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Poesie und Begriff, Teil 7

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Martina Hefter,
Jan Kuhlbrodt


Poesie und Begriff – Selbstversuch, Teil 7



Lieber Jan,

auf zum Endspurt, nur noch zwei Texte - oder muss ich sagen, leider nur noch zwei Texte? Denn ich bin gerade erst warm geworden und könnte jetzt ewig weitermachen.
Heute ist dran: Ulf Stolterfohts Beitrag “A Young Person’s Guide to Oscar Pastior”, dazu steht gleich als Fußnote, dass es sich dabei um Bearbeitungen von Vorträgen handelt, die Ulf Stolterfoht in Hildesheim und Utrecht gehalten hat, 2009 und 2013.
Der Text ist stellenweise erzählerisch, oder vielleicht auch: anekdotisch, und da gefällt mir, dass diese Passagen nie Stolterfoht selbst in den Mittelpunkt stellen. Der Text beginnt mit Stolterfohts ersten Lektürerfahrungen, wie er über Jack Kerouac zu Oskar Pastior findet - grob gesagt. Das Ganze ist so nachvollziehbar (obwohl ich als Fünfzehnjährige hauptsächlich die Schauerroman-Serie “Romantic Thriller” las und Kerouac überhaupt nicht kannte) wie witzig geschrieben, es macht - Entschuldigung, einfach Spaß, es zu lesen. Es folgt ein ziemlich langer Teil, in dem es um Pastiors Gedicht “Klumpatsch” geht, das, wie viele weitere Gedichte Pastiors, auch abgedruckt ist, ein wirklich fabelhaftes Gedicht.

Interessant, dass Stolterfoht zunächst einen zehn Jahre alten Kommentar dazu vorstellt, den er für eine Radiosendung schrieb. Er findet diesen Kommentar jetzt nicht mehr so gelungen, und ich hätte selbst auch ein paar Kritikpunkte - die sich aber, glaub ich, mit denen von U.S. nicht decken. Ich fand, der Kommentar war stellenweise ein bisschen bildungsprahlerisch. Immer dann, wenn er ein wenig augenzwinkernd mit Anspielungen hantierte, die nicht jede/r Leser/in verstehen kann, weil er/sie die entsprechenden Kenntnisse nicht hat. Es geht mir nicht darum, dass man nicht Bildung mit in seine Äußerungen nehmen soll, denn als Leserin kann ich ja jederzeit auch nachschlagen (und, achtung, achtung, ich hatte auch Latein in der Schule, gehe also nicht nur von mir allein aus).

Was mir an dem alten Kommentar nicht gefällt, ist eben dieser stellenweise augenzwinkernde, auf Verständigung mit einer bestimmten Zielgruppe von Lesern ausgerichtete Ton. Das ist vielleicht dem Medium geschuldet, in dem der Kommentar ja veröffentlicht wurde, eine Radiosendung, die sicher nur ganz bestimmte Leute hören.
Aber - es ist ja ein zehn Jahre alter Kommentar, wir müssen uns damit nicht länger aufhalten, vor allem, weil der restliche, also aktuelle Beitragsteil so überhaupt nicht mehr beschaffen ist.

