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Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat

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Physik und Metapher

Jan Kuhlbrodt


Es hatte einen besonderen Effekt, in diesem sonnendurchfluteten Sommer ein Buch über das Grau zu lesen, eine Himmelsfarbe, die in diesen Monaten vollkommen abwesend war. Keine Wolken, kein Nebel, und die Farben verblassten in der Hitze, wurden pastellig. Selbst das Azur des Himmels erschien mir mit der Zeit zunehmend merkwürdig dumpf.
    Die Masse des schönen Wetters erzeugte Überdruß, da sind die Klimaschäden, ausgetrockneten Flüsse, Waldbrände und Ernteausfälle noch gar nicht erwähnt.
          Als ich die letzten Seiten des Buches las, schoben sich endlich Wolken vor die scheinbar immerwährende Sonne.

Aber es handelt sich hier nicht um ein Buch über den Klimawandel, keine Warnung vor dem nahenden Weltuntergang, dennoch ist es unterschwellig ein politisches Buch, eine Art konservatives Statement.

„Die polychrome Idylle trügt; die zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät.“

So steht es im Prolog zu Peter Slotterdijks: „Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre“.

Natürlich löste das Wort Farbenlehre im Untertitel sofort eine Art Anziehung auf mich aus, weil es Goethe aufruft und seinen Versuch, der physikalischen Farbtheorie Newtons trotzig empi-ristisch zu begegnen; entstanden ist dabei ein Text, in dem ich immer wieder lese, weil er vielleicht keine physikalischen, aber doch ästhetische psychologische Wahrheiten birgt; und Goethe selbst soll in ihm eines seiner Hauptwerke gesehen haben. Im Buch über Grau klingt es als eine Art Echo immer wieder an.

Sloterdijk reduziert das Thema aber vom gesamten Farben-spektrum auf das Grau, das darin ja auch eigentlich nicht vorkommt, das aber, je weiter man sich in und durch das Buch begibt eine Art Gegenwelt zur Farbigkeit darstellt, die nicht weniger schillernd ist. Grauschillernd. In Bezug auf Fotografie und Film legt es dar, dass im so genannten Schwarz-Weiß reines Schwarz oder Weiß gar nicht vorkommt, sondern vielmehr die Graustufen die Struktur des Sichtbaren bestimmen.

Der Titel des Buches, das natürlich auch kein meteorologisches ist, wandelt ein Zitat des Malers Cézanne ab; „wonach kein Maler sei, wer noch kein grau gemalt habe.“ Gegen Ende führt Sloterdijk Philosophie und Malerei eng, zumindest am Beispiel der Zeitgenossen Nietzsche und Cézanne.

„Nietzsche und Cézanne verbinden mit dem Grau wie mit der Farbigkeit im ganzen erkenntnistheoretische Fragen; und wie Nietzsche, wenn er sagt, 'meine Farben sind Gesänge' , nicht nur an Synästhesien denkt, die den Artisten faszinieren, sondern an das Färben aller Dinge als ursprüngliche weltbildende Tätigkeit..., so ist Cézanne fortwährend in Versuche vertieft, mit malerischen Mitteln, die Wahrheit über Dinge zu sagen, ,...“

In vier Kapiteln und vier Zwischenbetrachtungen, die Sloterdijk Degressionen nennt, geht der Autor den Spuren und Anwesenheiten des Graus in Geschichte, Philosophie, Mythologie, Politik und Kunst nach, wobei die Grenzen der Gegenstandsbereiche wie die Graustufen auf einer Schwarzweiß-Fotografie eben nicht scharf abzugrenzen sind, sie gehen momentweise ineinander über.

Das erste Kapitel „Platons Gegräu“ spannt einen Schirm von Platon über Hegel bis Heidegger, in dessen Schatten die Grenzen Kontur gewinnen sollen. Sloterdijk entwirft so gewissermaßen eine europäische Philosophiegeschichte; die naturgemäß mit dem Höhlengleichnis Platons und dessen Schattenspiel einsetzt, in deren Zentrum aber weniger ein zunehmendes Licht, als vielmehr eine wachsende Anzahl von Schatten in ihrer Differenz sich gegenseitig belagern und in Heideggers Schattendenken kulminieren.

