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Nikolai Vogel: fragmente zu einem langgedicht

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Jan Kuhlbrodt

Nikolai Vogel: fragmente zu einem langgedicht. Frankfurt a.M. (gutleut Verlag – reihe licht) 2019. 92 Seiten. 21,00 Euro.

Zu Nikolai Vogel: Fragmente zu einem Langgedicht


Letzten Herbst sind im Frankfurter Gutleut Verlag zwei Bücher erschienen, die jene Leser in gute Laune versetzen, denen ein Gedicht nicht lang genug sein kann, die also Texte lieben, denen das vergebliche Ansinnen vorausging, die Welt als ganze zu fassen. Und weil sie um ihre Vergeblichkeit wissen, versuchen sie jene zumindest erstrahlen zu lassen, indem sie sie einräumen. Deshalb scheint es naheliegend, dass Nikolai Vogels Gedicht die „reihe licht“ im genannten Verlag ergänzt, in einer Aufmachung, die das experimentell fragmentarische des Textes unterstreicht. Bürokarton, in übersichtlich dezent farbiger Kästcheneinteilung, covert den Text Vogels.
(Über Terje Dragseths „Bella Blu“ erschienen in der Reihe Staben wird noch zu berichten sein.)

halten wir Kurs, oder wird der Seegang zu hoch
...
und die Rückseiten der Dinge, drehst du sie um
Fassaden, Kulissen, Schalter und Tresen    

Vor einiger Zeit habe ich auf dieser Seite einen Essay veröffentlicht, der „Das lange Gedicht und die Raumfahrt“ hieß. Im Grunde ging es darum, dass das lange Gedicht dem Reisegedicht entspringt und je nach technischem Vermögen der Menschen sich von küstennahen Gestaden hinaus in die Ferne bewegte, der Krümmung der Meeresoberfläche gefolgt war, sich aber von der Oberfläche löste und durch den Himmel hindurch ins All vorstieß. Das Gedicht folgte wie die Sehnsucht und das technische Vermögen dem Blick. Nun finden wir uns in der paradoxen Situation, dass wir, wenn wir in das Weltall schauen, etwas Vergangenes betrachten, das das Licht, das unser Auge erreicht und unseren Sehnerv reizt, vielleicht schon Jahrtausende unterwegs war, um nun eine Information über etwas zu vermitteln, das vielleicht schon längst vergangen ist.

das Universum eine Romanze, der Kosmos ein Zwang
schau doch hoch nachts, schau zurück in die Zeit
so ungeordnet zuverlässig vermessen
hat da wer auf den Putz gehaut
so richtig unter Druck, und ist schon eine Weile her
oder sehen so Ideen aus, während sie verwirklicht werden
Giordano Bruno hat gebrannt und Galileo Galilei fast auch
die Erde war unverrückbar und über ihr thronte Gott
jetzt ist er entfernt oder ein großes Rätsel
              
Das sind die Verse 0644 bis 0652 aus Nikolai Vogels „fragmente zu einem langgedicht“. Der Text hat insgesamt 2520 Verse und beginnt, wie er endet, mit Wiesenblumen, mit dem also, was den meisten Stadtbewohnern Natur ist. Zwischen diesen Blumen verhandelt er alles, und wenn ich hier „alles“ schreibe, dann meine ich das Ganze der Welt, und zwar in historischer, physkalischer und ethischer Hinsicht.  Da dem Blick und der Betrachtung notwendig so einiges entgeht, bleibt der Text eben Fragment.  Er operiert natürlich in ebendiesem Bewusstsein, dass wiewohl er alles will, nicht alles haben kann. Und dieses Bewusstsein versetzt ihn in die Lage, eher assoziativ durch die Welt zu hüpfen, und das Gängelband einer Systematik schleifen zu lassen.

Natürlich beruft er sich auf Vorbilder, die den großen Wurf wagten, und unvollständig bleiben mussten wie etwa Whitman. Doch scheint der Kontakt auch für den Moment einschüchternd zu sein:

Einsiedler Aussteiger, Monte Veritá, „Walden“
Walt Whithmans „Grasblätter“, Allan Ginsbergs „Geheul“
war doch eben noch am Fluss guter Dinge
und jetzt, als erwarte ich schlechte Nachricht …

Aber das sind momentane Eintrübungen, die dem Textschiff den Wind nicht aus den Segeln nehmen. Und es ist ja auch nicht so, dass Autor und Text sich dem Schlechten, dem Misslungenen in der Welt verschließen würden. Zuweilen fährt der Text zu einem Zornesausbruch auf oder nimmt sich in Klage zurück. Und er verweist auf die Hybris menschlichen Tuns im Horrorstreifen Geschichte.

wo die Schöpfung sich vertippt hat, schreiben wir neu, ist alles Collage
die Evolution nehmen wir selbst in die Hand
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