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meine drei lyrischen ichs - achte Veranstaltung

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Der kalte Bleistift – die silberne Linie



Rückblick auf  „meine drei lyrischen ichs“, die Veranstaltung vom 20. November 2014 im Einstein Kultur. Als Lesepodium diesmal eine Installation des Münchner Künstlers Jonas von Ostrowski: unten der Sockel quadratisch, oben fast ein offener Kubus – als sei ein antiker Opferaltar nachempfunden und zersägt worden.


Rike Scheffler aus Berlin machte den Anfang. Sie trug im Stehen vor, mit ihrem kleinen Sampler, der ihre Stimme aufnahm und mit verschiedenen Höhen und Filtern schleifenartig wiedergab, so dass sich ein teilweise stimmungsvolles, oft melancholisches Klangmelodram einstellte.

Zum Beispiel aus ihrem im Herbst 2014 bei kookbooks erschienenen Debütband „Der Rest ist Resonanz“ das Gedicht „angenommen, aber 2 (auf S. 8):


über nacht sich im schweigen üben, bemüht, die silben
nicht zu beschmutzen, spucke zu nutzen für ärgeren unfug:
fisch und hänfling einander vorstellen. träge biegt sich das schilf.
unter obhut stromern am sonntag touristen, handtücher,
alles nach maß. man kennt das, hat selbst schon briefe geschrieben
mit kaltem bleistift, für die, die man liebt, und man wünschte,
die silberne linie würde nicht stimmen, binnen sekunden anders fallen,
an der brust angefangen, nicht richtung kopf zielen,
die spitze der mine, schwer schätzbar, wie tief.



Es ist schwer, Rike Schefflers Lyrik einzuschätzen, weil bei ihr die musikalische Komponente, vor allem Sprachmelodie, eine größere Rolle spielt als berechenbare Wortfolgen und die sich daraus ergebende Semantik. Wenn ihre Wortschleifen zusammenklingen, erwirken sie Assoziationen wie eine Flut aus dem altbekannten, fast archetypischen Meer, vermischen Laurie Anderson, Bertolt Brecht, John Cage. Und da es sich in diesem Geflecht auch um sehr emotional verstrickte Wortgewebe handelt, sie nennt sie Tiden, die kommen und verklingen, also da Harmonien wie Dissonanzen teilweise auch gängige Klischees bedienen, so bleibt der Teppich immer widersprüchlich – ein Flor aus silbrigem Kitsch und ernstzunehmender Liebeslyrik.

Sie erschreckte mit einem Loop, der klang wie „Fick, fick, fick“ – sich beim Nachlesen der Partitur jedoch als das Knacken und Rascheln von „denkendem Schilf“ herausstellte (The Thinking Reed, S. 60), eine Annäherung an die Bewegungen des Rohrs in der Nähe des Sees:


beat:
to be built on: fiktion
- fik fik fik fik
….

narrativ:
ich kenne das: mit der nähe
verlässt mich die weitsicht:
sich das feld merken,
den see.
...

Lea Schneider, die gerade den Dresdner Lyrikpreis gewonnen und beim Verlagshaus J. Frank ihren Debütband „Invasion rückwärts“ veröffentlicht hatte (Rezension von Jayne-Ann Igel), war als zweite dran.

Auch sie – aus Berlin - übersetzt, aber nicht von Musik in Sprache, sondern seit 2011 aus dem Chinesischen. Auch sie beschäftigt sich mit Konnotationen des Archetypischen, mit interkommunikativem Sprachverhalten und schwerüberwindbaren Denkstrukturen. "Wie kleine trojanische Pferde", heißt es beim Verlagshaus J. Frank, "schmuggeln die Gedichte in Lea Schneiders Debütband 'dinge, von denen man erstmal lernen muss, warum sie gefährlich sind.'" Dadurch wirken ihre Prosagedichte teilweise wie lyrische Kurzessays, wenn auch ihre mentalen Schlenker oft poesievoll sind und in der humorvoll lakonischen Zusammenfügung bisweilen wie Bonmots, die durchaus kabarettistisch wirken, zu Lachern aus dem Publikum führten. Ein Labyrinth aus alltäglichen Effekten und sprachkritischem Diskurs. Auch mal schalkhaft wie vermeintlich sinnlose Werbesprüche: „Marmelade und Brühwürfel, wenn es ein Frühstück sein soll.“ Aber auch weiblich anspruchsvoll und fordernd: „Welche Form kannst du halten?

Als Beispiel das Prosagedicht:


[ich merke, dass ich mich wiederhole]


ich merke, dass ich mich wiederhole. irgendwo weiter vorn,
wo sich der archetyp-modus eingeschaltet hat: weben und
auftrennen, tausendundeine verschiebung. zeit gewinnen,
in der ich fäden lösen kann, die legosteine, plattenbauten,
stück für stück auseinanderrupfen, die burg schleifen, abtragen
bis zur hartplastikbasis, auf der sie baut, und dort, in diesem
zeitraum, ein schutzgebiet einrichten, standheizung inklusive.
sofern eine black box das braucht: wärmezufuhr. ein mittel zur
fixierung, wie prittstift oder redundanz. die schachtelgeschichten
bis auf schulterhöhe stapeln und dann sofort wieder rückgängig
machen, unerfüllbarkeit als erweitertes kriterium ihres gelingens.
worauf es ankommt: kein ende zu finden, sondern leerstellen,
räume in der luft, wo der wind wartet, getarnt als stille. ein
versteck im cliffhanger, im ständigen verweisen, vor und zurück.



Daniel Bayerstorfer aus München, neben Tristan Marquardt und Tillmann Severin in Zukunft Mitveranstalter dieser Reihe für junge Lyrik, trug seinen elfteiligen Zyklus „Spielregeln“ vor, der sich mit dem Beobachten und Aufnehmen von Umwelt und Kultur, auch mit dem heutigen Schreiben von Lyrik beschäftigt, aus einer intelligenten Distanz heraus und mit Augenmaß, was die Widersprüchlichkeiten aufzeigt, die der jungen lyrischen Generation dabei begegnen:


Aus „spielregel #2“:

dieses gewitter nach tagen im schnee. da war ein sonderklares
sagen, ein (sein wir ehrlich) ineinander ragen abgebrochner
zelte und statements, zu denen man nicht mehr stand; jedoch
neben allem lag schnee und ich habe diesen schnee gelobt.

hängende gärten im tee. babylons erben. bock auf beuys.
zeige deine wunde, den mund / das tote huhn, das man in der
legebatterie übersah. zeige auch die iris / vinyl für den platten-
spieler blick, denn lichtung hörte auf, ohne dass wald begann.

abrissglocken, klein wie hagel unter den augenbrauen,
geübt im niederreißen der lider, pendeln an den fassaden
der häuser entlang: c'era una volta wahnmoching und
nun die simpelste, allersimpelste feststellung: schwabing.



Bayerstorfer übersetzt ebenso aus dem Chinesischen, aber auch Lyrik von Edoardo Sanguineti, dem Dante-Kenner und Mitglied der italienischen Neoavanguardia. Dazu ein andermal mehr.


KK

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