In der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Klumpatsch-Gedicht und dann vielen anderen Gedichten Pastiors geht es um so einiges. Zuerst auch um formale Angelegenheiten (Verse oder Sätze?), und dann, puh, kommt dieser große Batzen, an dem sich anscheinend viele Dichter/innen abarbeiten, und den ich nur ganz naiv benennen kann, weil ich die Thematik nicht wirklich durchdringe: Ist erst Sprache, sind erst Wörter da, und dann die Dinge (also die Welt?), oder sind erst die Dinge da, denen man dann die Wörter zuordnet, so ungefähr. Es hört sich etwas respektlos an, wie ich es hier wiedergebe, soll es gar nicht sein! Denn ich fand, alle diese Überlegungen gerade anhand eines Gedichts nachzuvollziehen, sehr lohnenswert und eben: interessant. Es führte bei mir sogar zu ganz vielen Überlegungen, die aber von Gedichten weg gingen und natürlich (und das sehr amateurhaft) zum Tanzen wanderten. Zum Beispiel dachte ich darüber nach, dass es im klassischen Ballett Namen für alle Schritte und Bewegungen gibt, im zeitgenössischen Tanz aber kaum. Der aber ist ja trotzdem da, ich bekomme ja höchst spürbar die einzelnen Bewegungen und Schritte mit, wenn ich sie mache - obwohl sie keine Bezeichnungen haben. Außerdem dachte ich darüber nach, dass ich, wenn ich eine klassische Sequenz nachtanze, oft die Bezeichnungen für die Schritte in Gedanken mitspreche, z.B. Tombée - Pas de Bourée - Glissade - Grand Pas de Chat. Es wird einem (wenn man die Folge lernt) sogar oft dazu geraten, die Bezeichnungen mitzusprechen, weil man sich die Folge besser merken kann, denn lustigerweise entsprechen die Namen rhythmisch oft der Bewegung. Während im zeitgen. Tanz man allenfalls in Lauten mitdenkt, welche Dynamik und Ausmaß die Bewegung kennzeichnen, man macht (nur in Gedanken) z.B. rambambaaaam, oder so. Oft aber überlässt man sich einfach der Bewegung. Und: Tanzen lernen geschieht zwar auch unter Zuhilfenahme von Wörtern, einer Sprache aus Wörtern, aber man könnte es auch völlig nonverbal lernen, darüber dachte ich auch noch viel nach.

Aber das führt zu weit weg! Und ist wahrscheinlich auch sehr amateurmäßig-unbedarft. Aber es ist doch gut, dass ich überhaupt nachdenke, und das zeigt, dass das Buch, und hier Ulf Stolterfohts Aufsatz, durchaus Wirkungen haben (wenn auch vielleicht solche, von denen die Herausgeber und Autorinnen (m/w) des Buchs etwas überrascht sein könnten, hi hi.)

Aber ich bin durch diese Art des Nachdenkens nun komplett alle, weswegen ich erst mal dir das Feld überlasse, lieber Jan, bevor ich später weiterschreibe über den Stolterfoht-Text.


Liebe Martina,

ich muss ja gestehen, dass ich Kerouac zweimal mit nach Bulgarien und wieder zurück geschleppt habe, mit 17 und mit 18 und auf diesen Trampreisen nicht über Seite 30 hinausgekommen bin. Nach der 2. Reise wartete dann auf mich nicht etwa Pastior, auch wenn ich sein Geburtsland durchquerte, dessen Zöllner mich nach Waffen und Bibeln durchsuchten, sondern die Nationale Volksarmee. Stolterfohts sprachphilosophische Überlegungen wären mir also in jeder Hinsicht fremd gewesen, aber ich glaube, hätte es Holzrauch über Heslach damals schon gegeben, es hätte mir sehr gefallen. Überhaupt kam ich auf einem langen Weg eben über Lyrik auch erst in Kontakt zur Sprachphilosophie. Anfang der Neunziger hörte ich glücklicherweise in Frankfurt Pastiors Poetikvorlesungen. Aber wir wollen ja nicht von mir sprechen. Nur denke ich, man sieht an Ulfs Texten, wie unsere Denkbahnen von biografischen Stationen beeinflusst sind. Dennoch finde ich es treffend, wenn du bemerkst, dass Ulfs Text an vielen Stellen, fast an jeder, diesen individuellen Erlebnisrahmen übersteigt, und sich auf ein Allgemeines bezieht. Um das Vermögen, so etwas zu bauen, beneide ich den Kerl. Für mich hat der Text darüber hinaus noch etwas Feierliches, auch wenn ich das nicht näher bezeichnen kann. Vielleicht liegt es daran, dass er mir altem, aber nicht eingeschworenem Realisten zeigt, was möglich ist, wenn man die Worte aus ihrem Sinnknast entlässt, sie also über etwas anderes sprechen lässt, als das, was ihnen im “Normalsprachlichen” anlastet. Das ist ein Vermögen, das ich nur bewundern kann. Und ich bewundere es aus einer gewissen Ferne, wie ich auch deine Arbeiten (z.B.) aus einer Ferne heraus bewundere. Einfach dafür, dass sie mir etwas vermitteln, was ich selbst nicht herausbekäme, aber sie mich auch nicht zwingen, so wie sie zu werden. Das zeigt mir der Text von Ulf eben. Ich kann ihn verstehen, muss mich aber nicht angleichen, muss nicht Ulf werden, oder Pastior. Der Text verlangt Freiheit, auch Freiheit von ihm selbst. Und deshalb habe ich auch Kerouac damals nicht weiter gelesen, wahrscheinlich, weil ich versuchte, Kerouac zu sein. Ich sollte es noch einmal versuchen.


