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Radna Fabias: Habitus

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Monika Vasik

Radna Fabias: Habitus. Gedichte. Aus dem Niederländischen übersetzt von Stefan Wieczorek. Nettetal (Elif Verlag) 2022. 114 Seiten. 22,00 Euro.

„ich war ein kreuzungspunkt der wüsten“


Habitus: Er ist zunächst das, was uns auf den ersten Blick an Menschen auffällt, sich in das äußere Erscheinungsbild der Person eingeschrieben hat: Alter, Aussehen, Haltung und Konstitution. In der Soziologie weist der Begriff zudem auf die Zusammenhänge von Individuum und Gesellschaft hin. So nahm Pierre Bourdieu in seinem Habitus-Konzept neben dem Auftreten einer Person das Verhalten im klassenspezifischen sozialen Umfeld in den Blick. Habitus sei die Grundhaltung des Menschen zu sich selbst und zur Welt und bilde sich durch Erfahrungen, vor allem Prägungen in Kindheit und Jugend, die durch Lern- und Anpassungsleistungen verinnerlicht werden. Ist der Habitus für immer eingeschrieben oder ist er veränderbar? Diese und damit einhergehende Fragen nach sozialer Klasse und Herrschaftsverhältnissen umspielt und verhandelt „Habitus“, der Debütband von Radna Fabias. Er ist 2018 in den Niederlanden erschienen, wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet und liegt bereits in mehreren Übersetzungen vor. Nun hat Stefan Wieczorek die Gedichte auch ins Deutsche übertragen. Dies geschah in produktivem Austausch mit der Dichterin, wie Wieczorek im Nachwort erläutert.

„die muttersprache
die offizielle sprache
die inoffizielle sprache“

Gleich das erste Gedicht des Bands, „was ich versteckte“, listet Dinge auf, die verborgen werden sollten oder mussten. Eines davon war die Kreolsprache Papiamentu, die Sprache der karibischen ABC-Inseln Aruba, Bonaire und Curaçao. Radna Fabias wurde 1983 auf letzterer geboren, die einst Teil des niederländischen Kolonialreichs und Zentrum des Sklaven-handels in der Karibik war und heute zum Königreich der Niederlande gehört. Auf Curaçao verbrachte Fabias ihre Kind-heit und Jugend, ehe sie mit 17 Jahren zum Studium in die Niederlande kam, wo sie heute lebt. Aus ihrem Schatz an Erfahrungen schöpfte Fabias Texte, in denen sie das Leben einer schwarzen Frau zwischen zwei Welten verdichtet, Erfahrungen, die wenig miteinander gemeinsam haben, außer den spezifisch weiblichen Widerfahrungen und Prägungen, die sich ähneln.

Es existiert eine Asymmetrie der Verhältnisse zwischen Kolonie und Kolonisator, der sich Fabias früh bewusst wurde durch den Wert, der den Sprachen in ihrem Geburtsland zugemessen wurde. Denn Niederländisch war die offizielle Amtssprache, somit auch Unterrichtssprache in der Schule, Papiamentu hingegen die Familiensprache. Mit ihrer Mutter unterhielt sich Radna Fabias in einer lokalen Variante des Niederländischen, die durch ein Ineinanderfließen verschiedener Sprachen gefärbt war. Diesem Wertgefälle der Sprachen nachempfunden ist im Buch u.a. die Aufnahme „pejorativer oder rassistischer“ Begriffe in der Originalsprache, wie der Übersetzer in seinem Nachwort ausführt.
        Thematisch geht es um Erfahrungen von Ungleichheit und Gewalt, die Fabias in ihrem Debüt aus weiblicher und damit geschlechtsspezifischer Perspektive erzählt und verdichtet. Wie schreiben sich diese Erfahrungen in Körper ein und prägen den Habitus? Und wie lassen sich Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln verändern?
        Radna Fabias gliedert ihr Buch in drei Kapitel. Die Gedichte des ersten Abschnitts „aus-sicht mit kokosnuss“ sind auf Curaçao verortet, erzählen vom karibischen „Erbe“, zu dem Armut, Mangelwirtschaft, Segregation und das asymmetrische Verhältnis der Geschlechter gehören, das von klein auf verfestigt und über Generationen perpetuiert wird. Da sind „die straßenjungs auf kleinen fahrrädern / wie sie auf dem fahrrad um mädchen tanzen die gerade erst menstruieren“, da sind Junkies, Hitze, Sex und das Glücksspiel, dort hingegen ein paar „allerreichste“, „die sich einen rasensprenger“, „silikonbrüste“ und andere Insignien des Reichtums leisten können. Da sind die Rollen von Religion, Wahrsagerinnen und alchemistische Segnungen, die Abrichtung durch Erziehung und Traditionen, dort Touristen, die mit Verheißungen wie Luxuswaren, getrimmtem Golfrasen und der „illusion der karibischen sorglosigkeit“ ins Land gelockt werden. Wichtige Lektionen müssen schon von Kindern verinnerlicht werden, etwa

