Nico Bleutge: verdecktes gelände
Jayne-Ann Igel
Wenn Schatten über Schatten wandern
Anmerkungen zu Nico Bleutges „verdecktes gelände“
Es sind zersiedelte Kulturlandschaften, denen zumeist ein morbider Charakter eigen, durch die das dichterische Ich in Nico Bleutges neuem Gedichtband „verdecktes gelände“ streift. Die Übergänge zwischen den Natur- und Siedlungsräumen scheinen fließend, wobei ob der vielen Überformungen kaum noch zu unterscheiden ist, was ursprünglich oder natürlich, und wo Mensch vielleicht bereits vor Zeiten Hand angelegt. Und damit sind wir schon bei dem Besonderen dieses Bandes, der aus fünf Zyklen besteht, deren jeder für sich als Langgedicht gelesen werden kann, zumal die einzelnen Gedichte keine eigenen Titel tragen. Bleutge sondiert hier Schicht für Schicht die Überlagerungen, das unter ihnen Verborgene, erkundet das eine oder andere Gelände, wie es sich gibt, man es an Bahnstrecken oder den Siedlungsrändern finden kann, verwildert, bebaut, vernutzt – Das alles mag einem manchmal als offene Wunde erscheinen, zivilisatorischer Bruch. Der Autor entwickelt eine Sensibilität für diese Dinge, und er setzt sich ins Verhältnis mit ihnen, wendet dann, in der Reflexion, den Blick nach innen.
So läßt sich „verdecktes gelände“ sinnhaft auch als das in Traum und Nacht Verborgene, in den Dingen Aufgespeicherte, latent Wirkende deuten und wird erfahrbar als Gefüge übereinander lagernder Erinnerungs- oder Wahrnehmungsschichten, angesichts derer das dichterische Ich formuliert:
ist das die ferneinstellung
aufs gelände? der versuch, eine landschaft zu finden
auf dem langsamen weg in die luft? bilder, eingerissene
seiten, zeilen, die sich erst im hinterkopf entfalten
[...] (S. 50).
Und gelegentlich scheinen die Bilder, die dabei entstehen, Übermalungen gleich. Wo Traum- und Wachsehen ineinander übergehen, in den Traum, den Schlaf gleiten; das Unter-bewußtsein ganz andere Bilder schafft:
und manchmal, nachts, da geht der atem leise
der körper wach, die augen eingerollt
das schauen mischt sich in die kreise
die noch der schlaf im innern zieht
[...] (S. 40)
Mitunter setzen die Gedichte in einer Tonart an, als handele es sich um den Anfangssatz einer Erzählung:
dämmerung. schwanken. lange schon wies der weg
durch die felder. zweige bewegten sich, regen
strich durch die stirn. das wasser schob sich quer
an den flanken der bäume entlang.
[...] (S. 9)
Das Wasser betreffend ergeben sich für mich Korrespondenzen zu Crauss „Schönheit des Wassers“, einem Gedichtband, den ich vor kurzem an gleicher Stelle besprochen habe. Bei Bleutge erscheint das Wasser als elementarer Bestandteil seiner Bildwelten, in irgendeiner Form ist es immer präsent, und sei es nur als Niederschlag, Feuchte oder Nässe. In einem Gedicht, in dem die verschiedenen Arten von Grau durchgespielt werden, scheint die wasserhaut auf ... Bleutges Stärke ist das Erzeugen einer assoziativen wie atmosphärischen Dichte in den Texten. Da gebiert z.B. das brutzeln vor den händen in einer angenommenen Kleingartenszenerie ein schmorgefühl im rufen über haare, was an den Geruch versengten Haars denken läßt, doch die entpuppen sich schließlich als die versengten felder, über die der Blick am Ende geht (S.29). Worte wie grauwacke und farnkraut erscheinen da auf geheimnisvolle Weise verwandt, auch lautlich. Und wenn von Leuten zu lesen ist, „die mit den broten sprechen“ (S. 28), hat man die Szenerie der Flußangler vor Augen, die Bedingtheit ihres Tuns.
Im titelgebenden Zyklus des Bandes kulminiert das Ganze in einer Archäologie der Risse, des Rostes und Rußes, der An- und Bedeutungen. Das Wahrgenommene, Abgelagerte bildet gleichsam eine Innenlandschaft, ein Pendant zur Außenwelt (feuchte, innere graue flut), ist als solche erfahrbar, als Geschichte, deren Gemengelage erkundet wird, steckend in der Jetzt-Zwinge. Und über dieses begangene Gelände legen sich die Bilder anderer Schichtungen, Bleutge spricht an einer anderen Stelle von innere[r] graue[r] erde und sieht die schatten über schatten wandern.
Es sind die zuweilen spielerisch anmutenden Näherungen, das Spiel mit Assoziationen, visuellen Irritationen, Wiederholungen und Strukturen, die den Reiz der Gedichte ausmachen. Bleutge bedient sich dabei einer Reduktion, die die Gebilde fast skizzenhaft erscheinen lassen. Wortfindungen wie etwa flugfarben, blattwaben oder atemwasser weiten den Wahrnehmungsraum in immer neue Richtungen. Bleutge schließt in der Weise, in der er den Überlagerungen und Rissbildungen nachspürt, auch deren zeitlicher Dimension, unmittelbar an die beiden vorhergehenden Gedichtbände klare konturen und fallstreifen an.
Nico Bleutge hat das Geschick, diese Schichten aufzufächern und dann in einem anderen Licht wieder absinken zu lassen. Bestechend dabei die Dramaturgie, in der zunächst jedes Detail herangezoomt wird, um am Ende in das Erblinden der Spiegel, Oberflächen zu münden. Vielleicht, daß diese weiße undurchsichtige rinde, mit denen sich die Kristalle im letzten Vers des Gedichtbandes überziehen, auch einer Schutzhaut gleicht ...
Dresden, Januar 2014
Nico Bleutge: verdecktes gelände. gedichte. München (Verlag C.H. Beck) 2013. 75 S., 14,95 Euro.