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Miriam Tag: liebestier

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Ulrich Schäfer-Newiger

Miriam Tag: liebestier. Gedichte. München (Aphaia-Verlag, Mitlesebuch 150) 2023. 65 Seiten. 15,00 Euro.

Wie ist es, ein verliebtes Tier zu sein?
Anmerkungen zu: Miriam Tag, liebestier


I

Die Frage, wie es ist, ein verliebtes Tier zu sein, hat Miriam Tag in ihrem neuesten Gedichtband liebestier in 53 Versionen poetisch zu beantworten versucht. In ihm treten Tiere auf, die in Ich-Form von ihrem Verliebt-Sein, ihrem Begehren, ihrem Suchen, dem Umkreisen des Partners, dem Finden, der körperlichen Erfüllung, dem tierischen Geschlechtsakt, in, so möchte man formulieren, überzeugend-ernstem Stil und poetischer Angemessenheit erzählen. Die Tiere, die Protagonisten der jeweiligen Gedichte, werden mit ihren jeweiligen Gattungsbergriffen bezeichnet (z.B. glühwurm oder schwalbe; es sind 53 verschiedene Arten) und sie tragen zugleich jeweils individuell-interessante, vokalreich-klangvolle Namen, die die Autorin erfunden hat und denen keine eigene Bedeutung beigelegt werden kann (z.B. mala, toum, imca, shori usw.). Durch diese Namensvergabe werden die Tiere individualisiert; es soll um jeweils eine individuelle Biene oder ein individuelles Walross usw. gehen. Damit ist eine Voraussetzung klassischer Liebesgedichte erfüllt: Die Betonung der Individualität und der Authentizität des Gefühls. Auf diese Namensgebung wird zurückzukommen sein. Die Authentizität erreicht die Autorin zudem mit gelungen-eindrucksvollen poetischen Bildern: je schneller ich fliege, umso mehr rutscht / meine seele in meine gestalt. (yila, schwalbe) oder: schieße schnell wie ein schlag übers wasser (uri, libelle), oder: wie teil auf teil von mir selber trifft, wie das meer in mir / sich wandelt (kero, koralle) oder: klarheit ist ein gewaltiger Sturm. er reißt dich aus meinem körper. etwas geht durch mich / hindurch, was ich nicht halten kann, und die erde ist eine andere (jotri, wanderfalke). Diese wenigen Beispiele schon zeigen die Fähigkeit der Autorin, der Gefahr üblich-traditioneller ‚Tiergedichte‘, nämlich ins Moralisierende abtriftende Fabeln oder nur szenisches Dekor zu sein, mittels poetisch-präziser, nicht verbrauchter oder abgegriffener, sondern unerwarteter Formulierungen und Bilder erfolgreich zu begegnen.

Es fällt auf: Unter den verliebten Tieren befindet sich kein einziges Haustier. Es handelt sich ausschließlich um ‚wilde‘ Tiere. Sie sind Teil der vom Menschen nicht domestizierten Natur, einer Natur, die hier definiert werden kann als das, was vom Menschen nicht gemacht ist (für unser Zwecke reicht diese nicht unangreifbare Definition). Die Gedichte enthalten konse-quenter Weise auch weitere Natursujets wie vor allem: himmel, erde, wasser, luft, körper, auch einmal mondlicht, morastige zonen, licht, usw. Es sind Naturphänomene, die als Medium stimmungshafter Reflexionen und verdichteter Darstellungen der Tierliebe in den Texten erscheinen.

