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Raphael Urweider: Wildern

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Timo Brandt

Ungestüm, aber kein Ungetüm


„bin leicht verständlich nähere mich der beute bin
beute niemand hält mich auf ich generiere jagd“

Summieren könnte man die hier versammelten Gedichte Raphael Urweiders unter dem Stichwort Streifzüge. Nicht nur, weil es mehrere Langgedichte gibt, die etwas Wanderndes, etwas Unruhiges und eben Umherstreifendes haben, sondern auch, weil Ortswechsel in einigen Texten eine wichtige Rolle spielen.

Am Anfang steht das Kapitel „wintern“, ein eröffnendes Langgedicht, eine Art innerer Monolog eines Försters und Jägers, der durch eine winterliche Landschaft streift, Fährten folgend und gleichzeitig an seine Aufgabe gebunden – letzteres eine Dichotomie, aus der man eine Metapher für dichterisches Arbeiten ableiten könnte. Auch Dichter*innen versuchen Fährten nachzugehen (manchmal jenen, die sie selbst zu anderen Zeiten hinterlassen haben), sie müssen aber auch eine Form, müssen Worte finden, können nicht nur nachspüren, müssen auch festlegen.

„im niederholz des brustkastens da schlägt
mir kaum was entgegen doch habe noch spucke

schärfe den blick säe botanischen nachwuchs
ich breite mich aus mit ausläufern der wind

zieht an mir wittert mein dasein verteilt mich
mein nachleben in jede bewachsbare richtung“

Das Gedicht ist ein schöner Einstieg und scheint die Vorstellungen, die sich aus dem Titel des Bandes ergeben, zu bestärken; man erwartet dementsprechend ähnliche Konstel-lationen in den restlichen Kapiteln des Bandes. Diese Erwartungen werden dann aber im folgenden Abschnitt, mit dem Titel „orten“, erstmal gebrochen, neu konstituiert.

„bei kunstlicht
besehen geht das gut mit
deiner schminke berlin“

In diesem zweiten Teil geht es um Orte und um Ortswechsel. Rund um die Welt, von Berlin bis Kairo, von Abu Dhabi bis Charkiw.

Meist sind es Großstädte, die auf eigenwillige Weise portraitiert werden – manchmal knapp und spitz, aber oft mit einem räsonierenden Ton, der nicht selten ins Politische, Kritische vorstößt, ohne sich aber wirklich aus der Deckung zu begeben – was mitunter etwas mühsam und halbgar wirkt.

So gibt es ein längeres Gedicht über Brüssel, das einen starken Aufzählungscharakter hat und zu der Sorte Text gehört, bei der man, trotz aller Anschaulichkeit, irgendwann denkt: ich hab‘s begriffen. Klar: der Überdruss-Faktor des Gedichtes ist symbolischer Natur. Dennoch gefallen mir diese Stadtgedichte vor allem dann, wenn sie einen persönlichen Einschlag bekommen, etwas weniger dick auftragen. So gibt es am Ende eines (ebenfalls politisierenden, sogar eher schon polemisierenden) Gedichts über London einen zusätzlichen Absatz, der lautet:

„ich fühle mich älter als london
und viel kleiner
wäre gern ein taschenspiegel
eine füllfeder
eine mit samt ausgeschlagene box
auf einem noch
nicht entdeckten flohmarkt“

Dichtung kann zwar politische Dimensionen haben und diese auch durch ihre Sprache, ihre Ansätze enthüllen, aber wenn sie politische Themen lediglich aufgreift, nach- oder vorplappert, nicht transzendiert, erweckt das bei mir stets den Eindruck, man würde als Leser bloß eingespannt und nicht getragen von den Gedichten. Urweider bringt in diesen Gedichten zwar konsequent das Ich ein, trotzdem entfaltet sich manches, was das lyrische Ich, an sich und von seinen Erfahrungen ausgehend, verhandelt, zu einer übergroß werdenden Determination.

In kurzen Wendungen und einigen eher komischen oder ruhigeren Abschnitten, entfalten diese Stadtporträts dennoch ihre Wirkung – weil sie eben doch Dinge auf den Punkt bringen. Unklare Dinge, die sich vielleicht nicht so einfach aufzählen oder aus dem Tagespolitikwortschatz oder dem Lokalkolorit-Register ziehen lassen. Wie etwa die Verlorenheit in London. Oder die Wirtschaftslage in Dresden, die in einer Randbemerkung zur Geltung kommt:

„auf großen werbetafeln
machen werbetafelvermieter
werbung für sich“

Ähnlich bezeichnend jene drei Zeilen, mit denen das Gedicht über San Diego endet:

„du lebst von mexiko und lässt dich
von kalifornien aushalten
so wie du kalifornien aushältst“

Noch positiv hervorzuheben, was dieses Kapitel betrifft, ist ein Gedicht über Johannesburg und einen verlorenen Schlüssel – hier funktioniert das Zusammenfließen von persönlicher Erfahrung und gesellschaftlich-politischen Dimensionen.

Es folgt das sehr kurze Kapitel „weilen“, das zu meinen beiden Lieblingskapiteln gehört – hier sind wir auch wieder näher dran am „wildern“. In den sechs Gedichten geht es um die einzelnen Bestandteile von Gewächsen, also: Knospe, Blüte, Blatt, Ast, Stamm, Wurzel.

