht. Sie betrachtete
die Dichtung nicht als kulturelles Gebrauchsgut oder Übung zur Steigerung der
Empfindsamkeit, sondern als lebenswichtigen Prozeß des Geistes. Jahre später
kam dann Ernst Kantorowicz, dessen Genie und Kunst als Historiker mir zu einer
neuen Sichtweise auf den kreativen Geist und auf die Welt der Formen verhalf,
worin jener Geist sich manifestiert.
Robin Blaser, Jack Spicer und ich sind als Dichter auf
unterschiedliche Weise alle Schüler von Kantorowicz und haben durch seine Lehre
den Sinn für das Feld des Kreativen in der Geschichte gemein, das auch in der
Dichtung wirkt, das Konzept, daß formen transformieren heißt, mithin Magie ist,
und daß eine Metapher nicht ein literarischer Kunstgriff ist, sondern eine
tatsächlich vorhandene Bedeutung, die aus der wechselseitigen Durchdringung des
Seins herrührt, in ihr wirkt und uns zu ihrer Er-kenntnis führt, daß wir Formen
wahrnehmen, weil es Korrespondenzen gibt.
In meinem Leben als Dichter hat es
viele Freunde und Verbindungen gegeben. Von diesen scheinen mir die folgenden
insofern wichtig, als sie daran beteiligt waren, mein Konzept dessen zu formen,
was Dichtung oder der Prozeß des Schaffens ist. Meine Geschichte ist für mich
zum Teil eine Geschichte der Zeitgenossen. Als früheste ab 1938 Mary Fabilli
(auch wenn sie sich zu ihren Schriften aus diesen Jahren 1938-50 inzwischen
nicht mehr bekennen mag), deren Sinnlichkeit, Humor, Kühnheit und Schlichtheit,
deren Sinn fürs Phantastische, projiziert in die Rolle der Aurora Bligh, ich
mir als lebendes Beispiel bewahre. Dann Sanders Russell, mit dem zusammen ich The
Experimental Reviews (1940-41) herausgegeben habe. „Bewußtheit“ und „Stadien
des Bewußtseins“ galten ihm als Essenz von Dichtung; und sein eigenes Werk
stiftete durch evokative Bilder und meditative Landschaften eine unmittelbare
Korrespondenz zwischen innerem Sein und äußerer
Welt, eine metaphysische Aura, die für mich ein Kennzeichen des Gedichts
bleibt. Das Gedicht war ein Feld phantastischen Lebens, und das Gedicht war
eine Kunst, die Intensitäten des Realen in sich einschloß.
Im Zeitraum von 1946 bis 1950, als
ich in Berkeley lebte, wurde Jack Spicer (der rund sechs Jahre jünger war als
ich) mir Mentor, Kritiker und Gefährte. Er lehrte mich das Erkennen von Abscheu
als Schlüssel zur dramatischen Transformation von Sinnlichkeit im Gedicht. Als
Kritiker hat Spicer stets verlangt, dem Gedicht selbst als Realität zu
gehorchen, und all das als Übel verachtet, was ihm weltgewandt oder rentabel
vorkam. Infolge früher Jahre gemeinsamen Forschens haben er und ich gewisse
Dichtungsmethoden gemein, die mit der Kunst als „Magie“ zu tun haben:
Buchorakel, Herauf- oder Herabbeschwören von Kult oder Kunde der Mächte im
Gedicht, Beackern des metaphorischen Felds im Leben, wobei wir es auch nicht
verschmähten, das, was wir für „Dichtung“ hielten, als Direktive oder Schlüssel
zur Realität im Sinne einer dauerhaften Doktrin auszutesten. Zusammen mit Jack
Spicer lernte ich, daß das Gedicht, das phantastische Leben, das die Innenseite
des Realen sein mochte, ein Ritus war. Das Gedicht war ein Ritual, das auf
göttliche Befehle verwies.
Seit 1951 ist mein Werk, meiner eigenen Auffassung nach,
assoziiert mit einem größeren Werk, das in den Schriften von Charles Olson,
Denise Levertov und Robert Creeley zum Vorschein kam. 1948 hatte ich mit „The
Venice Poem“ einen Richtungs-wechsel vom Konzept einer dramatischen Form zum
Konzept der musikalischen Form in der Dichtung vollzogen. Spicer hat den letzten
der musikalischen Sätze, aus denen „The Venice Poem“ gebaut ist, nie
akzeptiert; er mißtraute der Echtheit der Geburt des Babys, in die die Coda des
Gedichts mündet. In der Phase, die folgte, wurde er mir durch meine Imitationen
Gertrude Steins noch weiter entfremdet, als ich mich daran machte, die
komplette Basis eines ungebrochenen Kontinuums in der poetischen Sprache in
Frage zu stellen, und versuchte, ein neues Gefühl für unterbrochene Bewegung zu
erzwingen.
