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Raymond Carver: Ein neuer Pfad zum Wasserfall

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Jan Kuhlbrodt


Carvers Universum



Auf der gemeinsamen Empfehlungsliste des Lyrikkabinetts und der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung fanden sich unter den internationalen Autoren zwei Bücher, die auch für mich zum Besten zählten, was im letzten Jahr so erschienen ist. Neben dem Slalom Soft des Belgiers Paul Bogaert war es der Band Ein neuer Pfad zum Wasserfall des Amerikaners Raymond Carver. Übersetzt wurden die Gedichte Carvers von Helmut Frielinghaus, der im Vorwort schreibt:
Ich fühle mich aufgrund meines eigenen Zustandes in gewisser Art und Weise sogar besonders qualifiziert für die Übersetzung dieses Buches.
Frielinghaus ist, als er das schreibt, schwer krank. Und das letzte Buch Raymond Carvers war dieser Gedichtband. Mit einem Nachwort versehen wurde die amerikanische Originalausgabe von Tess Gallagher, Carvers Frau, der der Band auch gewidmet ist.
Carver hatte nicht mehr viel Zeit, entnehmen wir dem Nachwort, in ihm arbeitete der Krebs. Also entschied er sich, Gedichte zu schreiben. Nun ist aber diese Geste keine, die eine Abwertung des Genres beinhaltet, á la Gedichte sind schnell hingeworfen. Nein, Carvers Texte sind von einer eigenen, wenn auch zuweilen eigenartigen Qualität.

Lassen wir das Sterben aber zunächst einmal außen vor (wir werden früh genug darauf zurückkommen) und schauen wir auf die Komposition des Buches. Denn im Grunde handelt es sich um eine Art Anthologie. Neben Texten von Carver begegnen uns eben auch Texte von Milosz, Tschechow, Lowell, Tranströmer und einigen andern. Und damit gehört dieser Band zu den ehrlichsten und instruktivsten, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, und zwar nicht, weil er den kommenden Literaturwissenschaftlern eine mühsame Recherche abnimmt, um Carvers poetischem Geheimnis auf dem Grund zu kommen, sondern weil er den romantisierenden Gedanken ans Originalgenie gar nicht erst aufkommen lässt. Carver bekennt sich hier ganz offen zum Diskursiven, und das ist auch ein Bekenntnis zum Sein als Teil einer Gruppe oder Bewegung. Eine Bewegung allerdings, die ohne Statut und formuliertes Ziel auskommt.

Letztlich sind doch alle Gedichtbände Anthologien, die die Fremdtexte, auf die sich die Autorschaft gründet, weglassen, wenn nicht offensiv verschweigen. Der Charakter der Dichtkunst und das, was die Romantik als Originalgenie bezeichnet, zeigt sich bei Carver ganz offen als Reflex auf vorhandene Lektüren. Und in diesem Reflex, liegt eben auch die Möglichkeit zu Neuem. Damit verschwindet die Einzigartigkeit nicht, denn das, was dabei entsteht, sind zumindest im Falle Carvers eindringliche und hoch artifizielle Gebilde.

Ein Text des Bandes sticht meiner Meinung nach besonders heraus, zumindest für mich und im Augenblick dieses Durchgangs. Er resultiert aus der Lektüre einer Biografie Alexander des Großen, heißt Wein und beschreibt den mazedonischen Kriegsherren in einer Situation, da er seinen Freund Kleitos ermordet hat, aber vor Trauer unfähig ist, zu handeln: Mehrere Tage verbringt er trauernd neben dem Leichnam des von ihm selbst ermordeten Freundes in seinem Zelt, um sich dann bei der Trauerfeier und nach der Homerlektüre hemmungslos zu betrinken. Dieser Text entspringt unmittelbar der Lektüre eines anderen Textes. Weitere Gedichte sind eher situativ:

DER MARSCH INS RUSSISCHE REICH

Gerade als er den Gedanken aufgegeben hatte,
dass er jemals noch ein Gedicht schreiben würde,
begann sie ihr Haar zu bürsten.
Und zu singen – den irischen Folksong,
den er so gern mochte.
Den über Napoleon und
seinen „bonny bunch of roses, oh!“


Sowohl hier, als auch im einzigen Prosatext des Bandes, Ein bisschen Prosa über Gedichte, finden sich Reflexionen auf die Entstehungsbedingungen der Texte in gewissermaßen genealogischer Vorgehensweise.
Bei Carvers Gedichten überwiegen die mit hohem narrativen Anteil, ohne, dass sie ins balladeske kippen. Eher als Handlungen zu erzählen, leuchten sie Situationen aus, und hier ist vielleicht auch die Verbindung zu Carvers Short Storys. Oh ich kann mich noch gut an die Neunzigerjahre erinnern, als im Berlinverlag diese Bücher erschienen. Jeder Band war eine neue Offenbarung und zugleich auch eine Verheißung auf weitere Texte. Dann die Debatte, Carvers Lektor hätte stark eingegriffen und durch Streichungen die Geschichten erst zu dem gemacht, was sie sind. So what? Auch hier gilt, dass Literatur einen kollektiven Schöpfer hat, und der Name des Autors eine zwar stark aussagekräftige, aber doch eben eine Marke ist.
Aber, und das scheint mir das eigentliche Wunder der Dichtkunst, diese Texte erlangen als Kunstwerke ein hohe Individualität und damit Eindringlichkeit, und das macht sie, zumindest für mich zu Quellen des Trostes im Angesicht des Todes. Ich bitte darum, mir dieses Pathos an dieser Stelle durchgehen zu lassen. Carvers Texte bilden keinen Endpunkt, sondern einen Anfang. Schon seine Short Stories waren zum Beispiel Grundlage für Robert Altmans großartigen Film Short Cuts, der zumindest bei mir dazu führte, dass ich mich nach und nach durch Altmans Gesamtwerk bewegte. Und ähnlich geht es mir bei der Lektüre des Gedichtbandes. Auf dem Tisch lagern inzwischen einige Bücher jener Autoren, aus denen auch Carver seine Anregungen bezog, und die in seinem Gedichtband zu Wort kommen. Vorher standen sie verstreut im Regal, jetzt ordnen sie sich, natürlich lückenhaft, zu Carvers Universum.



Raymond Carver: Ein neuer Pfad zum Wasserfall. Gedichte. Übers. von Helmut Frielinghaus. Frankfurt a.M. (Fischer Taschenbuch) 2013. 160 S., 18,99 Euro.

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