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Nico Bleutge: Den Wiederholungen folgen. Inger Christensens alfabet/alphabet

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Jasmin Wieland

Nico Bleutge: Den Wiederholungen folgen. Inger Christensens alfabet/alphabet. »Zwiesprachen« der Stiftung Lyrik Kabinett München. Heidelberg (Verlag Das Wunderhorn) 2020. 16,00 Euro.

Die Spur der Weltformel suchend

Zwiesprachen. ‚Zwie‘, wie ‚Zwielicht‘ oder ‚Zwiespalt‘. Irgendetwas Geteiltes, doch nichts Halbes, auch nichts Ganzes. Und doch eins. Irgendwie in Relation stehend, eine Verbindung aufweisend. Die seit 2015 erscheinende und von der Stiftung Lyrik Kabinett München herausgegebene Reihe Zwiesprachen, die auf der gleichnamigen Lesereihe beruht, paart bekannte Größen der Lyriktradition mit aktuellen poetischen Stimmen. „Dichter sprechen über Dichter“, so das Credo. Ein Konzept, das nicht weithergeholt erscheint, genauso wenig wie die Tatsache, dass das entstandene Werk der Zwiesprache – in diesem Falle Nico Bleutges Band Den Wiederholungen folgen. Inger Christensens alfabet / alphabet – ebenso poetisch ist, wie der Gegenstand selbst, also die lyrischen Werke, über die referiert wird.

„Ein Booklet gibt es. Ein weißes Heftchen mit einem grasgrünen Flügel darauf gibt es. Und eine Stimme gibt es, eine wundersam eulenhaft klingende Stimme, die nur vier Wörter spricht: ‚abrikostræerne findes, abrikostræerne findes‘“.

Bleutge beginnt seine Rede mit einem Stilmittel – die Wiederholung von „gibt es“ am Satzende –, das er zugleich als erstes Strukturmoment bei Inger Christensens Langgedicht alfabet beschreibt. Als zweites Strukturmoment macht Bleutge die aufzählungsähnlich, alphabetische Abfolge der Buchstaben aus und bezieht sich zunächst auf das erste Wort des Gedichts: „abrikostræerne“ (dt. Aprikosenbäume). Das Gedicht beginnt also mit einem „a“, worauf im dänischen Wort ein „b“ folgt und strenggenommen, geht man von der lautlichen Ebene aus, ein /k/ in <kos>, das ebenso ein <cos>, also „c“ sein könnte, folgen lässt. Nur ein Wort, das allererste, und Bleutge scheint bereits in den Sog von Christensens Art und Weise oder – naturwissenschaftlicher ausgedrückt – Technik hineingezogen zu sein und in ihm voll und ganz aufzugehen. Er wird zum Suchenden, zum Tüftler, einer Spur folgend, die er fortan immer wieder zu verlieren scheint, ehe er in der Dunkelheit tappend plötzlich ein Lichtblick am Ende erhascht.

Die Technik, das Analytische. Als studierte Medizinerin, Chemikerin und Mathematikerin ist es keinesfalls verwunderlich, dass Christensen einen Hang zur Struktur und Formelhaftigkeit besitzt. Der Kniff dabei ist, dass diese Struktur nicht immer so offensichtlich ist wie jene Wiederholung von „gibt es“. Es liegt also an der Leserschaft – in diesem Falle Nico Bleutge – den Schlüssel der Formel zu finden. Und er kommt ihr auf die Schliche, auch mittels der Analysen gleichgesinnter SchriftstellerInnen, die sich ebenfalls Inger Christensens alfabet angenommen haben.

Dann ein Stutzen. Das Gedicht endet beim Buchstaben „n“. Warum? Der Buchstabe „n“ bezeichnet in der Mathematik einen „abstrakte[n] und letztlich offene[n] Wert, für den man eine bestimmte Zahl erst einsetzen muß“, d.h. im Buchstaben „n“ „klingt […] die Idee der Unendlichkeit an“. Diesen Raum der Unendlichkeit erschafft Christensen in ihrem Langgedicht nicht nur durch Wiederholung und Variation, sondern auch durch die alle Verse umfassende Grundstruktur der Fibonacci-Reihe, „eine mathematische Reihe, […] in der jede Zahl die Summe der beiden vorangegangenen Zahlen darstellt“. Das Rätsel scheint gelöst! Bleutge exerziert das Gedicht durch, zählt, wundert sich, stellt fest, dass zur Erfüllung der Reihe noch das Datum hinzugehört, ehe er auf das Wort „atombomben“ stößt. Dem folgen die „brintbomben“ (dt. Wasserstoffbomben) sowie die „cobaltbomben“ (dt. Kobaltbomben). Das „ABC der Vernichtung“, das inmitten der Unendlichkeit des Gedichts steckt und einen Widerspruch markiert. Dieser macht sich erneut bemerkbar: Aufgrund der Listenhaftigkeit des Langgedichts setzt Bleutge dem „Geist der Poesie“ den „Dämon der Bürokratie“ gegenüber.  Wie geht Christensen damit um? Sie zieht den Kopf aus der Schlinge, indem sie mit dem Widerspruch spielt: Linker Hand wechselnde Sätze, rechter Hand eine Liste aus „Barentsee“, „Spitzbergen“, „Eismeer“, „Nordpol“ … und zurück zum „Barentsee“ – eine zyklische Struktur aus Anfang, Ende und Anfang, die Bleutge auch in der litaneihaften Leseweise und der Betonung Christensens ausmacht. Am Anfang steht ein Aprikosenbaum, am Ende dreht er sich um und geht weg. Bleutge schreibt: „Eine Spur, die Anwesenheit und Abwesenheit zugleich ist. Und mit der Aprikose erinnert das Gedicht immer auch an sich selbst, an Chrom und Zikaden, an Sauerstoff und Ikaruskinder“. Und er verliert sich erneut in den Versen, räumt am Ende der Rede noch einmal das ganze Gedicht von Neuem auf, sortiert die Gedanken, die „Erinnerungsspuren“ gleichen, und verpackt sie listenartig.

Und so weiß man letzten Endes gar nicht, wem man mehr Genie zuschreiben soll – eine Frage die selbstverständlich keine Antwort sucht –, der Gedichtschöpferin Inger Christensen oder dem fanatisch-fantastischen Analytiker Nico Bleutge. Die „Zwiesprache“ versteckt sich überall: Innerhalb Christensens Langgedicht, in Bleutges ständigem Dialog zwischen seinen Gedanken und dem Wort auf Papier, in seinem kritischen Hinterfragen der dänischen Originallautung im Vergleich zur deutschen Übersetzung, sowie in Bleutges eigenem Gedicht im Band verdecktes Gelände, dessen Ursprung die fremden Laute des Dänischen sind, er also auf ganz eigene, kunstschaffende Weise noch einmal eine Zwiesprache eingeht. Eine Rede, die ihrem Auftrag aller Ehren macht, poetische Horizonte erwandert, sowie in den Tiefen der Mathematik die Weltformel zu ergründen sucht. Eine wahre Wonne. Unbedingt lesenswert!

November 2020



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