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Mir Dschalal: Habilitation

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MIR DSCHALAL
(1908–1978)

Prosaist, Literaturwissenschaftler und Pädagoge. gehört zur Generation der Schriftsteller, die heute als Begründer der modernen aserbaidschanischen Literatur bezeichnet werden. In seinem Schaffen haben Kurzgeschichten und Erzählungen einen besonders wichtigen Platz.


Habilitation

Täglich nimmst du diese Tropfen und die Tabletten ein, zweimal am Tag machst du einen feuchten Wickel um die Ohren, und in zwei Tagen kommst du wieder zu mir!“ Den Empfehlungen des Arztes zu folgen ist nicht so schwer, aber ganz so leicht ist es denn auch wieder nicht. Woher soll ich die Zeit, Geduld und die Sorgfalt nehmen, mich um solche Aufgaben zu kümmern? Aber ich bin ein geduldiger Mensch. Wenn ein Arzt etwas verschreibt, befolge ich es. selbst wenn ich keinen Nutzen darin sehe, tue ich es aus Respekt vor ihm. Nur ein Wort der Ärzte fällt mir immer schwer. Sobald die Untersuchung vorbei ist, die Medikamente verschrieben und die Empfehlungen mit auf den Weg gegeben sind, sagen sie entschlossen: „in zwei Tagen kommst du wieder!“ Natürlich wünscht sich jeder Arzt, viele Patienten zu haben. Sich um diese zu kümmern, ist sein Beruf. Auf der anderen Seite gehört es nicht zu unseren Aufgaben, uns um die Ärzte zu kümmern. Jeder übt seinen Beruf aus, muss seinem Erwerb nachgehen. Wenn ich jeden zweiten Tag zwei Stunden meiner Zeit vergeude, damit der Arzt mich untersuchen kann, wer wird sich dann um meine Familie kümmern und das tägliche Brot verdienen? Zwar geben die Ärzte diese Anweisungen ihren Patienten gern, aber niemand befolgt sie wirklich. Sobald sie die Praxis verlassen, machen sie sich, ohne zurückzublicken, aus dem Staub. Nur wenige kommen ein zweites Mal. Wenn jemand zurückkommt, dann nicht aus eigenem Willen, sondern weil ihn die Beschwerden dazu zwingen.
Als ich mich vom Arzt verabschiedete, betonte er nochmals: „in zwei tagen kommen Sie wieder!“ Ich sagte: „Jawohl!“ Doch ich brachte nicht einmal das Rezept zur Apotheke. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie oft ich mir einen Wickel ums Ohr gemacht habe. Aber das weiß ich: die Ohrschmerzen ließen langsam nach. Manchmal spürte ich sie auch gar nicht. Nach dem Arztbesuch vergingen zwei Tage. Am dritten Tag las ich zwischen neun und zehn Uhr abends zu Hause ein Buch, als das Telefon klingelte. Ein Mädchen mit dünner Stimme nannte meinen Namen und sagte: „Warten Sie kurz, der Arzt möchte mit Ihnen reden.“ Gleich darauf hörte ich, wie der Hals-Nase-Ohrenarzt Garagözow mich anbrüllte: „Ich warte auf Sie, wieso kommen Sie nicht zur Untersuchung? Ich bitte Sie, die Therapie darf nicht unterbrochen werden!“ Dagegen konnte ich nichts sagen. Ich wickelte sofort den Umschlag um mein Ohr und ging zum Arzt. Unterwegs dachte ich nur: Ja, auf der Welt gibt es noch gute Menschen, und auch unter den Ärzten sind solche zu finden. Man glaube bloß nicht, dass der Arzt nur an seinen eigenen Vorteil denkt. Mitnichten! Erstens bin ich krankenversichert und werde auf Staatskosten behandelt. Zweitens bezieht Garagözow ein festes Monatsgehalt, egal, ob am Tag viele Patienten zum ihm kommen oder gar keine. Dass Garagözow derart hinter mir her ist, so viel Fleiß für meine Therapie aufbringt, kann man nicht anders als reine Liebe zu seinem Beruf bezeichnen und als gewissenhafte Ausübung seiner ärztlichen Pflichten ansehen. Diese Gedanken erhöhten Gara-gözow in meinen Augen. Ich schämte mich vor mir selbst, dass er mich beinahe unter Zwang behandeln und alle Symptome der Krankheit beseitigen wollte. Er möchte meine baldige Genesung erreichen, ich dagegen bin zu faul, um die wenigen Schritte bis zu seiner Praxis zu machen. Kurzum, diesmal untersuchte der Arzt mein Ohr noch genauer. Er freute sich sehr, als er erfuhr, dass das feuchte Tuch die Ohrenschmerzen gelindert hatte. Er zog seinen Instrumenten- kasten näher heran, legte den Spiegel an, sorgte für mehr Licht im Raum und untersuchte mein Ohr mit aller Sorgfalt. „Genosse Arzt, wollen Sie sich ein Bild von meinen Ohren machen?