Zwischen 1948 und 1952, als ich zum
ersten Mal erkannte, wie ich mit den in Origin erscheinenden Texten an
etwas teilhaben konnte, arbeitete ich isoliert von meinen Zeitgenossen und
hatte mich auf der Suche nach Anregern dem Genius älterer Künstler zugewandt.
1950 forderte die kreative Generation von Strawinsky, Frank Lloyd Wright, Ezra
Pound und Bonnard mich mit ihren zeitgenössischen Werken auf eine Weise heraus,
wie dies meine eigenen Gefährten nicht taten. Die Pisaner Cantos und die
ersten drei Bände von Paterson gaben uns etwas vor, an dem wir uns
messen lassen mußten. Satie, Strawinsky und Schönberg gingen bei der
Artikulation von Zeit weiter, als die Dichtung zu gehen imstande war. Und 1950
gab es die neue Malerei in San Francisco, wo ich meine Gefährten unter Malern
fand – Brock Brockway, Lynne Brown, Jess Collins, Harry Jacobs und Lili
Fenichel, dazu ihre Lehrer Still, Hassel Smith, Corbett und Bischoff –, die
neue Organisationsformen entwickelten, mit denen sich Diskontinuitäten im Raum
verwirklichen ließen und damals auch mehr Vitalität (Vielfalt der Impulse), als
ich in meinem dichterischen Werk erreicht hatte.
Was in mir den Sinn für eine neue Generation in der Dichtung
auslöste, das war erstens ein Gedicht („The Shifting“ von Denise Levertov) in Origin
IV, 1952; dann, 1954, durch Die Goldgräber das Verständnis der Kunst
von Robert Creeley, bei dem in jeder Zeile eine so präzise Aufmerksamkeit und
Umsicht wirkte; und drittens, freilich von Anfang an, der Durchbruch zu einer
sinnstiftenden Lektüre von Olsons Maximus, von der aus seine Arbeiten Projective
Verse und In Cold Hell, In Thicket neue Bedeutung gewannen: daß
nämlich, um nur einen Punkt zu nennen, die Aufgabe des Dichtens prometheisch
sein kann. Mit Whitmans Worten: „Das Thema ist schöpferisch und hat Perspektive.“
Hier geht die Biographie in die lebendige Gegenwart über, die keine Zusammenfassung
kennt. Meine Überzeugungen liegen hier: daß die Genannten an einem Ort
arbeiten, wo ich arbeiten mochte. Und seit 1957, mit seinem After Lorca, nimmt
Spicer wieder seinen Platz unter meinen Gewährsmännern ein.
Das ist die Geschichte von der
Romanze der Formen. Für uns alle gehören dazu numinose Mächte, Suchaufgaben und
Verrichtungen des Geistes, Voraussagen über unseren Anteil an Geschichte,
Ehrfurcht vor unseren „Vorfahren“ im Geiste. Ja, ich sollte sie beim Namen
nennen, die Dichter, die meine Meister waren, denn sie werden nicht überall
verehrt. Tatsächlich gilt Ehrfurcht in akademischen Kreisen eher als Laster
denn als Tugend. Die Quellen meiner Virtus liegen bei jenen, die mir
unmittelbar vorausgegangen sind: Stein, Lawrence, Pound, H.D., William Carlos
Williams, Marianne Moore, Wallace Stevens und Edith Sitwell. Sie sind alle
problematisch, nicht wahr? Und die beiden, die auf der sicheren Seite
sind – Frost und Eliot –, sind nicht dabei.
Aber andererseits hat sich mein Leben nun mal so
entwickelt, daß es im Problematischen beheimatet ist, daß es diejenigen Formen
anstrebt, die die breiteste Palette diversester Gefühle ermöglichen, so daß ein
Buch mehr ist als ein Gedicht und ein Lebenswerk mehr ist als ein Buch, und
doch haben sie keine andere Instanz als das Wort. Eine multiphasische
Erfahrung, angestrebt in multiphasischer Form.
