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Poesie und Begriff, Teil 6

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Martina Hefter,
Jan Kuhlbrodt


Poesie und Begriff - Selbstversuch, Teil 6




Lieber Jan,


nach unserer kurzen Pause gehts jetzt weiter mit dem Beitrag von Ann Cotten: “In Gummistiefeln die Haut entlang”.

Es fängt schon nicht einfach an. Eine Dreiviertelseite Fußnoten, und drüber den ersten regulären Absatz habe ich nicht verstanden. Ich tippe den ersten Satz mal ab, vielleicht verstehe ich dann etwas:
“Wird die “diskursive Rede” ihrer Ohnmacht angesichtig, zu entscheiden, ob Kategorie A Kategorie B oder Kategorie C ist - worunter zu verstehen ist eine durch ein unbekanntes Ausmaß an Metaphorizität in der Bezeichnung kaschierte Unterordnung, oder eine zu einem ungewissen Anteil scherz- oder spielhafte Begriffsarbeit - hat Monika Rinck sehr recht, TIMING zu rufen.

(Zu “Begriffsarbeit” steht die erste Fußnote, zu “TIMING” die zweite, sie weist auf das Buch “Ah das Love Ding von M.R. hin, woraus “TIMING” ein Zitat ist.) Noch immer nichts wirklich verstanden. Aber dann der anschließende Satz: “Diese Art diskursives “Denken”, oder Denkarbeit, ist wie Akkordeonspiel der primitiveren Art (Akkordeonarbeit), oder die Fortbewegung eines Regenwurms: (... )”. Anhand dieses Akkordeon- und Regenwurmbeispiels wird dann etwas dargelegt, was ich auch nicht richtig verstehe, aber ich fühle mich in die Lage versetzt, etwas zu vermuten. Vielleicht ist gemeint, wie eine gewisse Art des Denkens abläuft: sich zusammenziehend und wieder entspannend, und dazwischen wird eine Distanz überwunden, und es kommt drauf an, welche Phase man gerade erwischt, denkt man über etwas nach.

“Distanz überwinden” würde aber doch nur für den Regenwurm zutreffen, nicht für die Bewegung des Akkordeons. Aber halt, Ann Cotten meint hier womöglich gar nicht die Bewegung des Akkordeons, also das Auseinander und Zusammen, sondern vielleicht die Art von Tönen, die beim Spielen entstehen? Das Akkordeonspiel, also das Tonale daran, hat ja auch etwas Leierndes, es wird mal laut, dann wieder leise, es schlängelt sich so voran - und es überwindet die Distanz vom Anfang des Lieds bis zum Ende.

Indem ich hier meine Gedanken beim Lesen so ausführlich wiedergebe, sieht man schon, dass ich bei Ann Cotten in Labyrinthisches geriet. Beim Weiterlesen entwickelte ich mehr und mehr den Wunsch, gar nicht so sehr über den Inhalt von Ann Cottens Text etwas zu sagen, sondern über seine - wie nenne ich das? Herangehensweise, Machart, Haltung. Das habe ich ja, fällt mir rückblickend auf, auch bei den anderen Texten mehr oder weniger so gemacht. Warum mich Haltung, Machart, Herangehensweise so interessiert haben, wäre ja nochmal ein ganz anderes Thema (natürlich liegt ein Grund, hauptsächlich nicht über Inhalte etwas zu schreiben, auch darin, dass ich von den Inhalten zu wenig verstanden habe).