“ Er ließ meine Frage unbeantwortet und setzte seine Arbeit fort. Er sagte lediglich: „Nicht bewegen, nicht bewegen!“ Dabei tanzte er um mich herum, schwenkte den Spiegel an seiner Stirn hin und her, bald kniete er, bald stand er auf. er zog mein Ohr derartig hoch und runter, dass ihm beinahe die Haut abgezogen wurde. doch ich verhielt mich ruhig. Ungeduldig wartete ich auf das Ende der Behandlung. Ich dachte für mich: „Wenn ich dies überlebe, werde ich mich kein zweites Mal freiwillig in die Hände eines Arztes begeben.“ Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich freute, als Garagözow die Lampe endlich beiseiteschob. Wie jemand, der einer schwierigen und gefährlichen Situation entronnen ist, atmete ich tief auf, wischte den Schweiß von meiner Stirn und stand auf. „Wohin denn?“, fragte der Arzt erstaunt. „Sind Sie denn nicht mit der Untersuchung fertig?“ „Warten Sie, ich werde gleich auch ihre Nase untersuchen.“ Mit Mühe und Not hielt ich durch. Garagözow stellte mir einige Fragen bezüglich Alter, Beruf, Adresse, Familienstand und machte sich Notizen. „Genosse Arzt, solche Fragen bekommt man gestellt, bevor man einen Dienst in einer Behörde antritt. Was haben Familienstand und Beruf mit Ohrenschmerzen zu tun?“, fragte ich erstaunt. Garagözow antwortete lächelnd: „Sie sind aber sehr neugierig. Sie müssen diese Fragen gar nicht fürchten. Die Daten brauchen wir für wissenschaftliche Zwecke. Wenn wir nicht wissen, aus welchen Gesellschaftsschichten unsere Patienten stammen, können wir der Bevölkerung keinen Nutzen bringen und auch die Medizin nicht weiterentwickeln. Aber diese elendige Krankheit sucht tausend Wege, um in Ohren einzudringen. es ist unsere Pflicht, dagegen vorzugehen!“ Ich hatte kaum noch Geduld, um mir die Worte des Arztes anzuhören. Als er sah, dass ich nun gehen wollte, stand er auf und gab mir nachdrücklich zu verstehen: „In zwei Tagen kommen Sie wieder, ich erwarte Sie!“ Ich erstarrte: „Genosse Arzt, meine Ohren sind jetzt schmerzfrei!“ „Achten Sie nicht auf die Schmerzen. Die schmerzen können für fünf Tage nachlassen, aber dann können sie Ihnen fünf Monate lang solche Leiden bereiten, dass sie Ihr ganzes Leben vergällen. Ich weiß bestens Bescheid über den Zustand Ihrer Ohren. Sie sind gewissenhaft untersucht worden und benötigen eine entsprechende Behandlung. Unbedingt wiederkommen!“ Enttäuscht ging ich nach Hause und schwor: „ich gehe nicht mehr hin, und damit basta!“ Ohrenschmerzen, Doktor Garagözow und ähnliche Sorgen ließ ich hinter mir und ging der Arbeit nach. Nach zwei oder drei Tagen ging ich um acht Uhr abends mit meinem jüngsten Sohn ins Sommerkino. Ich wollte gerade am Kiosk ein Glas Wasser für das Kind kaufen, als die Nachbarstochter außer Atem angerannt kam und rief: „Onkel, Sie haben Besuch! Zu Hause wartet man auf Sie.“ Das Kind vom Kino zurück nach Hause zu bringen, ohne den Film fertig angeschaut zu haben, ist grausam. Zum Glück widersprach mein Sohn nicht, das Wort „Gast“ hatte seine Neugier erweckt: „Vater, morgen können wir wieder ins Kino gehen, heute haben wir Gäste, gehen wir lieber nach Hause!“ Als ich die Wohnung betrat, sah ich Garagözow am Tisch sitzen. Rechts von ihm saß ein kleinwüchsiges Mädchen, links ein dunkelhaariger Bursche. Ich begrüßte die Gäste. Garagözow stand auf: „Glauben Sie, dass nur Sie mit ärztlicher Behandlung nachlässig umgehen? Nein, ich versichere Ihnen, alle sind so: sobald die Krankheit abklingt, die Schmerzen nachlassen, kommt kein Patient mehr zum Arzt. Aber unsere Pflicht besteht darin, die Patienten weiterhin im Auge zu behalten. Das ist die Tätigkeit eines Volksarztes. Setzen sie sich!