Nikolai Vogel: fragmente zu einem langgedicht, 1 - 101
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									Foto: Silke Markefka,
							VG Bild Kunst
								Nikolai Vogel
						
						fragmente zu einem langgedicht, 1 - 101
						
						eine Wiese wie mit Sommersprossen, lauter kleine gelbe
						Blüten darauf
						
						der Arno-Schmidt-Sound, der Friederike-Mayröcker-Sound, der
						Peter-Kurzeck-Sound, der Thomas-Bernhard-Sound, der Rolf-Dieter-Brinkmann-Sound
						
						auf Kronenkorken müsste man auch Pfand verlangen
						
						die Elstern im Hof bringen ihr Nest in Ordnung
						
						neues Jahr, wieder Frühling, wieder Brut
						
						der blaue Himmel und ein Flugzeug, das in einem vorigen
						Jahrhundert nicht da war
						
						dass Tee oft nervös macht, als würde Zeit sichtbar
						
						die Leitungen, durch die unsere Wohnungen verbunden sind
						
						die Zustände des Wassers
						
						grüner Tee, schwarzer Tee, weißer Tee
						
						Ziehzeiten, Härtegrade, Milch, die aufsteigt wie Wolken
						
						was ist das eigentlich, was wir tun, schreiben
						
						und so viele Menschen haben schon Geschichte geschrieben
						
						das heißt fast immer, anderen etwas angetan
						
						so viele Namen
						
						die ich hier nicht aufzählen will
						
						Vorhaben, die man auf später verschiebt
						
						Wünsche, die wieder wegtrocknen
						
						das Leben andauernd in der Vergangenheit
						
						und in der Erwartung
						
						welcher Erwartung
						
						die unverhofften Momente
						
						und manchmal ist die Luft so neu
						
						hat sie noch niemand eingeatmet
						
						und hat nur ein paar Tage in der Erinnerung, und wo sind die
						anderen hin
						
						abgeschnitten von der Nabelschnur
						
						wie Schnittblumen
						
						und Luftholen ständig
						
						die Frage »kannst du davon leben«
						
						als wäre sie ein Verhör
						
						kleine Stiche, Sticheleien, immer wieder Welt des Geldes
						
						die Zeit, die bleibt
						
						und früher gab es kein Fernsehen
						
						auch nicht die Gesichter von Toten überall
						
						»Tina oder über die Unsterblichkeit«
						
						Underground, bald sind alles Zitate
						
						wir werden die Sprache nie lernen
						
						die Rasiermesser gewetzt
						
						die Erde untertan und geht darüber zu Grunde
						
						der Mensch, als würde er vom All aus zusehen
						
						wie er doch nur um sich kreist
						
						was verbindet uns mit den früheren Generationen
						
						die Nabelschnur so oft schon durchtrennt
						
						das Ei des Kolumbus
						
						Entdecker und die Welt wird doch kleiner
						
						all die Wörter mit Hashtag davor
						
						die Sprache Container für Selbstgefälligkeiten
						
						Geburtstagsgratulationen und das Geschenk der
						automatisierten Aufmerksamkeit
						
						ein soufflierter Tagesablauf
						
						wissen wir sonst nicht weiter
						
						haben wir jemals weiter gewusst
						
						fragen wollen wir ja auch niemanden
						
						und wen könnten wir
						
						haben uns alle schon verlassen
						
						die Gegenwart ist nur kurz bei uns und zieht dann weiter
						
						dann, wenn wir irgendwann in der Vergangenheit bleiben
						
						aber unser Gesicht schaut vielleicht noch heraus
						
						für eine Weile nur
						
						auch wenn es bald niemanden mehr etwas angeht
						
						das Leben eine große ungeordnete Aufzählung
						
						nicht übertragbar auf ein Stückchen Papier
						
						nur Anhaltspunkte, Stichwortgeber
						
						und einen Halt finden, der gleichzeitig Ausblick ist
						
						oder das Messen des eigenen Pulses
						
						der steigende und fallende Blutdruck
						
						die Fieberkurven der Angst
						
						und woher einen kühlen Kopf bewahren
						
						am Leben sein heißt doch auch
						
						dass ständig alles schief gehen kann
						
						das kommt zum ganzen Glück noch dazu
						
						die Schulbusfensterscheiben beschlagen
						
						und Kinderfinger malen Linien, die sich füllen und wieder
						verschwinden
						
						wann war das, wie lange ist das her
						
						die gewonnenen und verlorenen Spiele
						
						Samuel Beckett, Max Beckmann
						
						aus dem Warten geborgen, die Flucht
						
						die Kriegsgebiete in alle Richtungen
						
						und ständig werden neue Waffen verschifft
						
						als ginge es der Welt um Leichenteile
						
						im Frühling die Triebe
						
						ein Greis im Rollstuhl unter der Sonne
						
						die Gespräche von Liebenden
						
						ausgebreitete Picknickdecken
						
						Parklücken, die zugepflasterten Städte
						
						Erfindung des Rads
						
						es hätte doch auch etwas anderes
						
						und seitdem rollen wir
						
						ein Schritt nach dem anderen
						
						die tief eingegrabenen Sprichwörter
						
						als wären wir ihr Wirt
						
						was ist sonst noch da
						
						der Tisch, der Stuhl, das Buch
						
						der Baum vor dem Balkon
						
						nur die Ruhe fehlt oder eine Langeweile hat sich ausgedehnt
						
						der Raum im Kopf hat eine eigene Zeit
						
						und im Schlaf eine andere
						
						in die wir uns zurückziehen, um zu überleben
						
						oder tanzen wir auf mehreren Hochzeiten
						
						hellwach frühmorgens, Erddrehung
						
						die Tag- und Nachtgrenze, Grenze, Übertritt
						
						verschiebt sich dauernd alles
						
						Auszug: Die ersten 101 Verse von ingesamt 2520
						
						In: Nikolai Vogel: fragmente zu einem langgedicht.
						Frankfurt am Main (gutleut Verlag), 2019. 92 Seiten, 21,00 Euro.
Rezension von Jan Kuhlbrodt »
 
 