Neulich schrieb ich dir ja zum Text von Oswald Egger, dass ich große Lust gehabt hätte, die Basteleien gleich beim Lesen direkt mitzumachen. Da sind wir beim Aspekt des direkten Mittuns, was bei Ann Cottens Text ein großes Stichwort ist. Zunächst könnte ich sagen, was bei Egger bei “Mittun” das Mitbasteln der Faltungen, Flechtungen, Klebereien wäre, ist bei Ann Cottens Text das sehr penible Mittun, also Mitdenken, der Windungen und Gänge der Gedanken selbst. Da fällt mir auch Monika Rincks Aufsatz wieder ein: Zu ihm schrieb ich, dass ich ihn verstünde, solange ich ihn läse, aber sofort nach dem Lesen alles Verstandene wieder vergessen hätte. Das ist auch so ein Mittun. Aber bei Rinck werde ich zu diesem Mittun eher eingeladen - und ich kann auch jederzeit wieder raus aus dem Text und es ist nicht schlimm, wenn das passiert. Während ich mich bei dem Beitrag von Ann Cotten auf eine Weise gezwungen fühle, im Lesen alles genau so zu denken, wie es da steht, und zwar ohne einmal das Lesen absetzen zu dürfen. Der Text ist wie ein Strudel, der mich von außen hineinzieht, aber dann merke ich, innen ist alles extrem labyrinthisch, mit x Unter- und Nebenstrudeln - nicht ohne System eben, aber sehr verschachtelt. Der Satzbau spiegelt das ja auch wieder. Stünden die Sätze nicht wie üblich alle nacheinander in einem Block, sondern in der Form eines Labyrinths, müsste ich ja das Buch beim Lesen immer in die entsprechende Richtung drehen. So fühle ich mich hier. Ich kann in diesem Strudel-Labyrinth keine anderen Bewegungen machen als die, die der Strudel in seinen Labyrinthen macht. Mein Denken muss selber so ein Labyrinthstrudel werden. Das gibt dann ein Problem, wenn ich nicht mehr weiß, worum es eigentlich geht. Wie beim Tanzen, wenn man eine Bewegungsfolge noch nicht verinnerlicht hat und sie einfach nachtanzt, indem man auf den/die Tänzer/in vor einem schaut.

Mir gefallen immer dann Passagen sehr gut, wenn solche witzigen Veranschaulichungen wie die mit Akkordeon und Regenwurm vorkommen. Ich kann abstrakte Gedanken mit konkreten Vorstellungen verbinden, die auch noch - na eben, witzig sind. Es gibt einmal eine Passage, keine Ahnung, worum es genau geht - Verbesserungen, Korrekturen, und dass man mit dem Verbessern irgendwann einfach aufhören muss (ich weiß nicht, was genau korrigiert und verbessert werden soll, ich glaube, das eigene Denken, der eigene Charakter, das eigene Wesen, die eigenen Kunstwerke...). Dazu gibt es als Referenz das Beispiel, wie man “versucht, einen Vollmond aus Papier auszuschneiden”. Man kriegt das ja niemals ganz korrekt hin und schnippelt am Ende den Mond noch komplett weg. Deswegen muss man vorher von sich aus aufhören mit der Korrektur. Das finde ich sofort einleuchtend, und es baut sich etwas Ahnung auf.

Noch ein Tanzvergleich: Ann Cottens Aufsatz funktioniert in etwa so, als würde ich ein Tanzstück zeigen, das die Zuschauer nur erleben, wahrnehmen, verstehen können, wenn sie zugleich die Parts aller Tänzer/innen mittanzen.

Es gibt ja auch tatsächlich diese Bestrebungen im Tanz: Verstehen des Wesens des Tanzes durch Mitmachen. Mitmach-Nachmittage, wo alle eingeladen sind, auf der Probebühne der Oper die Choreografie der neuesten Inszenierung von Schwanensee nachzutanzen (Achtung, Folgendes käme jetzt eigentlich als Fußnote: Bei Pina Bausch war es noch ein anderer, nicht ausschließlich vermittelnder Aspekt, weswegen sie “Kontakthof” erst mit älteren Menschen, dann mit Schülern und Schülerinnen einstudierte, der Aspekt hieß: Revolution.) Bei Cottens Text und seinem Mitdenk-Zwang sehe ich durchaus auch so eine vermittelnde Funktion, oder den Willen dazu. Aber der Anteil der Vermittlung müsste stärker werden, da müssten vielleicht Abstriche gemacht werden bei der Strenge, der Rigidität, die ich zwar auch sehr bewundere, aber sie ebenso als hinderlich empfinde, wenn es darum geht - als Unerfahrene - etwas zu lernen.