Es war Charles Olson, der mich
veranlaßte, Whitehead zu lesen, bei dem ich Prinzipien fand, die Parallelen
hatten zu den von mir für die Kunst angestrebten: daß „wir den Facettenreichtum
der Welt nicht vernachlässigen sollten – die Feen tanzen, und Christus wird ans
Kreuz genagelt“, um die volle Bandbreite der Gefühle zu entfalten. Und ich
stieß auch auf den philosophischen Ausdruck dessen, was wir in der Kunst des
Gedichts allmählich zu realisieren begannen – daß Ganzheit in jedem Teil immer
gegenwärtig sein muß: „Die Gemeinschaft der Heiligen ist eine große und
inspirierende Gemeinde“, hat Whitehead geschrieben, „aber für sie gibt es nur
einen einzigen möglichen Versammlungsort, und das ist die Gegenwart; und das
bloße Verstreichen der Zeit, dem jede beliebige Gruppe von Heiligen während der
Reise zu jenem Versammlungsort unterliegt, ändert daran gewiß sehr wenig.“
Seit 1951 ist der Maler Jess Collins mein ständiger Gefährte.
Er war einer jener Maler, die mich zu neuen Möglichkeiten der
diskontinuierlichen Form in der räumlichen Komposition erweckt haben; und in
diesen letzten Jahren hat sein Werk, wie meines, danach gestrebt, ein Feld für
das zu sein, was ich die „Romanze“ genannt habe, für das Leben des Geistes, das
die Feen und Christus, die Heiligen und die Gegenwart einschließt. Dies nannte
man einmal Imagination.
Zu Jess Collins gesellt sich noch
jemand, die späteste dieser Lehrer und Gefährten – aber das war später, 1954 –,
Helen Adam, die ihre Tür dem reichen Erbe der verbotenen Romantiker aufgetan
hat. Ihre Balladen waren das fehlende Glied zum Anschluß an die Tradition. Wie
verstörend sie anfangs waren! Sie faszinierten; sie schienen ganz und gar
anachronistisch. Da war das bloße Verstreichen der Zeit, dem sie auf ihrer
Reise unterlegen waren. Sie waren kraftvoll; sie hätten eigentlich falsch sein
sollen. Sie waren gänzlich mit Geschehen beschäftigt, mit wundersamem
Geschehen; nirgendwo fiel auf die Sprache ein Schatten, der auf die
Empfindsamkeit der Dichterin hindeutete.
Indem ich die
Inspiration durch Helen Adam aufnahm, indem ich ihr Genie einräumte, war ich imstande,
schließlich die letzten der modernen Konventionen abzuschütteln – Originalität,
Stil, sprachliche Geläufigkeit, Empfindsamkeit und Integrität. Mir steht der
Appetit sehr nach Beifall, ganz gleich, woher er kommt, und allein das Beispiel
dieser Dichterin, die sich überhaupt nicht um Urteile schert, sondern nur um
das Leben der Imagination, um das Wunderbare, das den Kern aller lebendigen
Dichtung ausmacht, rettet mich bisweilen. Und Helen Adam hatte recht, in
Balladen dürfen Leidenschaften zum Ausdruck und in Märchen Wünsche zur Sprache
kommen, die ansonsten stumm oder verstümmelt wären.
Dies sind die Fäden. Und das Gewebe
des Musters ist jetzt so dicht, so anschmiegsam und so eng verwoben, unter
Einschluß so vieler unentdeckter Fäden, daß ich den Gestalten vertrauen muß,
wie sie daraus hervortreten, mich gläubig darauf verlassen muß, daß da eine
Ganzheit der Form gegeben ist (folglich das unablässige Gefühl einer
gegenwärtigen Form haben muß). Es gibt eine Ganzheit dessen, was wir sind, die
wir nie kennen werden; wir sind stets, ganz wie es die Zeile oder die
Formulierung oder das Wort ist, der Moment jener Ganzheit – ein Geschehen; aber
dies, die Ganzheit dessen, was wir sind, geht zurück auf ein vergessenes Dunkel
und führt voran in ein unbekanntes Dunkel. Auch dieses Dunkel ist Teil des
Werks, der Form, sofern es sich um ein Ganzes handelt.
(1959)
Mit freundlicher Genehmigung von Norbert Wehr übernommen aus dem Dossier "Das Eichmann-Feld - Robert Duncan. Gedichte (1960 - 1968)"
im Schreibheft #73.