II

Niemand kann freilich Gedichte im erinnerungslosen, im sozusagen geistig luftleeren Raum, wahrnehmen.   
        Bei der Lektüre des Gedichtes tuga, fledermaus (…ich schwimme auf den langen wellen, bis ein hochfrequentiger puls mich erreicht.) drängt sich daher automatisch ein fast fünfzig Jahre alter Essay mit dem Titel Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? des Philosophen Thomas Nagel ins Gedächtnis. Der hatte seinerzeit geäußert, dass wir (Menschen) bislang keinerlei Vorstellung davon haben, wie es möglich sein soll, ihrer Natur nach subjektive mentale Zustände auf objektive physikalische Zustände oder Strukturen zu reduzieren.
      Deshalb so behauptete er weiter, können wir auch nicht wissen, wie es ist, ein Wesen mit phänomenalen Geisteszuständen zu sein, die sich radikal von den unseren unterscheiden (z.B. die einer Fledermaus,) und diese Phänomene mit einer adäquaten Sprache zu beschreiben. Auch der englische Dichter Ted Hughes hat in seinem Essay Wie ein Gedicht entsteht bezüglich der Krähenhaftigkeit einer Krähe festgestellt, dass es uns für die sprachliche Erfassung dieses Phänomens an Wörtern und Begriffen fehlt. Das hat ihn bekanntlich nicht davon abgehalten, Tiergedichte zu schreiben, und zwar auch aus der subjektiven Ich-Perspektive des Tieres. Denn Nagels Rede war ja eine philosophisch-erkenntnistheoretische Rede, keine poetische. Der Rezensent hat an anderer Stelle, – im Essay Trompetentonrot oder das Wort ist die Sache – hier, darzulegen versucht, dass die poetische Rede da anfängt, wo die philosophische nicht mehr weiterführt. Dass also gerade die poetische Sprache das Potential hat, die Welt auch da noch zu lesen, wo, um bei diesem Bild zu bleiben, der Analphabetismus der Philosophen, oder noch weiter: Der Vernunft und der Rationalität, beginnt. Die poetische Sprache kann eine Grenze überschreiten, die zu überschreiten die philosophische (und wissenschaftliche) nicht in der Lage ist. Ob diese Darstellung des Philosophen (und seiner Sprache) im Verhältnis zu Dichtern und Dichterinnen als eine Figur des Mangels in ihrer Allgemeinheit gerechtfertigt ist, bleibt natürlich zweifelhaft und stets zu hinterfragen. Insofern mag Nagels Feststellung nicht als Einwand gegen die Möglichkeit gelten, ein Gedicht über eine verliebte Fledermaus aus der subjektiven Perspektive der Fledermaus zu schreiben.
       Liest man die Gedichte weiter oder mehrmals, wird ohnehin ein über die reine Tierliebe hinausgehender Bezug als Subtext erkennbar. Da ist zunächst die zunehmende Betonung der Körperlichkeit des lyrischen Ichs und auch des Anderen: philosophie des begehrens wird reiner körper in mir: körper / der körper ist, körper, der körper erzeugt aus sich (juun, symbion), …dein körper, mein körper / tauschen die rollen, unabwendbar, wieder und wieder, // bis sie alles von der liebe wissen, nacktheit, hülle, textur / und nichts. (makuni, seehase) oder: eigensinnige Körper voller innenräume / die den wechsel der welten nicht fürchten (oro, walross) Der Focus wird also auf körperliche Materialität gelegt, deren Eigensinn und Wirkmacht betont wird. Dies ist allerdings bei Liebesgeschichten, die nicht reine ‚platonische Liebe‘ darstellen wollen, ohnehin die conditio sine qua non des physischen Begehrens. Diese Wirkmacht der Körper weitet sich hier indessen weit aus und bleibt nicht auf andere Tiere oder auf die Welt beschränkt: wie wir /seit uralter zeit eine brücke über die milchstraße spannen (tainu, elster), …ja, ich mochte die erde / schon immer …/ der morgenwind kommt noch immer / direkt von den sternen (shar, winterkrabbe), sondern erstreckt sich zeitlich und räumlich weit über ein Tier- und Menschenleben und den Tier- und Menschenlebensraum hinaus, bis hin zu „Urzeiten“. Sterne und Milchstraße. Eine ziemlich allumfassende Liebe wird hier also angedeutet.

III

Die Gedichte sind im Übrigen auf der sprachlichen Ebene konventionell. Sie bestehen aus freien Versen und sind konsequent klein geschrieben. Sie enthalten keinerlei Sprachexperimente oder -spiele, bis auf die den Tieren von der Autorin gegebenen Eigennamen. Diese sind reine Lautbilder, die aber kein sprachliches Zeichen darstellen, da sie für sich nichts bezeichnen. Interessant wäre es daher gewesen, die Wirkung der Gedichte ohne die Gattungsbezeichnungen im Titel lesend zu erfahren.  
       Die Texte erzählen einfach Geschichten, Liebesgeschichten. Darin werden Naturphäno-mene, aus der vermeintlich subjektiven Sicht jeweils eines einzelnen Tieres aufgegriffen und poetisch reflektiert beschrieben- auf der Textoberfläche zunächst ohne weitergehende Implikationen und Konnotationen. Mit der Tierperspektive hat die Autorin auch die jeder Liebeslyrik innewohnende „moralische“ und stilistische Hürde der Darstellung erotisch-sexueller Handlungen gekonnt überwunden. Beispiel: wenn du dich in mich verbeißt, bis ich deinen mund ausfülle // und wir ein gemeinsamer schlund sind, // zwei körper einer haut, unter ein einziges licht gestellt heißt es in dem Gedicht pela, anglerfisch. Das ist nun durchaus verschlingende, überwältigende, erotische Gewalt, aber eben poetisch angemessen dargestellt. Die weiteren erotischen Bilder sollten die Leser selbst finden. Es gibt dazu eine Hilfestellung auf S. 65, überschrieben mit „Fährten“. Dort sind in einer Art Sachregister verschiedene Begriffe aufgeführt – z.B. unter vielen: Beißen, Duft, Haut, Lecken, Nass, Zunge (hier jeweils großgeschrieben) mit den jeweiligen Seitenangaben. Der Autorin ist insgesamt eine überraschende und poetisch-erfrischende Mischung aus Liebes- und Naturgedichten gelungen.
        Der Gedichtband enthält noch ein interessantes Nachwort von Simon Probst. Er sieht die Gedichte Miriam Tags als Teil einer literarischen und kulturellen Umwälzung, die mit Begriffen wie Posthumanismus, New Nature Writing, ökologisches Denken und auch anders umschrieben werden könne. An dieser Stelle ist kein Platz, diesen Einordnungsversuch darzustellen und seine Folgen für das poetische Verständnis der Gedichte Miriam Tags zu analysieren. Das würde den Rahmen einer Buchbesprechung bei weitem sprengen und bleibt daher einer umfassenderen Untersuchung und Bewertung dieser literarischen Umwälzung vorbehalten – ein weiteres Stichwort dafür ist nach Probst „anthropozäne Lyrik“.


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