So las ich Ann Cottens Beitrag irgendwie gebannt, wie ich ihn gleichzeitig am liebsten fluchend zur Seite legen wollte. Ich will ja mitdenken! Aber ich bin doch nicht Ann Cotten. Verstanden habe ich nur ganz wenig, das dann aber sehr genau und gut. Das ist schon nicht schlecht. Mich würde interessieren, lieber Jan, ob dir das anders ging? Es geht ja z.B. auch recht viel um Hegel, und da du dich da auskennst, vielleicht musstest du nicht so sehr in diesen Strudel rein, sondern hattest eine Distanz von vornherein, die dich schützt?


Liebe Martina,

mir ging es ganz ähnlich, nur dass ich einen akademisch verursachten Klumpfuß mit mir herumschleppe und deshalb den Bewegungen des Textes nicht ganz folgen konnte, oder sagen wir, ich konnte mich dem Text nicht so öffnen, wie es vielleicht von Nöten gewesen wäre. Er ist doch sehr sprunghaft. Das heißt nicht, dass ich es nicht weiter versuche, Hegel habe ich während meines Studiums passagenweise abgeschrieben, um ihn zu verstehen. Cottens Darbietung ist über weite Teile doch ziemlich polemisch, wie wir es von ihr gewohnt sind. Aber das macht mir eigentlich nichts aus. Man muss sich halt in die Lage versetzen, die Polemik zu verstehen, das heißt wohl von der eigenen Befindlichkeit etwas abzurücken. Das verlangt Übung. Da halte ich deine Methode, Bewegungen im Text nachzugehen, für äußerst hilfreich. Nur eben besagter Klumpfuß hindert mich ein wenig daran. Und ich muss eine Rückwärtsbewegung in einen Hegelianismus vollziehen, den ich für mich überwunden glaubte: “Aber ich fasse auch Wirklichkeit natürlich so weit, und noch ein bisschen weiter, Kunst ist eine Kategorie von Wirklichkeit, Wirklichkeit mit schaffendem Subjekt oder schaffender Subjektivität, welcher tierisch-traumhaften Art auch immer.” Dieser Satz lässt mich stocken, aber er ist mir in seiner Euphorie auch sympathisch.


Lieber Jan,

ja, das sind die Passagen, die ich auch (trotzdem) gern las. Da gibts weiter unten die Stelle, wo es heißt: “Kritisiert man aber die Natur dann, als ob sie das Werk von jemandem wäre? ‘Diese Bäume sind zu hoch!’ An wen richtet sich die Klage?” Diese Absätze mochte ich, auch ohne den Zusammenhang zu kennen. Denn auch hier wieder wuchs so was wie Ahnung. Aber ich wollte noch schreiben - da wirs ja neulich mit Dialogen hatten -  dass Ann Cottens Aufsatz mit einem Dialog endet. Auch das kein Theaterdialog (siehe Teil 5), aber ich kann ihn gut und gern als solchen lesen. Den Dialog könnte man glatt spielen. Er fängt an mit einem Streit darüber, dass jemand in der Kniekehle schwitzt, bzw. - nein: Eine Person sagt der anderen, sie schwitzte in der Kniekehle, und fordert sie auf, da hinzuzeigen. Die betreffende Person sagt aber, nein, wieso, ich bin ja da und schwitze in der Kniekehle, ich muss nicht auch noch hinzeigen. Und dann gehts so weiter, es ist toll. Mir hätte dieser Dialog fast schon genügt.


Weiter zu Teil 7

(Armen Avanessian, Anke Hennig, Steffen Popp:) Poesie und Begriff. Positionen zeitgenössischer Dichtung. Mit Beiträgen von Ann Cotten, Franz Josef Czernin, Oswald Egger, Elke Erb, Daniel Falb, Steffen Popp, Monika Rinck und Ulf Stolterfoht. Zürich (diaphanes Verlag) 2014. 198 Seiten. 24,95 Euro.

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