“ Garagözow setzte sich den Spiegel wieder auf die Stirn, schaltete die Tischlampe an und fing an, sich mit meinem Ohr zu befassen. ich fand es nicht gut, dass die anderen Gäste dieser ärztlichen Untersuchung beiwohnten und sagte: „Kinder, deckt den Tisch! Die Gäste mögen sich bitte ins Zimmer nebenan begeben.“ Garagözow antwortete: „Geben Sie sich keine Mühe, die Gäste interessieren sich für Ihre Behandlung.“ Das Mädchen und der Bursche standen auf, stellten sich hinter die Lampe und betrachteten meine Ohren. Garagözow erfasste mein Ohr mit der Greifzange und erklärte den Gästen hastig: „Schau! Siehst du das! Ganz deutlich ist es zu sehen! Der Schatten stört ein wenig. Komm, schau, da ist es. Eindeutig zu sehen. Die Entzündung ist offensichtlich!“ Jetzt verstand ich, dass es sich bei diesen jungen Leuten um Garagözows Studenten handelte. Er hatte sie zum Praktikum mitgenommen, damit auch sie Ärzte würden, wie er selbst. Mir leuchtete nun ein, warum er nach meiner Adresse gefragt hatte. Ich dachte: „Ja, von nun an lassen wir uns überraschen. Bei jedem unpassenden Augenblick wird mich Garagözow rufen und über meine Ohren eine Vorlesung halten. Es war dumm, ihm meine Adresse zu geben.“ Ich wollte den Arzt bitten, mir nie wieder Leute zum Praktikum mitzubringen. Ich konnte es aber nicht. Die Gäste wollten nicht einmal Tee trinken. Beim Weggehen sagte Garagözow zu mir: „Bitte seien Sie vernünftig und setzen Sie die Behandlung fort! Nehmen Sie sich die Zeit und kommen Sie zu mir.“ Nachdem die Gäste weg waren, überlegte ich lange, wie ich es anstellen könnte, dass Garagözow mich künftig in Ruhe ließ.
Seitdem waren zehn oder fünfzehn Tage verstrichen und von Garagözow war nichts zu hören. Doch als ich eines Tages nach Hause kam, sah ich eine Einladung auf dem Tisch liegen. Ich wurde ins Ärztehaus gebeten. Dort sollte Garagözow sein neuestes Werk präsentieren. Ich wollte mir meinen Abend weder von Garagözow noch von seinem Werk verderben lassen. Aber unten auf der Einladung stand: „Anschließend Konzert“. Diese Worte machten mich nachdenklich: „Was ist das für ein Werk von Garagözow, dass am Ende Musik dargeboten wird?“ Ehrlich gesagt, ich war gespannt: „Ich gehe, jedoch ein bisschen später. Vielleicht kann ich Füzulis* Ghasel ** in Zulfis*** Segah**** hören.“ Ich setzte mich an den Tisch, um etwas zu essen. die Mahlzeit war noch nicht beendet, als das Telefon klingelte. Ja, die bekannte Stimme. Mein Freund Garagözow wollte sich nach meinem Wohlergehen erkundigen. „Vielen Dank, Herr Doktor, es geht mir gut. Ich habe keine Schmerzen, ich fühle mich pudelwohl und rundum gesund.“ „Sehr gut, sehr gut!“ Nach diesen Worten schwieg ich in der Hoffnung, dass Garagözow mich endlich in Ruhe ließe. Aber nun kam er auf das eigentliche Thema zu sprechen: „Sie haben sicher die Einladung bekommen. Heute Abend haben wir eine kleine Veranstaltung. Ich werde einen Vortrag halten. Ich bitte Sie zu kommen. Punkt acht Uhr schicke ich Ihnen einen Wagen.“ Angesichts solcher Aufmerksamkeit blieb mir nichts anderes übrig, als zuzusagen.
Als ich den Saal betrat, sah ich Garagözow am Rednerpult seinen Vortrag halten. Er referierte langatmig über die neue Methode des „feuchten Tuchlegens“. mit dem Zeigefinger deutete er auf mich: „Da, der Patient, der nach meiner Methode wieder gesund wurde, ist persönlich hier. Welche seelischen und körperlichen Qualen Ohrenleiden einem Menschen bereiten können, kann er selbst berichten. Lieber Herr, bitte stehen Sie auf!“ Alle Blicke im Saal richteten sich auf mich. Ich errötete und erhob mich. Aber mir fiel kein einziges Wort ein, das ich hätte sagen können. Garagözow fragte mich: „Sie haben nun keine Ohrenschmerzen mehr? Und die Schwellung ist auch zurückgegangen? Ausgezeichnet! Bitte gehen Sie durch die Reihen, damit man das Ergebnis der Therapie begutachten kann.