Rainer René Mueller: Gesammelte Gedichte
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Jan Kuhlbrodt
Rainer René Mueller: Gesammelte Gedichte. Herausgegeben von Chiara
Caradonna und Leonard Keidel. Göttingen (Wallstein Verlag) 2021. 526 Seiten.
38,00 Euro.
Zaghafter Versuch, etwas zu den Gedichten von Rainer René
Mueller zu schreiben
Rainer René Mueller arbeitet an den Rändern der Sprache,
dort wo Sprache ihre Reinheit aufgibt, sich öffnet, wie ihre Unschuld, die sie
immer schon verloren hatte, dort wo sie auf Reinheit bestand, erneut aufscheint.
An diesem Rand wird auch die repressive Funktion sichtbar,
wenn Sprache sich z.B. auf Nationalstaatlichkeit beruft und auf ihr
ausschließendes Moment gegen das, was sie als unrein empfindet.
Mueller arbeitet dort, wo Sprache sich öffnet, und er macht
dort, wo Sprache beharrt, das Ausschließende sichtbar.
Letzteres vor allem im Zyklus „LiedDeutsch“, der vor allem das beleuchtet, was
die Roman-tik im Schatten hat liegen lassen. Die erste Strophe des Gedichtes Lirum,
larum:
deutsch, das ist auchZeile für Zeile, lange Gekeimtesin Metronome und Schlagstöcke gehängtin Verseden Hunger in Deutschland, Zeile für ZeileSonette
Meine Gewohnheit, schnell zu lesen, versagte in diesem Band
schon bei den ersten Gedichten, obwohl ich einige von ihnen bereits kannte,
denn ich hatte seinerzeit etwas über das von Dieter M. Gräf herausgegebene roughbook
verfasst, eine schmale Auswahl aus dem Werk, das jetzt als umfangreicher Band
vorliegt. Damals schrieb ich, Mueller halte an einigen ästhetischen Positionen
Celans fest, an einer Hermetik, die dem Klang der Sprache zu gleichen Teilen
vertraut und misstraut, die versucht, der Sprache eine Erinnerung zu entlocken,
die unter ihr selbst verschüttet liegt.
Das würde ich heute, angesichts eines vielleicht
unabge-schlossenen Gesamtwerks nicht zurücknehmen, aber es greift zu kurz, spart
wesentliche Momente aus, in dem sie das Ganze auf Bekanntes zurückführt.
Herausgegeben wurde dieser nun vorliegende umfangreiche Band
von Chiara Caradonna und Leonard Keidel. Caradonna verfasste auch das Nachwort
und einen umfangreichen Kommentar.
Man käme vielleicht bei der Lektüre der Gedichte ohne jenen
Kommentar aus. Wenn ich aber an meine Besprechung des roughbook-Bandes denke,
so muss ich gestehen, dass dies ein Verzicht wäre und eine Verengung der
Wahrnehmung, die sich zu sehr auf die eigene vorhandene Kenntnis verlässt,
zumal ich nicht gänzlich bar von jedem biblischen Wissen bin, aber eben auch
nicht entsprechend bewandert, dass sich mit Bezügen als Verständnispfad der
gedankliche Weg immer und unmittelbar öffnet.
Der Band versammelt Muellers Gedichte in umgekehrter
zeitlicher Reihenfolge ihrer Publikation und mündet so in einem Kapitel früher
unveröffentlichter Gedichte, dem sich Kommentar und Nachwort anschließen.
Ich bin ein leidenschaftlicher Leser von Texten, die solchen
Werkphasen entspringen, die, wenn man so will, lyrisches Material noch als
Rohmaterial ungeschliffen beinhalten. Und ich lese darin zuweilen in der
Hoffnung, Spuren der Werkzeuge zu entdecken, die dem Dichter bei der Formgebung
hilfreich waren.
Bei Mueller allerdings habe ich das Gefühl, dass er Texten,
die im Ansatz oder im Entwurf eine vollendete Form bedienen, eher misstraut, dass
er die glatte Hülle aus Misstrauen heraus gedanklich aufraut.
Eines der frühen Gedichte, es ist ohne Titel:
Vom Gezweifeltensprach einer nichtvon der Ordnung der Vögelspricht er, vom Engel;dieses bliebvon der verrenktenHüfte:eine gedoppelte Stimmeund ließ ihnzurück
Dieses Gedicht ist als solches für mein Empfinden bereits
wunderschön, und es bezieht seine Kraft aus einem biblischen Motiv. Ein Wissen,
dass den Eindruck nicht mindert, sondern verstärkt. Es ist ein lohnenswertes
und in seiner Erkenntniskraft beglückendes Unterfangen, sich durch diese
Gedichte und die Kommentare zu bewegen.