„eine schöne sanfte bombe die nicht
angefasst werden sollte knospen
sind geduld verlangende versprechen“

Nach den unruhigen, sich türmenden Städtelandschaften und vorbeischnellenden Aufenthalten, sind diese feinen, in vielerlei Hinsicht sanften Betrachtungen eine Art Federung, die das Tempo der weltumspannenden Reise abfangen, die über viele Orte verteilte Präsenz einfangen, bündeln. Auf ihre Weise sind die Gewächse natürlich auch ungestüm, aber dieses Ungestüme geht langsamer vonstatten, ist klarer zu greifen und gleichsam unauffälliger; unbeeindruckt geradezu, aber auf andere Art und Weise als ein lyrisches Ich, das durch die Weltstädte rennt und bei allem Staunenswerten, Großen, doch nicht wirklich staunt. Das Staunen beginnt erst bei der Knospe. Man könnte fast meinen, hier soll ein Gegensatz erzeugt werden: Städte, mit ihrer Hast und ihrem Schein, auf der einen und auf der anderen Seite die Unerschrockenheit und stille Größe der wachsenden Natur.

„äste verholzen das ist weise
weise ist ein altes wort wie holz

was ist die einsamkeit eines knackens
gegen die zweisamkeit eines zweigs“

Das nächste Kapitel „winden“ passt nicht so ganz zum Rest des Bandes. Es wird eine Beziehungsgeschichte verhandelt; ein Gegenüber wird als Krankenschwester angesprochen, angeschrien geradezu. Dass es dabei um Wunden geht, kommt zwar heraus, das kurze Kapitel wirkt aber innerhalb des Bandes wie eine Anomalie, als wäre es aus einem anderen Kosmos, mit anderen Zusammenhängen, hereingeschwappt.

Das folgende Kapitel „dämmern“ schließt an „orten“ an und ist eine Art Chronik. Uhrzeiten werden heruntergezählt, bis ein ganzer Tag zurückgedreht wurde; aber mit jeder Uhrzeit wechseln der Ort, die Jahreszeit, die Umgebung. Das lyrische Ich steht in Tokio, dann, nach der nächsten Zeitangabe, plötzlich in Manhattan. Zeitraffertechnik. Ein Panorama wird aufgefächert, aus kurzen Erlebnissequenzen, Aufenthaltsmomenten, mit Gedanken und Erinnerungsnebeln. Wo in „orten“ die Bewegung, die Dynamik, im Vordergrund steht, ist in „dämmern“ das Innehalten das Zentrum jedes Textabschnitts; der Moment, gelöst aus der Chronologie der Ereignisse, nur dem Ort verhaftet, entzogen der Zeit.  

„botanisch gesehen eine beere“

So ist es, Bananen sind eigentlich Beeren. Und Erdbeeren übrigens Sammelnussfrüchte, was sich gut trifft, da die Kokosnuss keine Nuss, sondern eine Steinfrucht ist.
    In „fruchten“, meinem zweiten Lieblingskapitel, werden verschiedene Baumfrüchte beschrieben, minutiös, mit Wortcocktails aus Verheißung, Information, sowie kleinen Prisen von Witz und Ironie. Die erotisierte Komponente ist dabei, obwohl offensichtlich vorhanden, sehr gut ausbalanciert, sodass die Gedichte nicht geschmacklos oder reizwortgespeist wirken. Zum Granatapfel heißt es:

„persisch. phönizisch. biblisch.
mit harten schwarzen samen
im schleimigen fleisch, zahlreich
wie die suren im koran.“

Früchte: eine spannende Angelegenheit. Des Weiteren knüpft dieser Teil natürlich an „weilen“ an: Dort wurde die Architektur des Gewächses beschrieben, die Einzelteile des Pflanzenkörpers, wohlstrukturiert und funktional. Nun reiht Urweider die Früchte auf – eine verlockender als die andere. Ordnung und Chaos, Weilen und Begehren, stehen sich gegenüber und sind doch zwei Seiten desselben Prozesses, der Leben bewahrt und es hervorbringt.

Der letzte Bogen schließt sich im abschließenden Langgedicht „tannen“, das sich um Tierschlachtungen und Motive und Eindrücke der Kindheit dreht. Die Tannen, die man im ersten Gedicht, in der winterlicher Landschaft, aufragen sah (die aber, wenn ich sie nicht übersehen habe, dort mit keinem Wort erwähnt werden; es wird lediglich von Bäumen gesprochen), mitbeschworen von den anderen Bildern des Textes, hier stehen sie im Titel. Ein klarer Gegensatz ergibt sich durch die Tiere, die in diesem letzten Gedicht als Schlachtvieh vorkommen, derweil sie im ersten Gedicht nur am Rand auftauchten, in kleine Mysterien gewoben, als Fährten, Erscheinungen, als Fluchtobjekte.

Diese letzte Profanisierung, fast schon resignierend, ist ihrerseits wieder voll von gestochen scharfen Bildern, die wiederum einen Weg in das Mysterium der Kindheit weisen, und außerdem das Aufgehoben-Sein von zeitlichen Gefügen beschreiben, hervorgerufen durch einen wiederkehrenden Eindruck. Dies am Ende eines Bandes, den es in seinen beiden längsten Kapiteln, an viele Orte verschlägt, dessen beste Stellen aber (meiner Meinung nach) dort zu finden sind, wo das Ich zu sich selbst zurückfindet oder Betrachtungen auf kleinstem Raum anstellt.

Ist dieser Gegensatz die Botschaft? Ich will den Band hier gar nicht abschließend beurteilen oder ihm eine gesamtkonzeptuelle „Botschaft“ aufdrücken. Die Bewegung darin ist spannend, der Aufbau und die Themen regen mit ihrem Zusammenspiel zu allerlei Überlegungen an. Und darüber hinaus hat „Wildern“ viel Feines, viel Feinheit zu bieten. Lesenswert!


Raphael Urweider: Wildern. Gedichte. München (Carl Hanser Verlag) 2018. 128 Seiten. 18,00 Euro.
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