Lieber Jan,

aber das ist doch genau das, was (für mich) gelungene Dichtung, überhaupt gelungene Kunst ausmacht: Dass man trotzdem bei seiner Herangehensweise bleibt. Die anderen jedoch im Kopf hat, ohne sie anzuwenden. Sehr schnell ausgedrückt. Ich fände es komisch, wenn ich plötzlich so wie Ulf Stolterfoht schreiben würde, nur weil mir seine Gedichtarbeiten gefallen.
Aber zurück zu seinem Beitrag. Ich muss nochmal auf die eingeschobenen Anekdoten zurück kommen - zum Beispiel die von Pastiors Lesungskalender, der anscheinend voll war mit dicken roten Punkten, die in jenem Jahr die möglichen Fußballspiel-Termine der deutschen Elf zu einer WM oder EM zeigten - und an denen Pastior wohl nicht so gern zu Lesungen bereit war. Man könnte jetzt sagen, dass es für die eher theoretischen Teile des Textes nicht von Belang wäre, aber das stimmt für mich nicht. Ich fand es sehr schön, so eine Art persönliches Bild von Pastior zu bekommen, um dessen Gedichte es hier ja hauptsächlich geht, es machte meine eigene Wahrnehmung weiter. Und es lockerte auch die Konzentration kurz auf.

Aber die Anekdote leitet auch über zu dem Aspekt des Lesens, also Vorlesens, dem ganzen Komplex, um den es im Anschluss dann geht: Publikum, Stimme, Vortrag, “Live” vs. “gedruckt”, Zuhören, Improvisieren, u.v.m.

Das interessiert mich sehr, gerade auch, wenn ich von tänzerischer oder performance-künstlerischer Seite darüber nachdenke. Z.B. jener Absatz, in dem der Satz steht:

“Man hat die Texte vor sich liegen, man muss sie nicht mehr schreiben, man hat sie schon geschrieben, aber das Gelingen hängt jetzt davon ab, dass man sie im Vorlesen, und zwar gerade für sich selbst, noch einmal neu macht, tatsächlich neu schafft, nicht um sich deutlich zu machen, worum es damals beim Schreiben ging, sondern darum, worum es JETZT gehen könnte - und im besten Fall dann tatsächlich geht!”

Ist das nicht bestens auf den Punkt gebracht? Ach, ich schreibe hier gar nicht mehr weiter, das Zitat hört sich an wie ein ganz tolles Schlusswort zu Ulf Stolterfohts Text. Deswegen, bis demnächst, lieber Jan, wir hören voneinander.


Weiter zu Teil 8

(Armen Avanessian, Anke Hennig, Steffen Popp:) Poesie und Begriff. Positionen zeitgenössischer Dichtung. Mit Beiträgen von Ann Cotten, Franz Josef Czernin, Oswald Egger, Elke Erb, Daniel Falb, Steffen Popp, Monika Rinck und Ulf Stolterfoht. Zürich (diaphanes Verlag) 2014. 198 Seiten. 24,95 Euro.

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