„touristen immer anlachen
das nennt man erziehung“

Das zweite Kapitel trägt den Titel „rippe“ und verweist mit dem Aufgreifen des biblischen Motivs der Erschaffung Evas auf die Konstruktion von Geschlechterrollen und die daraus abgeleiteten Machtverhältnisse. „akzeptiere dein schicksal, rippe“ heißt es im titelgebenden Gedicht, in dem Weiblichkeit, die traditionellen Rollen von Frauen sowie weibliche Zurichtungen mit dem Ziel der Unterwerfung durchexerziert werden. Fabias zeigt in ihren Texten die Entzauberung von Mädchenträumen und romantischen Geschichten, erzählt von der Objektivierung der Frau, von Rechtlosigkeit, Abrichtung, Angst, von Scham und Schuldgefühlen. Manchmal genügen dafür zwei Verse, etwa wenn sie am Anfang von „was wir über die angelegenheit sagen können“ das Hohelied der Liebe aufruft und sogleich etwaige Hoffnungen von Frauen auf Liebe und erfüllenden Sex ernüchtert:

„1. korinther 13, natürlich

die angelegenheit ist asymetrisch“

Ich weiß nicht, ob das Fehlen des zweiten „m“ Absicht oder Versehen war, aber die Tatsache dieses Mangels als Kontrapunkt zum Hohelied verstärkt dessen Relativierung im realen Leben, scheint mir also durchaus stimmig.
        Im dritten Kapitel, „nachweislich erfolgte bemühungen“, geht es um das Ankommen in den Niederlanden, um europäische Kälte und bittere Erfahrungen, um Hautfarbe, Straßenstrich, Obdachlosigkeit, Gewalt und den Verlust von Illusionen.

„wir sind produkte
unser extraktionswert ist niedrig“

Auch in den Niederlanden sind Frauen Freiwild, den Augen von Männern ausgesetzt wie Fleisch in den Vitrinen eines Fleischhauers oder eines Supermarkts. Doch welche Möglichkeiten haben sie, sich ihren aufgezwungenen Rollen und dem sozialen Druck zu widersetzen und für sich eine eigene Form zu finden, ihren Habitus zu verändern? Eine mögliche Antwort eröffnet der Epilog. Dessen Titel „rast“ kann zweideutig gelesen werden, einerseits als Nomen in der Bedeutung Zur-Ruhe-Kommen, andererseits als Verb und somit das genaue Gegenteil ausdrückend, dass nämlich ein Ich rast. Sein „ich bin ruhig   ich bin ruhig“ klingt wie ein Mantra beim Versuch sich Vergangenheiten zu stellen. Im ersten Kapitel des Buchs war noch von Schwangerschaften die Rede und der Wichtigkeit der Fortpflanzung. Im Epilog setzt das Ich einen radikalen Schritt der Selbstbestimmung, schneidet sich von einem Teil des karibischen Erbes frei und lässt sich die Eileiter unterbinden.
         Und so legt Radna Fabias in ihrem Debüt politische Gedichte vor, in denen sie Women of Color in den Fokus rückt und von Armut und Migration, von Rassismus und Sexismus erzählt. Es ist eine komplexe Mischung aus stilistisch unterschiedlichen und formal variantenreichen Texten in durchgehender Kleinschreibung und freien Rhythmen. Listengedichte stehen neben litaneiähnlichen, dramatischen und prosanahen Texten, einer hat die Form eines Fragebogens usw. Meist sind die Gedichte in Strophen gegliedert und linksbündig gesetzt, gelegentlich durch rechtsbündige Einschübe und Kommentierungen ergänzt. Texte mit dem Titel „reiseführer“ und fortlaufender Nummerierung von I-IV, die Sehenswürdiges auf der Karibikinsel anpreisen, sind hingegen zentriert, was sie auch formal als Marketingtexte von den anderen absetzt. Die Längen der Verse variieren, Ein-Wort-Verse wechseln mit durch Enjambements über mehrere Zeilen verbundenen Versen ohne Satzzeichen, was beim Lesen große Wucht entfaltet, die körperlich spürbar wird, Atemlosigkeit, zuweilen Verwirrung nach sich zieht und so die Gewalt von Ereignissen hautnah nachempfinden lässt. Gern arbeitet die Dichterin zudem mit Wiederholungen, was gelegentlich an Gebetsmuster und Anrufungen erinnert, ein religiöser Konnex, der durch Bibelhinweise noch verstärkt wird. Was dieses Debüt überdies auszeichnet, ist der Witz, der von subtiler Ironie bis zum schallenden Sarkasmus reicht. Eindrucksvoll!


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