“ Ich wollte meinen Unmut zum Ausdruck bringen. Sowohl der Arzt, die Hörerschaft, als auch die Geschäftigkeit des Arztes – überhaupt alles war mir zuwider. Doch ich brachte noch immer kein Wort heraus. Ich blieb auf meinem Platz sitzen. Garagözow sagte: „Der Genosse schämt sich, aber Interessierte können ruhig nähertreten und das Ohr betrachten. Das praktische Ergebnis meiner zweimonatigen wissenschaftlichen Arbeit und der von mir entwickelten Methode des feuchten Tuches können Sie an dem geheilten Ohr dieses Patienten, oder besser gesagt, dieses ehemaligen Patienten sehen.“ Dann hielt noch ein weiterer Arzt einen Vortrag. Er legte dar, dass die Methode des feuchten Tuches eine Revolution in der Medizin bedeute. Ein anderer Arzt gratulierte Garagözow ebenfalls und ersuchte die zuständigen Genossen, notwendige Maßnahmen zur Verwendung der neuen Methode in Krankenhäusern zu ergreifen. Garagözows Verhalten brachte mich derartig aus der Fassung, dass ich mich nun nicht mehr hinsetzte, sondern sofort den Saal verließ. Unterwegs dachte ich: „Gott möge mir den Tag nie bescheren, an dem ich sein Gesicht wiedersehe muss. Aber es ist unerlässlich, dass ich ihm am Telefon meine Meinung sage. Er soll nicht glauben, dass er alles mit mir machen kann.“ Am nächsten Tag erhielt ich Garagözows Telefonnummer beim Kontrollbüro und rief ihn an. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie geschimpft und mir noch nie einen heftigen Schlagabtausch mit jemandem geliefert. Mich zu beschweren ist nicht meine Art. Aber diesmal fasste ich mir ein Herz und nahm all meinen Mut zusammen. Ich fand, ich sollte ihm eine Lektion erteilen, weil er einen Naiven zum Experimentieren gefunden hatte. Am Telefon ertönte eine Frauenstimme: „Wer spricht?“ „entschuldigen Sie bitte, können Sie Doktor Garagözow an den Apparat rufen?“ Die Frau legte den Hörer auf. Ich dachte, dass ich vielleicht eine falsche Nummer gewählt hätte. Oder vielleicht hatte mir das Kontrollbüro nicht die richtige Auskunft gegeben? Also rief ich nochmals dort an und erkundigte mich nach den genauen Kontaktdaten. Man übermittelte mir zum Nachnamen auch noch den Vor- und Vaternamen, sowie Garagözows Adresse. Die Telefonnummer war richtig. Abermals wählte ich sie und fragte: „Verzeihen sie bitte, wohnt dort Doktor Garagözow?“ Eine Frauenstimme schrie mich an: „Hier wohnt nicht Doktor Garagözow, sondern Professor Garagözow. Bitte rufen Sie nicht bei Leuten an, die Sie nicht gut kennen!“ Nach diesen Worten legte die Frau wieder auf. ein weiterer Anruf wäre nicht zielführend gewesen. Meine Beschwerde hob ich mir für eine andere Gelegenheit auf. Gestern, als ich von der Arbeit nach Hause kam, begegnete ich meinem Vetter vor dem Krankenhaus. Sein Mund war mit einem Tuch bedeckt. „Was tust du hier?“ „Ich gehe zum Professor, um meine Nase untersuchen zu lassen.
„Zu welchem Professor?“
„Professor Garagözow!“ Als ich das hörte, geriet ich in Wut. ich wollte ihm meine Geschichte erzählen und ihn davon abhalten, dorthin zu gehen. Aber ich bemerkte, dass mein Vetter mit großen Hoffnungen gekommen war und dass meine Worte daher nichts bringen würden. Ich sagte bloß: „Lass dich ruhig untersuchen. Nach der Behandlung meiner Ohren wurde er Professor. Nach der Behandlung deiner Nase wird er Mitglied der Akademie der Wissenschaften werden.“


* Einer der berühmtesten aserbaidschanischen Lyriker des 16. Jahrhunderts. #
** Klassische Gedichtform.
*** Gemeint ist Zülfi Adıgözelov (1898–1963), einer der berühmten Sänger und Theoretiker der traditionellen aserbaidschanischen Musikform des Mugham.
**** Eine Mugham-Art.


Übersetzt von Elgün Niftəliyev
Staatliches Überse­tzungszentrum Aserba­idschan


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