„Wenn hier darauf beharrt wird, Heidegger als den Maßgeblichen Philosophischen Interpreten der Grautöne herauszustellen, so weil er, ohne den Farbwert direkt anzusprechen, dessen Feinabstufungen ausführlicher, präziser, nuancierter und geduldiger durchdachte als jeder Denker vor ihm, mit gleichsam weltmönchischer Beharrlichkeit, einem Cézanne der gedanklichen Welt vergleichbar.“

Interessant ist, wie Sloterdijk Momente der politischen Geschichte anklingen lässt in dem er Buchtitel, die für bestimmte Bewegungen emblematisch waren, als literarische Echos aufruft. Ich kann mich noch sehr genau erinnern, wie mir im sogenannten marxistisch-leninistischen Grundstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig Lenins Schrift von 1913 „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ geradezu als Offenbarung präsentiert werden sollte. Lenin versuchte darzulegen, wie in Marxens Lehre klassische Nationalökonomie, deutsche idealistische Philosophie und Sozialismus zum Ende und vor allem zu ihrer Erfüllung kommen. Von mir wurde verlangt, diese Schrift in einem irgendwie heiligen Ernst zu betrachten, was mir angesichts des in den letzten Zügen liegenden sozialistischen Gemeinwesens zunehmend schwerfiel. Lenins Schrift enthält auch einen Satz, der im Foyer der Schule, an der ich mein Abitur ablegte, an die Wand geschrieben stand: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Hier kippt doch die ganze leninistische Theorie ins Pseudoreligiöse.

Sloterdijk adaptiert zwar nicht Lenins Schrift, aber er nimmt ihren Titel auf, um ihm mit politischen Farbspielen und dann historischen Turbulenzen um graue Eminenzen, Kardinäle also, die im Hintergrund die Fäden spinnen, kurzzuschließen. Daraus entwickelt er auch einen Moment, den auch das Alltagsbewusstsein mit der Farbe Grau in Beziehung setzt, und deren Gang er von Richelieu in die Gegenwart nachzeichnet, und er verweist auf politische Fadenzieher der Gegenwart, die hinter den von der Bevölkerung gewählten Vertretern operieren.

„Auch in demokratischen Räumen und Zeiten erweisen sich die grauen Eminenzen als gleichsam tonisierende Faktoren des Politischen Betriebs.“

Auch bezüglich von Religion und Kunst ruft Sloterdijk eine Reihe von Schriften auf, die Naheliegendes sowie Exotisches bergen. Allein die Beschäftigung mit Mani und dessen Glaubenslehre erforderte mindestens einen weiteren Text, da er ein fast labyrinthisches Gedankengewölbe eröffnet:

„Der Manichäismus war die subtilste der spätantiken Religionen, die den Gleichklang der griechischen Worte, pashein, leiden, und mathein, wissen, auszuschöpfen versuchten; ...“

In vertraute Gewässer begebe ich mich dann wieder, wenn Sloterdijk längere Passagen aus Durs Grünbeins lyrischem Debüt „Grauzone morgens“ zitiert, jenem Lyrikband, der 1988 bei Suhrkamp erschien, und das graue Gefühl meiner Generation kurz vor dem Ende der DDR treffsicher zum Ausdruck brachte:

„Etwas das zählt (gleich am Morgen, ist
           dieser träge zu dir
herüberspringende Chromblitz eines
                                              Motorrads. Der Sommer.
...-“

Sloterdijks Buch jedenfalls ist ein mäandernder Gang durch Kunst, Philosophie und Geschichte, mit naturgemäß Dantesken Referenzen. Als Begleiter gerate ich hin und wieder ins Stolpern, werde aber vom Sog aus Wissensdurst und Interesse aufgefangen und weitergezogen.


Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2022. 286 Seiten. 28,00 Euro.


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